Alexander Hofmann

Die Sündenblume keimt auf

Die Sündenblume sprießt

Sie nickte leicht gedankenabwesend, dann kritzelte sie desinteressiert einige Worte auf das Papier und fuhr schließlich mit der nächsten Frage fort.

„Wie stellen sie sich ihr perfektes Leben vor?“

„Diese Frage ist einfach. In der Kindheit müsste ich Spaß und Freude haben, in der Jugend muss der Genuss vorherrschen und im Alter will ich dann das Glück gefunden haben. Das ist das Idealmodell des Lebens.“

Kurz schaute sie ihn an, dann blätterte sie eine Seite um, setzte den Bleistift an und führte einige Schreibbewegungen aus.

„Sehr interessant. Was verstehen sie denn unter Genuss in der Jugend?“

„ Nun ja. Genuss sollte in allererster Linie sinnlich erlebt werden. Geistiger Genuss wäre dann schon das Glück. Zuallererst muss man die Geborgenheit seiner sicheren Heimat aufgeben, man muss das Haus verlassen und in die Welt aufbrechen, um die Verrücktesten und Spannendsten Dinge zu tuen. Jeden Tag sollte man Neues erleben. Man muss Abenteuer durchleben und sinnliche Schönheit in allen Zügen ohne Bedenken auskosten. Leidenschaften muss man bejubeln. Versuchungen muss man nachgeben. Begierden muss man befriedigen. Sünde, Lust und Schande darf man auf sich laden. Aber es gilt, egal was man tut – es darf nicht langweilig oder, was noch viel schlimmer ist, gewohnt sein. Denn die Zeit ist zu kostbar. Unaufhaltsam entzieht sie uns mehr und mehr Lebensenergie. Wir haben so wenig Zeit für so viele Dinge. Und es wäre egoistisch, nur das auszuprobieren und immer wieder zu wiederholen, was uns gefällt. “

„Verstehe ich sie da richtig? Sie machen ihren persönlichen Genuss zum obersten Ziel. Sogar die Reinheit ihrer Seele würden sie dafür aufgeben?“

„Wenn sie es so ausdrücken möchten - JA!“

„Genuss ist ihnen also am wichtigsten. Vorhin haben sie gesagt, dass sie erst im Alter Glück finden. Verstehe ich sie da richtig, dass ihr jetziges genussbetontes Leben sie unglücklich macht?“

„Nein. Zwar habe ich gesagt, dass das Glück erst mit dem geistigen Genuss kommt. Aber dennoch könnte ich glücklich sein. Denn der sinnliche Genuss kreiert die Illusion, glücklich zu sein. Und das ist wahnsinnig schön. Es ist so, als ob sie von schönsten Dingen Träumen, nur ist der Traum vom Glück hier ein erlebter. Und es ist das Träumen, das sogar das Reale und das Denken übertrifft. Denn in den Träumen ergründen wir die Tiefe unserer Seele, die Grenzen der Fantasie und die Geheimnisse des Lebens.“

Nun hielt sie kurz inne. Ein Anflug von Verblüffung und Sprachlosigkeit offenbarte sich in ihren Zügen. Nach kurzer Regungslosigkeit schrieb sie dann wieder etwas auf und fragte mit geradezu besonnener Präzision.

„ Dieser jugendliche Genuss macht sie also glücklich?“

Nun blickte er ihr zum ersten Mal in die Augen, während er mit kräftiger, ruhiger Stimme antwortete:

„Das wird er.“

„Wieso wird?“

„Nun, das liegt daran, dass er bis jetzt noch nicht die Möglichkeit dazu hatte.“

„Er hatte bis jetzt noch keine Möglichkeit? Warum das?“

„Ich denke, falls es einen Gott gibt, ist er daran schuld. Wahrscheinlich wollte er mich für mein nun vorhandenes genussbetontes, blasphemisches Gedankenreich bestrafen. Ich litt unter einer Krankheit. Es ist schwer zu erklären. Es war eine Art psychischen Wahnsinns. Am Anfang meiner Jugend brach sie aus. Immer dann, wenn es hieß in die Lichtermeere, Alkoholpaläste und Sündenpfuhle der nächtlichen Städte aufzubrechen, befiel sie mich. Sie war wie eine Kette, die mich an meine Langeweile gefesselt hat. Denn obwohl ich einsam und alleine in meinem Zimmer saß und unerträgliche Langeweile verspürte, konnte ich nichts tun. Meine Faulheit band mich an diese Langeweile. Ich konnte, obwohl ich wusste, wie schön das Leben dort draußen ist, wie viele Abenteuer und Geschichten es bereithält, nicht von meiner Sicherheit und Geborgenheit aufbrechen. Es war also so, dass ich zu faul war, um meine Langeweile zu bezwingen, was mich wiederrum verzweifeln lies und mich in Frustration stürzte. Aber es war mehr als nur Faulheit. Es war auch Angst. Angst vor Menschen. Daran ist meine Kindheit schuld. Das perfekte Leben ist für mich nicht mehr möglich, weil ich in meiner Kindheit schon von meinem Recht auf Spaß und Freude entrissen wurde. Und mein Recht habe ich auch in meiner Jugend nicht zurückbekommen. Auch jetzt noch ist mir der Genuss verwehrt. Doch ich hatte eine Einsicht. So wie ich nun weiß, dass die Freude an der Geborgenheit und Gewohnheit meines sicheren Hauses, sozusagen meiner Schneckenschale, die mich vor den Menschen schützte, ertränkt wurde in der Trauer um das Nichtvorhandensein vom durchaus gefahrenreichen Abenteuerstreben in unserer weiten Welt, so kam mir nun auch die Erkenntnis, dass das einzige Heilmittel, die einzige Möglichkeit mein Recht zu erlangen, die einzige Möglichkeit meine Vorstellung des perfekten Lebens wieder in nähere Ferne zu rücken, Veränderung ist. Ich muss etwas tun, um meine Träume zu verwirklichen. Und dies beginnt hier und heute.“

Misstrauisch, in kühlem Tonfall entgegnete sie: „ Habe ich ihnen diese Erkenntnis verschafft?“

„Nein. Sie sind nur eine Versicherung. Mein baldiges Leben wird geprägt sein von der sinnlichen Verderbnis, dem Ver - und Zerfall meiner Seele, Sünde wird regieren und egoistischer, ausufernder Genuss wird mein Leben erfüllen. Ich werde mein Recht einfordern. Ich finde, dass ich dies nach einer hoffnungslos verlorenen Kindheit und einer unglücklich angsterfüllten Jugend verdient habe. Ich habe ihnen das alles erzählt, damit sie mich unterstützen, falls meine dämonische Genusssucht mir gesetzlichen Schaden zufügen könnte. Denn sie kennen nun meine Beweggründe. Ich will Genugtuung. Die Menschen schulden es mir. Gott schuldet es mir. Ich schulde es mir…“, und abrupt sprang er vom schwarzen Ledersofa, auf dem er in Rückenlage schlummernd von seinem Leben philosophiert hat, auf, hetzte eiligst zur Tür und flüchtig, leise flüsternd, sagte er ihr im Vorbeigehen „Sie als Mensch schulden es mir…“, und er war an der Tür angekommen, schloss diese eiligst und verschwand in der Dunkelheit des nun vom Abendrot leicht farblich, aber schwach beleuchteten Gangs.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.04.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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