Inge Offermann

Deine letzte Reise zum Winterregenbogen

Als ich dich vor fünf Jahren
unter der Dezemberkastanie
in die Arme nahm, wusste
ich nicht, ob und wann
wir uns wiedersehen.
Wie verschwommen ist
inzwischen die Erinnerung
an diese letzte Umarmung.
Wir schrieben und riefen uns an,
und ich dachte, es geht immer
so weiter. Dein letzter Weihnachtsbrief
viel auffallend kurz aus.
Gesundheitlich erschöpft
wolltest du das Jahr
in Ruhe ausklingen lassen.
Kurz vor den Feiertagen
telefonierten wir nochmals,
du hörtest dich an wie immer,
und ich nahm mir vor, mich
im neuen Jahr wieder zu melden.
Aber du starbst Anfang Februar an Krebs.
 
Beim Lesen deines Briefordners
passierte unsere gemeinsame Zeit
nochmals in Erinnerungsbildern Revue.
Interessant und spannend schildertest
du deinen Alltag – dein Leben,
ein stürmisches Auf und Ab
wie das Schiff auf bewegter See
in Rod Stewarts Song „Sailing“.
 
Bei den Kölner Indianerwochen
im Frühwinter 1982 begegneten wir uns,
plakatierten abends für die Veranstaltung
und zogen durch die Altstadtkneipen.
Tagsüber streiften wir durch die Stadt,
besuchten den Kölner Dom und den Flohmarkt,
abends Kinovorstellungen, Vorträge,
Lesungen indianischer Lyrik,
indianische Tänze im Völkerkundemuseum
und das einmalige Konzert von Dario Dominguez
wo dieser ein traumhaftes Flötenstück spielte,
während wir uns tief in die Augen blickten
und uns eng aneinander schmiegten.
 
Dann fuhrst du mit mir nach Freiburg.
Nach meiner Arbeit besuchten wir
Vorträge an der Uni, aßen beim Griechen
und tranken Sekt in meiner Badewanne
Tagsüber entdecktest du die Altstadt,
und dort die neueste LP von Chris de Burgh
mit den Songs „Getaway“ und
„Don’t pay the Ferryman“, die dich
später immer an diese Zeit erinnerten.
 
Bei deinem hastigen Aufbruch
zur Heimfahrt nach Berlin
hinterließt du eine Notiz,
dass wir eine gute Zeit
verbracht hatten, und schon
vermisste ich dich sehr.
Überquerte ich die Bahnhofsbrücke,
dachte ich daran, wie das Licht
in meiner Wohnung schien, wo du
mich abends lesend erwartetest.
Nun mutete die Wohnung wieder leer an
ohne deine vertraute Anwesenheit.
In deinem ersten Brief aus Berlin
erwähntest du, dass dich seit
unserer Begegnung eine
wunderbare Kraft durchströmte,
welche dich mit mir verband und
die ich beim Lesen sofort spürte.
 
Seitdem vergingen zwei Jahre
der Briefe und etlicher Besuche,
als ich von Freiburg in den
Karlsruher Raum zog.
Jedes Mal zählte ich die Wochen
bis zu unserem nächsten Wiedersehen.
Durch dich lernte ich Berlin kennen.
Dein Stadtteil Zehlendorf im grünen Bezirk
erinnerte mich sehr an meinen
süddeutschen Wohnort, und ich dachte,
hier heimisch werden zu können.
Noch wusste ich nicht, ob
unsere Bekanntschaft Zukunft hatte.
 
Zum einen meldete sich
deine alte Freundin wieder
und wollte mit dir gerne
einen Irlandurlaub machen.
Nach dem Zerwürfnis mit ihr
verliebtest du dich zweimal.
Zittern und Bangen bei mir,
als ich dies brieflich erfuhr.
Zwar machte auch ich
zwei Bekanntschaften,
doch die Gefühle für dich
überwogen sehr stark.
 
Endlich schaffte ich im Juni 1984
den Absprung nach Berlin zu dir.
Von da an schrieben wir uns nicht mehr,
sondern lebten unsere Beziehung.
Nach und nach wurde ich
mit dieser Großstadt vertraut,
arbeitete dort und besuchte
das Abendgymnasium.
Durch dich lernte ich
die Freie Universität kennen,
die Berliner Museen und Kulturstätten,
die Restaurants, Kneipen und Diskotheken,
Grünanlagen, Flohmärkte und Straßenfeste,
die Kinos, Kabaretts und Theater.
 
Du studiertest Völkerkunde,
Politologie und Lateinamerikanistik
warst freier Mitarbeiter
an einem Museum,
engagiertest dich für Indianer
und informiertest anhand
von Vorträgen und Veranstaltungen
über deren soziokulturelle Situation
und ihren Alltag in Nordamerika.
Eine Zeitschrift und ein Buch
gabst du heraus, bei jedem Ereignis
war dein Info- und Büchertisch vertreten,
und du warst an Indianerausstellungen beteiligt.
 
Reisen führten uns zu Tagungen
nach Göttingen, München, Wien,
Luxembourg und Genf,
wir besuchten Leute
in Hamburg, Dortmund,
Karlsruhe, Freiburg und Tübingen.
Oft hörten wir auf diesen Reisen
Kassetten von Buddy Redbow
„Journey to the Spirit World“
“Nights in White Satin” von
Moody Blues und „I’m on Fire“
von Bruce Springsteen, was
unsere Lieblingssongs wurden.
 
Zwar packte mich manchmal
das Heimweh nach Süddeutschland,
doch unser Alltag war so ausgefüllt,
das acht Jahre rasch vergingen.
Waren wir nicht mit dem
Indianerthema beschäftigt,
kochten wir gerne international,
hörten wir Rockmusik, lasen,
korrespondierten, erhielten
viel Besuch und gingen oft aus.
 
Als freier Dozent an der Universität
lerntest du in einem Seminar
eine griechische Studentin kennen,
deine Gefühle reichten so tief,
dass du eine neue Beziehung eingingst.
Als du sonntags das erste Mal
zu ihr nach Neukölln fuhrst,
schaute ich traurig vom Dachfenster
der davonfahrenden S-Bahn nach.
 
Nach einigen Wochen verschmerzte
ici diesen Verlust und verliebte mich
In einen Bekannten vom Sonntagscafé
im nahen Nachbarschaftsheim.
So hielten wir uns bald zu viert
in deiner Dachwohnung auf
und entwickelten eine reine Freundschaft.
Deine neue Freundin ermöglichte dir 1992
den schönsten Griechenlandurlaub
bei ihren Eltern in Athen und
auf der sonnigen Insel Amorgos.
 
Vier Monate, bevor ich Berlin
nach Süddeutschland verließ,
ging eure Beziehung auseinander.
Bis zu meinem Wegzug blieb ich
mit meinem neuen Freund zusammen,
während du wieder eine Studentin
kurzzeitig kennenlerntest.
An meinem letzten Berliner Morgen
vor der Abreise nach Süddeutschland
spieltest du mir zum Abschied
die Winnetoumelodie, die mich
auf der Fahrt in eine ungewisse Zukunft
gedanklich begleitete.
 
Von da an schrieben wir uns viele Briefe,
und ich besuchte dich gelegentlich,
mit meinem neuen süddeutschen Freund,
den du sehr schnell akzeptiertest.
Dein Leben verlief sehr interessant,
doch nach einer letzten dreimonatigen
Beziehung und dem längeren
Verliebtsein in deine Nachbarin,
die du gerne verwöhntest,
nur noch auf sachlicher Ebene.
Auch eine Urlaubsreise war dir
nicht mehr möglich, bisweilen
dachtest du sehnsüchtig
an deinen glücklichen
griechischen Sommer zurück.
 
Als ich dich das letzte Mal
vor fünf Jahren besuchte,
prägte ich mir deine Wohnung,
wo ich acht Jahre gelebt hatte,
nochmals intensiv ein:
Dein Schreibtisch am Dachfenster
mit Blick auf den Silberahorn
die Post und den S-Bahnhof,
die vollen Bücherregale,
dein Bett beim Kamin
mit dem kuscheligen Flokati,
davor der Teetisch mit der Laterne,
wo du stets gerne deine Pfeife
bei Fernsehen und Rotwein rauchtest
und die helle Küche, wo wir
Gartenobst für Kompott und
Kuchen entsteinten und verarbeiteten.
 
Du hattest noch so viel vor,
doch der Tod überraschte dich.
Nicht mehr anrufen kann ich dich,
dir nicht mehr schreiben,
dich nicht mehr besuchen.
Deine Wohnung ist leergeräumt,
hat ihre heimelige Atmosphäre verloren.
 
Heute wirst du im Kreise
deiner engsten Freunde
in dem Stadtteil beigesetzt,
mit dem du verwurzelt warst.
Von ferne begleiten dich
meine Gedanken auf
deiner letzten Reise
ins Regenbogenland.
Vielleicht triffst du dort
Menschen, die du kanntest
und die dir vorangingen.
 
© Inge Hornisch
 

Hommage für einen langjährigen Freund, der plötzlich mitten aus dem Leben schiedInge Offermann, Anmerkung zum Gedicht

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.05.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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