Patrick Rabe

Funkenflug

Du siehst mich an. Ich schaue zurück. Es war ein ganz normaler Tag. Normales Elend, das man normal erträgt. Die U-Bahn rattert, man liest Zeitung, ist ja im Alltag verankert. Und dann du. Und die Sehnsucht bricht wieder auf. Dieser traurige Schatten in deinen Augen. Auf dem Dom habe ich eine Rose geschossen. Ich möchte sie dir schenken, weil ich mich über dich freue und sehe, dass du dich über mich freust. Dieses Bedürfnis, einander zu umarmen, dieser Wunsch, einander zu begegnen – wirklich zu begegnen – im Funkenflug.
 
Und plötzlich sind wir uns ganz nah. Es ist klar: Wir kennen uns von Ewigkeit zu Ewigkeit, da gibt es kein Vertun. „Du bist schön.“, sage ich leicht schüchtern, „So wie die hier.“ Ich gebe dir die Rose. Du lächelst. „Ich hatte gehofft, dass du mich ansprechen würdest.“, sagst du, „Ich mochte deinen traurigen Blick, und die Rose hat auf mich wie ein Zeichen gewirkt.“ „Ein Zeichen?“, frage ich. „Ja.“, sagst du, „Ein Zeichen dafür, dass das Warten und das Alleinsein ein Ende hat.“ Ich schaue dich an und sage : „Mir geht es ähnlich. Vor zwei Jahren ist meine Freundin gestorben und ich habe mich in meiner Bude vergraben und gearbeitet. Aber als ich deine Augen eben sah, deine Augen mit diesem traurigen Schatten, da hatte ich wieder Hoffnung.“ Ich halte inne, dann sage ich, wie zur Erklärung: „Es ist sonst nicht meine Art, einfach Frauen in der Bahn anzusprechen!“ Über dein Gesicht huscht ein Lachen: „Du musst dich doch nicht rechtfertigen! Ich finde es mutig, dass du mich angesprochen hast. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es immer etwas zu sagen hat, wenn man zu jemandem eine Verwandtschaft spürt. Man sollte sich immer darauf ansprechen. Denn es bedeutet was. Auf jeden Fall. Weißt du, ich habe auch meinen Mann verloren. Bei einem Autounfall.“
 
Mein Herz hüpft. Deutlich spüre ich die Verbundenheit mit dir. Du musst raus, ich frage dich, ob ich mitkommen kann. Lächelnd nickst du.
 
Die U-Bahn hält, ich öffne die Türen. Draußen auf dem Bahnsteig ist es schon dunkel und es schneit. Zarte, kleine Flocken, die feucht unsere Gesichter netzen und sich auf unserer Kleidung niederlassen. Sanft fassen wir uns bei den Händen.
 



© by Patrick Rabe

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.12.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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