Kathrin Wohlgemuth
Die Einen und die Anderen
Die Eine liest in der Zeitung über eine neue Krankheit in China.
Der Andere sieht im Fernsehen Bilder von Menschen, die in ihren
Wohnungen eingemauert werden.
Der Eine fürchtet sich vor der
Ausbreitung eines von blossem Auge unsichtbaren Dings.
Die Andere
erinnert sich an A/H1N1 und sagt sich, das könne so schlimm nicht werden.
Die Einen verbarrikadieren sich zu Hause,
nachdem sie im Internet ein Bild von Särgen aus dem Nachbarland gesehen
haben.
Die Anderen finden nach kurzer Recherche heraus, dass auf
diesem Bild Särge ertrunkener Flüchtlinge zu sehen sind.
Die Eine bricht in Panik aus, als sie die Berechnungen zur potentiellen
Ausbreitungsgeschwindigkeit liest.
Der Andere meint trocken,
Angst schade dem Immunsystem.
Der Eine
entdeckt, dass er zuhause in Trainerhose seine Aufgaben konzentrierter
erledigen kann als im Büro.
Die Andere steht an der Kasse im
Supermarkt und wird angehustet.
Die Eine zieht täglich einen
Schutzanzug an, bevor sie die COVID-Station betritt.
Der Andere
getraut sich mit der schmerzenden Hüfte nicht zum Arzt.
Die
Einen müssen Konkurs anmelden, weil sie die Geschäftsmiete nicht
bezahlen können.
Die Anderen wissen nicht, wo sie genug
Leute für den Lieferdienst finden sollen.
Die Einen preisen
die Entschleunigung, finden Zeit für sich selbst.
Die
Anderen sehnen sich nach menschlichem Kontakt.
Die Eine erledigt Einkäufe für ihre Angehörigen.
Der Andere löst mit den Nachbarskindern ein Aufgabenblatt.
Die Einen helfen den Anderen.
Die Anderen helfen den Einen.
Die Eine schimpft über die Alte, die am
Kiosk nur ein Schoggistängeli kauft.
Der Andere ruft die
Polizei, wenn sechs Jugendliche auf dem Schulhof zusammensitzen.
Die Einen regen sich auf über die Anderen.
Die Anderen
empören sich über die Einen.
Die
Einen teilen auf Sozialen Medien Artikel über die Schädlichkeit der
Maske.
Die Anderen teilen Videos von Ärzten, die auch mit
fünf Masken vor der Nase noch genug Sauerstoff im Blut haben.
Die Einen lesen wissenschaftliche Studien, welche die Nützlichkeit von
Masken beweisen.
Die Anderen lesen wissenschaftliche Studien, die
belegen, dass Masken nichts nützen.
Der Eine ist
erleichtert, dass ihm durch die Maskenpflicht etwas mehr Bewegungsfreiheit
ermöglicht wird.
Die Andere sitzt nach einer Panikattacke
weinend im Zug.
Die Einen können die Anderen nicht
verstehen.
Die Anderen können die Einen nicht verstehen.
Die Einen können es nicht erwarten, eine
Nadel im Arm zu spüren.
Die Anderen sehen nicht ein, warum
sie sich einen Wirkstoff spritzen lassen sollen, der in ein paar Monaten
wieder nutzlos ist.
Die Einen werfen den Anderen vor, sie
nähmen den Tod von Vielen in Kauf.
Die Anderen werfen den
Einen vor, ihre körperliche Unversehrtheit zu verletzen.
Die Einen haben Angst um ihre Gesundheit wegen des Virus.
Die Anderen haben Angst um ihre Gesundheit wegen der Impfung.
Die Einen haben Angst, ihre Existenzgrundlage zu verlieren.
Die Anderen haben Angst, kein Spitalbett zu bekommen.
Die
Einen haben Angst um ihre Eltern.
Die Anderen haben Angst um ihre
Kinder.
Die Einen haben Angst vor Vereinsamung.
Die
Anderen haben Angst vor Überwachung.
Die Einen haben Angst,
dass es nie mehr sein wird wie zuvor.
Die Anderen haben Angst,
dass es sein wird wie zuvor.
Die Einen haben Angst.
Die Anderen haben Angst.
Die Einen
verschanzen sich mit ihrer Angst in den eigenen vier Wänden.
Die Anderen tragen ihre Angst auf die Strasse.
Die Einen
beleidigen die Anderen im Netz.
Die Anderen beschimpfen die Einen
im Netz.
Die Eine fantasiert davon, irgendeinen vermeintlich
Verantwortlichen zu erwürgen.
Der Andere weiss nicht, ob er
den Strick oder den Sprung vom Hochhaus wählen soll.
Die
Einen wollen, dass es aufhört.
Die Anderen wollen, dass es
aufhört.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.03.2021.
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