Jörg Brunken

1. September 1981

 
wo ist die Zeit geblieben
das Leben geht wie ein Spurt voran
ich dreh die Uhr zurück
starte nochmal beim Geburtsvorgang
...

meine Mutter müht sich ahnungslos ab
denn meine Entwicklung schlug fehl
wie können ihr die Ärtze das erklären
ich spüre, dass sie die Geburt schon genug quält

mitgenommen davon, ist sie intensiver
als eigentlich möglich vom Geschehen berührt
bin 10 Tage überfällig
sie hat nur meinetwegen die unzähligen Wehen gespürt

heute ist der 1. September 81', das Leben ruft mich auf
das Pressen schiebt mich raus
schockiert wird festgestellt; mein Gaumen ist gespaltet
und ein Teil meines Kiefers auch

meine Mutter dachte, sie hat's geschafft
als ich vor Sekunden endlich geboren war
aber nach der Aufklärung der Ärzte
sind jetzt noch größere Sorgen da

waren schon 9 Monate verbunden
so weiß ich, sie gibt nicht auf
spüre die Wärme ihres Arms
und fühle, sie liebt mich auch

natürlich muss sie es erst dran gewöhnen
bin ja erst ein Paar Sekunden alt
gibt mir auf den ersten Runden Halt
bin mir sicher, dass es auch ihre Wunden heilt

da sie mit meinem Vater verheiratet ist
ist sie sowieso schon hart im Nehmen
der extra gerufene Kinderarzt eilt herbei
war wohl kein guter Start ins Leben

keiner zu Scherzen aufgelegt,
es war keine Geburt, die Applaus erregt
ein Telefon wird getätigt
werde bald in ein anderes Krankenhaus verlegt

seit 12:07 auf der Welt und weiß schon
was es bedeutet, wenn das Leben hart zuschlägt
ich frage mich, wo mein Vater steckt
weil es Mama nach dem Schock nicht gut geht

eigentlich arbeitet er auswärts
aber er hatte für eine Beerdigung frei bekommen
er kam gestern Abend nach Hause
hat im Hospital angerufen
ist aber heute nicht eben vorbei gekommen

jeder hätte Verständnis wäre er hier
bei ihr und einem neuen Leben
aber er lässt diese Chance aus
ist seiner eigenen Familie nicht treu ergeben

Mama hat ihm gestern deutlich gesagt
dass die Geburt heute eingeleitet wird
er ist zufällig in der Nähe, aber nicht hier
echt hart für sie, dass sie in dieser harten Stunde nicht vom ihm begleitet wird

ihn interessiert meine Geburt so
als würde es jeden Tag so ein Erlebnis geben
sie wünscht sich jetzt seine Unterstützung
aber er verabschiedet lieber ein gelebtes Leben

er drückt sich vor der Verantwortung
lässt meine Mutter alles alleine ertragen
er zeigt seinen schwachen Charakter
denn Skrupel scheint er keine zu haben

bin zwar winzigklein, hoffe aber
dass das nicht die Art ist
wie man Dinge als Mann tut
das Telefon klingelt, es ist nicht er
sondern seine Mutter, die im Kreißsaal anruft

der Arzt sagt ihr, dass ich schon da
und dass ich ein Junge bin
das ist aber auch schon die einzige Info
die Fehlbildung bleibt noch unbestimmt

er gibt keine Auskünfte am Telefon
er sagt mit keinem Ton „alles okay“
Mama muss es selber erzählen
aber als sie dran ist, hat Oma schon aufgelegt

sie haben keine Zeit für Ma und mich
die Übermittlung der schlechten Nachricht zögert sich weiter 'raus
ohne Grund beruhigt, bleiben sie jetzt bestimmt
auch noch zum Leichenschmaus

irgendwie komisch, denn sie wohne in der Nähe
und kommen nicht eben vorbei
benommen vom ganzen Trubel
überhört Mama sogar mein Baby Geschrei

ihre Kraft ist aufgebraucht, schafft gerade noch
einen Anruf bei ihren eigenen Eltern
wie's mir scheint, fängt heute ein schwieriges Leben
in einer komplexen Welt an

natürlich könnte ich mich fragen:
warum trifft es ausgerechnet mich?
das wäre anderen Kindern gegenüber nicht fair
es passiert, weil der Zufall mächtig ist

es ist einfach bei mir aufgetreten
dafür kann es keinen vernünftigen Grund geben
ändern lässt sich sowieso nichts mehr
es ist Teil meiner 6 Pfund Leben

ich muss akzeptieren wie's kam
denn vor Unberechenbarem gibt es keinen Schutz
fange lauthals anzuschreien, weil Mama
so fertig ist, dass sie weinen muss

der Arzt versucht sie zu beruhigen
aber im Moment klingen seine Worte nichts sagend
weil durch den Schock und die Ungewissheit
hauptsächlich Ängste Gewicht haben

die Sorgen, die sie sich macht, lassen sie trotzdem
auch bei meiner Geburt an ein Wunder glauben
der Arzt erklärt, diese Fehlbildung käme vor
bei 200 Geburten von Hunderttausend

er sagt, dass es große Erfolgschancen gibt
weil es sich operativ gut beheben lässt
es ist zwar langwierig
aber irgendwann hält es nicht mehr mein Leben fest

die Zeit ist gekommen
man nimmt mich von meiner Mutter
legt mich in so eine Art Brutkasten
Mama, bitte hör auf zu weinen
ich werd's auch erstmal ohne dich gut machen


© Jörg Brunken
10.09.05/15.09.05/17.09.05/24.09.05

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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