Michel Schmidt

Das Zeichen im Baum

 
 Ein glückliches Kind schien sie gewesen zu sein.
 Immer fröhlich, immer mit einem Lächeln auf den Lippen.
 Doch wenn die Schule vorbei war, wenn die Eltern nicht da waren-
 Dann zog sie sich zurück.
 Am Rande des Flusses, da stand einst ein Baum.
 Ein kahler, alter Baum, nur selten grün anzuschaun.
 Viele Narben trug er,
 Eingeritzt mit einem Messer in die verletzende Haut.
 
 Und immer wenn das Mädchen nicht mehr weiter wusste,
 Nicht mehr konnte, keinen Lebensmut mehr hatte,
 Ritzte sie erneut blutige Wunden in die Haut des Baumes.
 
 Und so wie er ein trauriges Wispern,
 Unhörbar für die anderen,
 Verlauten ließ,
 So schmerzte es auch ihr.
 Tag für Tag machte sie dies durch.
 Die Schule-mit aufgesetztem Lächeln durchlaufend.
 Die Eltern-auch sie bekamen von den
 Unhörbaren Hilferufen ihrer Tochter nichts mit.
 Und dann war da wieder dieser Weg.
 Dieser lange und dunkle Weg,
 Der zum dem Baum führte,
 Den sie einst so geliebt hatte.
 Und dann ging ihr Lächeln wieder in ein
 Schmerzverzerrtes, eisiges und trauriges Kindesgesicht über.
 Erneut nahm sie das Messer.
 Doch dieses Mal,
 Dieses mal sollte es anders sein,
 Dachte sie sich.
 Dann küsste sie den alten Baum und umarmte ihn.
 Bevor sie das Messer an ihre Hand ansetzte
 Und ihrem traurigen Dasein endgültig ein Ende setzte.
  *   *  *
 Ihre Leiche jedoch, wurde nie gefunden.
 Die Familie und auch die Freunde,
 Die sich ihr nie richtig zu erkennen gegeben hatten,
 Glaubten an eine Entführung, an Mord.
 Und es schmerzte sie sehr,
 So ein glückliches und lebensfrohes Kind
 Verloren zu haben.
 Doch dabei war sie gar nicht so glücklich und lebensfroh.
 Niemand hatte ihr Leid erkannt.
 Ihre Maske war perfekt gewesen.

 Und nur der Wind,
 Der noch stets an dem Baume umherging,
 Erkannte das Gesicht des toten Mädchens,
 Dass wie eine leise Zeichnung,
 Im Baum eingeritzt schien.
 Im toten Baum.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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