Tief liegst du verborgen,
unendlich tief vergraben,
in einer dunklen Kammer,
da lebst du vor dich hin.
Den Schlüssel hab ich weggeworfen,
will nicht, dass du jemals kommst
hervor,
verschließe meiner Seele Tor,
will nicht, dass du mir zu nahe kommst,
denn du machst für mich keinen
Sinn,
hast keinen Nutzen mehr für mich,
niemals spüren möcht ich
dich.
Du schläfst tief und fest in mir,
und doch bist du ständig wach,
spürst, wenn du still sein musst,
weißt, wann du ruhig sein musst,
und du fühlst, wann es Sinn macht,
weißt, wann du es wagen kannst,
wann du es schaffst,
die Flucht zu versuchen,
aus deinem Gefängnis zu entkommen,
dich in mein Bewusstsein zu drängen,
mich gegen meinen Willen lässt
Dinge erkennen,
ich kämpfe zwar weiter gegen dich
an,
versuche, stark zu sein, mächtiger,
Deiner Herr zu sein, Kontrolle über
dich zu haben
so wie sonst auch...
Aber du erkennst meine schwachen
Momente...
Und dann, manchmal, da bist du stärker
noch als ich,
kämpfst und gewinnst gegen mich,
da durchbrichst du meine unsichtbare
Mauer,
schlägst die Tür ein, kommst
aus meinem Schatten hervor,
trittst in mein Bewusstsein herein,
weckst all das was ich möcht
vergessen;
Leid, Schmerz, Wut, Traurigkeit...
sie sind deine Verbündeten,
deine Weggefährten, deine
Brüder...
Und ich fange an, nachzudenken,
mich an dich zu erinnern, dir
Aufmerksamkeit zu schenken,
über dein Dasein nachzudenken,
den Sinn und Unsinn meiner Flucht vor
dir -
oder ist es Flucht vor mir?
Bist du in Wirklichkeit bloß ich?
Willst du gar nicht mal verletzen mich?
Doch wieso tust du dann so weh, bringst
Leid, bringst Schmerz,
lässt mich weinen, lässt mich
traurig sein,
lässt mich erinnern an Dinge,
deren Erinnerung ich verdränge?
Wieso bist du da, wieso erträgst
du das alles,
wieso ziehst du ein Leben in
Gefangenschaft der Freiheit vor?
Nur, um mich zu quälen? Um mich
leiden zu sehen? Mich mutlos, hoffnungslos zu sehen?
Und wenn du ein Teil von mir bist,
wieso fühle ich das dann nicht?
Wieso bist du dann so anders, als ich
es will?
Wieso hast du dann deinen eigenen
Verstand, deinen eigenen Willen?
Wieso kannst du nicht einfach so sein
wie ich dich mir wünsche?
Ich müsste dich nicht wegsperren,
nicht verstecken, nicht im Dunkeln leben lassen...
Aber was, wenn ich das nicht täte,
was wäre dann?
Was passiert, wenn ich dich frei lasse?
Weil ich es will,
wenn ich dich akzeptiere, als Teil von
mir,
was wäre dann? Würde es
trotzdem noch so weh tun, dich in meiner Nähe zu wissen?
Dich zu sehen, zu fühlen, zu
spüren, anzunehmen?
Oder würde es leichter sein, dich
zu kontrollieren,
wenn ich aufhöre, zu versuchen,
dich zu bezwingen?
Würde ich dich mit der Zeit von
ganz allein besiegen?
Geht das, dich besiegen, und doch zu
akzeptieren,
und wenn du immer da bist, wird es mit
der Zeit erträglicher?
Denn dich beherrschen zu wollen kostet
so viel Kraft...
Kraft, die ich nicht habe, nicht mehr
aufbringen kann,
nicht mehr habe, nicht so viel, wie
alle denken,
bin nicht so stark, wie alle glauben,
will nicht so kalt sein, wie ich
vorgebe zu sein...
Ich will dich nicht mehr sehen,
und sehe ich umso mehr,
ich will deinen Schmerz nicht fühlen,
und fühle ihn umso mehr,
ich will dein Leid nicht ertragen,
und muss es erleiden umso mehr,
ich will deine Trauer nicht mehr
spüren,
und spüre sie umso mehr,
ich will wegen dir nicht mehr weinen,
und weine umso mehr,
ich will dich nicht haben,
und brauche dich umso mehr...
Denn du, du gehörst zu mir, das
weiß ich jetzt,
und würdest du fehlen, würde
ein Teil von mir fehlen,
der Teil, der mich stärkt,
auch wenn es mich schwächt,
der mich vor Fehlern bewahrt,
auch wenn ich es trotzdem falsch mache,
der Teil, der mir alles vor Augen
führt,
auch wenn ich es nicht sehen will,
der mich öffnet,
auch wenn ich verschlossen bleiben
will.
Du bist das, was die Wahrheit zeigt,
mich aus einer Traumwelt reißt,
auch, wenn diese von mir geschaffene,
gewünschte Welt so friedlich, so frei ist,
und die Wahrheit so schrecklich
schmerzhaft und erstickend,
so weiß ich doch, dass dieses
schöne, friedliche, nichts ist als Schein
Und die Wahrheit das wahre Sein. Meine
wahre Welt, mit allen Fehlern. Deine Welt. Unser Sein.
Trauer, Schmerz, Wut, Leid,
Verzweiflung und Gefangensein-
das spüre ich, wenn du da bist,
das gibst du mir, wenn du mir zu nahe kommst.
Das sehe ich in dir;
Das Leid, den Kummer, die Unfreiheit,
den Schmerz, die Hilflosigkeit, die Einsamkeit...
Doch eigentlich ist all das nur da,
weil ich mich so sehr gegen dich wehre.
Denn all das machst du nicht,
gibst du mir nicht nur, lässt mich
nicht nur fühlen, um mir wehzutun,
all das machst du eigentlich gar nicht
absichtlich... ich glaube es nur,
bilde mir ein, du willst mich
unglücklich machen, mein Leben zerstören,
und doch weiß ich es besser, tief
in mir drin, so tief wie du, und doch so weit oben,
denn all das machst du nicht, willst du
nicht, gibst du nicht, symbolisierst du nicht,
sondern all das BIST du,
du, meine tiefste Angst.
(11.09.2006)