Inge Offermann

Der Wunschbaum

Hoch überm Dorf flatterten
die  Wünsche seiner Bewohner
als bunte Bänder im Baumgrün.
Dort blickten sie sich
zum ersten Mal in die Augen
und entdeckten ihre Zuneigung:
Melike und Mustafa.
 
Bald hielt er um ihre Hand an,
wegen Armut wiesen ihn
ihre Eltern ab.
Es gab zu viele Bewerber.
 
Darum zog es Mustafa
nach Deutschland
in die triste Stadt Köln,
in das winziges Zimmer
eines Wohnheims.
Er arbeitete tagaus, tagein
in einem dunklen Stollen.
 
Nur Briefe von zuhause
und die Erinnerung an Melike
blieben sein Trost.
 
Zwei Sommer musste er
bis zur Heimreise warten,
weil er mit seinem Verdienst
einem Freund in der Not half.
 
Erwartungsvolle Heimkehr
mit Geschenken für Melike,
doch bei der Erwähnung
ihres Namens nur ein
trauriger Blick seiner Schwester:
Wenige Wochen zuvor
hatte Melike auf elterlichen Druck
zur Vermeidung der Armut
einen anderen geheiratet.
 
Bei seiner Abfahrt entdeckte er
eine weißgekleidete Gestalt
beim brennenden Wunschbaum.
 
Melike hatte diesen
in ihrem Schmerz angezündet.
Sie wandte ihr tränenfeuchtes
Gesicht beim Anblick ab,
während sich Mustafas Wagen
in den bitteren Morgen entfernte.
 
Die Zeit ließ ihre Ehe
zur Gewohnheit werden,
sie schenkte ihrem Mann
zwei Kinder und verdrängte
die Erinnerung an Mustafa.
 
Nachdem fast alle Männer
das Dorf wegen einer Arbeit
in Deutschland verlassen hatten,
hieß es, auch die Frauen
sollten dorthin gehen.
 
Das fand auch Melikes
Schwiegermutter,
und Melike stimmte ihr zu.
Hoffnungsvoll ging sie
zum verkohlten Wunschbaum.
Sie bat ihn um Verzeihung
für ihre Verzweiflungstat,
hängte ein Tuch
in seine schwarzen Zweige
und flüsterte:
„Ich gehe nach Deutschland“.
Und ihre Gedanken
wanderten zu Mustafa.
 
Zum gleichnamigen Film von 2004
 
© Inge Hornisch

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