Isabell Aretz

Sonne und Pluto


Du bist nicht alles, aber fast.
 
Ich blicke auf die beschriebenen Blätter Papier, die vor mir liegen. Es sind dieselben Blätter, die vor einigen Stunden noch komplett weiß, leer und unbeschrieben waren. Jetzt tummeln sich lauter Buchstaben und Wörter darauf. Ich stelle mir vor, diese Wörter wären meine Gedanken. Und Gefühle. Wie kann man Gefühle in Worte fassen, frage ich mich immer wieder. Doch dann schaue ich mir die Blätter an und weiß, ich kann das. Es fängt im Nichts an und endet im Nichts und doch weiß jeder, worum es geht. Ich verstehe mich plötzlich. Für einen kurzen Augenblick, solange die Blätter da sind und ich sie sehe und ich es lesen kann. Dann verstehe ich mich. Ich sehe und lese all das, was schon so lange in meinem Kopf drin ist. All das, was ich bis dahin nicht verstanden habe, wogegen ich mich gewehrt habe und was ich nicht nachvollziehen konnte.
 
Es war einfacher. Früher habe ich gedacht, manchmal gefühlt. Wenn es etwas Besonderes gab. Das Leben ging so voran, es gab nichts Schlechtes, nichts Gutes, es gab nur das Hier und Jetzt, den Alltag, die Familie, die Freunde, die Schule, das "Manchmal-Etwas-Unternehmen", den Spaß. Und du warst immer da, aber irgendwie doch nicht. Ich habe dich gesehen, aber nie angesehen. Du warst nicht wichtig. Du warst eben da. Es war mir egal. Du warst mir egal. Du warst einer von vielen.
 
Doch jetzt bist du fast alles. Du bist der, der aus der Menge heraussticht. Du bist etwas Besonderes, jemand, der außergewöhnlich ist, du, mit deiner eigentümlichen Art zu Gehen, mit deiner überdurchschnittlichen Intelligenz, mit dem Schwachsinn in deinem Kopf, mit deinem Lächeln, mit deinem Wissen, mit deiner Auffassungsgabe, deinen Macken, den Schwächen, den Stärken, deinen Haaren, den Händen, den Augen, deinem Grinsen, den Beleidigungen, deinen Armen, die mich festhalten, manchmal, die mich an dich drücken, manchmal, und deiner Welt, die mich so fasziniert, immer, die ich nur von außen beobachten kann, zwar nur einen klitzekleinen Teil deiner Welt, aber dennoch. Von der ich so gerne ein Teil wäre.
 
Und andererseits möchte ich dich nicht hineinlassen in meine kleine Welt, in dieses Zimmer hier, das ist alles meins und soll niemals deins werden. Zumindest nicht so schnell. Und wenn du doch wieder vor der Tür stehst und wartest, dass ich aufmache, dann musst du wissen, ich stehe auch vor dieser Tür, meine Hand auf der Klinke, traue mich nicht, sie zu öffnen und zittere...
 
Ich erinnere mich nicht mehr, wie es früher war, als du dich noch nicht leise wie auf Samtpfoten in meinen Kopf geschlichen hast. Ich kann mir nichts mehr vorstellen ohne dich in meinen Gedanken. Wo auch immer ich hingehe, was auch immer ich mache, du bist immer bei mir, auch wenn du es nicht weißt, du bist immer da, ich nehme dich überallhin mit. Ich trage dich bei mir wie mein Herz, meinen Verstand. So wie ich selbst immer da bin, so bist du auch immer bei mir. Du bist da beim Essen, beim Schlafen, beim Duschen, beim Lesen, beim Hausaufgaben-Machen, im Unterricht, wenn ich krank im Bett liege, im Auto, zu Hause, in der Schule, auf dem Weg, im Bus, abends im Garten und in der Fremde, wenn ich im fremden Bett liege, unter einer fremden Decke und auf einem fremden Kissen, bei Leuten, die ich nicht gut kenne oder mal glaubte, gut gekannt zu haben, dann ist der Gedanke an dich wie ein Stück Zuhause, das ich immer mit mir nehmen kann, genauso wie mein Schlafanzug und mein Lieblingsbuch, welches aus lauter schönen, tröstenden Worten besteht.
 
Du bist wie alles, was meinem Dasein einen Sinn gibt. Ich weiß, es ist falsch, so etwas zu glauben und ich weiß, es gibt auch ein Dasein ohne dich, aber an dieses Dasein erinnere ich mich nicht mehr und ich will auch nicht, denn jetzt bist du ja da und solange du in meinen Gedanken weiterschwirrst, dreht sich meine Welt um dich. Du bist wie die Sonne und ich bin für dich vielleicht der entfernteste Planet des Universums. Vielleicht bin ich wie der Pluto. Ich ziehe meine Kreise um dich, bin aber so unendlich weit von dir entfernt und es scheint kein Näher-Kommen zu existieren. Nicht, solange du die Sonne bist und ich der Pluto bin.
 
Vielleicht wäre es eine gute Idee, dir das alles zu sagen, vielleicht aber auch nicht. Denn wenn ich da liege, in deinen Armen, wenn du den Kopf auf meiner Schulter hast, ich dir mit den Fingern durch die Haare fahre, deine Hand streichle, du mich an dich drückst und wir in himmlischer Stille verweilen, weil niemand diese Ruhe zerstören will und niemand sie auch zerstören sollte, dann vergesse ich alle diese Worte und es bleiben nur die Gefühle und Gedanken, die ich für dich habe. Ich bin wieder am Ursprung und ich muss es nicht verstehen, weil es sich gut anfühlt und weil ich es nicht verstehen muss, weil es einfach so ist wie es ist und weil du da bist und ich bin da und mehr brauche ich in diesem Moment nicht. Weder Worte, noch Buchstaben. Nur Stille und dich und deine Arme, die mich festhalten und deine Brust, auf der mein Kopf liegt.
 
Und dann bist du weg und ich bin wieder alleine mit meinen Gedanken und Gefühlen, die ich plötzlich wieder nicht verstehe, die mich verwirren, weil sie viel zu vielfältig sind und durcheinander fliegen, nicht zur Ruhe kommen und mit denen ich nicht umzugehen vermag.
 
Und deshalb brauche ich Papier, weiße, leere Blätter Papier, damit ich auch verstehe, wenn du nicht da bist, Gedanken, Gefühle, dich, mich und warum.
 
Weil du die Sonne bist und mich anziehst, sodass ich nicht weg kann.
 
Ich kann auch nicht näher, denn ich bin der Pluto und du bist zu weit weg.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.04.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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