Heidemarie Rottermanner

Es ist nicht weit nach nebenan!

Durch die blinden, schmutzverkrusteten Scheiben drang kaum Licht in das Innere. Inmitten von zerbrochenen Möbeln, Schachteln, zerknüllten Papierrollen, alten schmutzigen Kleidungsstücken, angebissen Brotscheiben und verfaulten Äpfeln saß der alte Mann in seinem großen, breiten Lehnstuhl. Er hatte das Gesicht in den Händen vergraben und schien zu schlafen, doch dann hob er den Kopf und sein Blick glitt ins Leere. Wie lange er schon hier saß, dass wusste er selbst nicht mehr.
Doch auf einmal öffnete sich die Tür und im matten Schein des Lichts stand ein kleines Mädchen, das lange, lockige braune Haar fiel bis zu den Schultern, der Blick aus den dunklen Augen, ruhig und ohne Angst. Jetzt trat es vor den alten Mann und sah ihn aufmerksam an, öffnete den Mund und sagte laut: „Komm geh mit mir, sie warten auf dich!“
„Nein, nein,“ der Alte schüttelte stur den Kopf und antwortete mit leiser Stimme:“ Lass mich, es geht mir gut. Sie brauchen mich nicht, ich bin alt und ich möchte keinem zur Last fallen. Lass mich hier, was willst du von mir. Es ist doch alles ohne Sinn und ich will nicht!
Doch unerschrocken streckte das Kind die Hand aus und erfasste die des Alten,  da zuckte es zusammen und atemlos kamen die Worte über seine Lippen:“ Du bist klebrig, hast dich nicht gewaschen. Meine Mutter schimpft immer mit mir, sie sagt ich bin schlampig und faul!  Du musst dir auch die Hände ordentlich reinigen und warum wäscht du dich nicht?“
Der Alte sah schuldbewusst auf seine Finger:“ Ich habe Schokolade gegessen und ich bin zu müde zum Waschen und außerdem ist dies alles ohne Bedeutung für mich.“
Die Kleine streckte ihm wieder die Hand entgegen und sagte bestimmt: „ Komm, sie warten, es ist nicht weit, gleich nebenan. Komm!“
Mühsam richtete sich endlich der Alte auf, suchte zitternd nach seinem Stock und folgte langsam, unendlich langsam dem Kind. Als sie schließlich die Tür schlossen und im grellen Sonnenlicht standen, da seufzte das Kind: ,, Das hat lange gedauert, ich dachte wir schaffen es nie!“ Der Alte glitt schwer atmend auf die Bank und schloss ermattet die Augen: ,, Hell ist es, die Sonne scheint und die Vögel singen. Mir scheint Frühling ist es.“
„Ja", antwortete die Kleine, „ die Sonne scheint, Paul und Tom spielen Fußball und Lisa fährt mit dem Dreirad.“
„Lisa fährt mit dem Dreirad", der Alte sprach es mehr zu sich selbst. Da strömten die heißen Tränen in seine Augen, hingen in den langen Wimpern um dann ganz langsam die grauen, schmutzigen Wangen hinab zu fließen, gleich einer hellen Spur. Die Schultern zuckten im lautlosen, schmerzvollen Stöhnen einer verletzten, gehetzten Seele. Rasch presste er die Hände vor den zitternden Mund um das qualvolle Schluchzen zu ersticken.
Das Kind setzte sich zu ihm und erschrak zutiefst: „Lisa weint  ganz anders, sie schreit laut und stampft mit den Füßen wenn ich sie an den Haaren gezogen habe", leise flüsterte es dieses Bekenntnis.
Rasch und gefasst erhob sich das Kind wieder und streckte ihm  die Hand entgegen: ,,Komm, bitte komm. Sie warten und alle sind in ach so großer Sorge um dich. Komm bitte, bitte komm.“
Endlich nahm er die dargereichte Hand und folgte dem Kind. Ganz langsam ,ja unendlich langsam gingen sie nun beide nach nebenan.


Mein Kommentar: Ich habe diese Geschichte geschrieben um das dumpfe, schwere Gefühl der Traurigkeit zu bewältigen, dass mich seit dem Tag quält als er sein Leben hinschmiss. Er fand weder die Kraft, den Sinn noch den Mut  dieses länger zu ertragen. Ich musste hilflos zu sehen und konnte nichts tun, so wie Xavier Naidoo singt: Mir sind die Hände gebunden seit 1024 Stunden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.04.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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