Katja Ruhland

Die Chronik der Nebelwölfe Teil 2

 
 
An die ersten fünf Jahre meines Lebens erinnere ich mich nur bruchstückhaft. Ich erinnere mich an meine zwei Jahre ältere Schwester Lyra, daran, dass sie schon damals mit ihrem ebenmäßigen Gesicht und ihrem tiefschwarzen Haar überdurchschnittlich schön gewesen war. Jedoch erinnere ich mich auch an ihre Grausamkeit. Sie beschimpfte die Bediensteten, hatte vor niemandem – mit Ausnahme ihres Vaters – Respekt und war anderen, auch mir und meiner kleinen Schwester Lilija, gegenüber gewalttätig.
Lilija kam zur Welt, als ich zwei Jahre alt war. Solange ich mich an sie erinnere erscheint sie mir wie ein sanftmütiger blonder Engel, der so unglaublich viel Liebe in sich hatte, dass es für ein halbes Königreich hätte reichen können.
Wir hatten alle verschiedene Väter – was in der Welt der Nebelwölfe durchaus normal war – jedoch war ich die einzige, die ihren nicht kannte.
Die Väter Lyras und Lilijas waren Nebelwölfe. Lyras Vater Therenon war der offizielle Mann unserer Mutter, Lilijas hingegen ein familienloser Einzelkämpfer, der durch die Lande zog und nur selten zu uns kam. Meinen Vater habe ich nie kennen gelernt, ich weiß nur, dass er ein Dunkelelf aus dem Unterreich war, den meine Mutter angeblich nur einmal getroffen hatte. Mehr müsse ich nicht wissen, sagte meine Mutter immer, als ich sie nach im fragte, es sei zu gefährlich für uns alle.
 
An meinem fünften Geburtstag lud meine Mutter nahezu jeden ein, der mit unserer Familie in Verbindung stand. Es war ein außergewöhnlich großes Fest im Hauptsaal meiner elterlichen Burg. Ich weiß nur noch, dass ich verwirrt und auch etwas verängstigt war, denn all diese Nebelwölfe sprachen mir Mut und Kraft zu oder wünschten mit Glück. Ich verstand damals nicht warum, denn schließlich wusste ich nicht, dass ich schon am kommenden Morgen meine Familie und meine Heimat für fünfzehn Jahre verlassen würde.
Als die Dämmerung hereinbrach und das Land langsam von Dunkelheit überzogen wurde, lichtete sich die Menge vor mir und eine Gasse entstand, durch die meine Mutter mit einer schmalen, jedoch sehr langen Schatulle auf mich zukam.
Sie legte die hölzerne, mit Eisen umfasste Kiste auf einen Tisch zu meiner Linken und sah mich auffordernd an. Es war in meinem Volk unüblich, Geschenke zu machen, also zögerte ich, doch nach einem weiteren auffordernden Lächeln ging ich auf die Schatulle zu und schlug den Deckel zurück. Der Innenraum war mit rotem Samt verkleidet, auf dem ein gewaltiges Doppelklingenschwert ruhte. Beide Klingen waren beidseitig geschliffen und mit kunstvollen magischen Zeichen versehen, der mittige Griff war mit schwarzem Leder umwickelt und an beiden Außenseiten schimmerten je zwei kleine Rubine.
„Dies sind die Schattenklingen“, sagte meine Mutter feierlich. „Zum Abschluss deiner Ausbildung wirst du sie erhalten, um das Land und die Familie zu verteidigen.“
Zwölf Stunden später verließ ich meine Mutter und meine beiden Schwestern.
Zwei von ihnen sollte ich nie wieder sehen.
 
Lillithja von Wolfental.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.04.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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