Oliver Haack

Der Fährmann

Er sollte bereits seit zwei Stunden arbeiten. Seine Fähre stand bereit und unzählige Touristen warteten schon. Er sah sie alle von seinem Fenster aus, alle hatten den selben Gesichtsausdruck. Diesen ungeduldigen Gesichtsausdruck. Dieses "Ich bin nicht hierher gekommen, um stundenlang zu warten" – Gesicht. Einige machten auch schon wieder kehrt.
Es war nicht seine Schuld. Man hat ihn heute morgen in eine fremde Wohnung eingesperrt. Man stellte ihm die drei Bewacher Heidecker, Schulze und Orlovski zur Seite. Er lag auf einem harten Gefängnisbett und nippte vorsichtig an einem Glas Wasser. Orlovski brachte ihm unlängst dieses Glas, aber es war nur zur Hälfte gefüllt.
Heidecker betrat den Raum und las ihm ein Schriftstück vor. Er las leise und langsam. Heidecker las zunächst die Personalien von dem Papier ab. Dann verlas er die Anklage.
"Ihre Strafe wird eine verhältnismäßig hohe Strafe sein, doch es muss ein Exempel statuiert werden. Solche Vergehen häufen sich, und nur ein erbarmungslos hartes Durchgreifen schreckt Menschen wie Sie ab, noch einmal so grob fahrlässig zu handeln und werte Fahrgäste vorsätzlich zu betrügen."
Schulze trat ein und brachte dem Fährmann eine Banane. Sie war schon faul und für ihn ungenießbar. Nachdem er trotzdem aufaß, nahm Schulze ihm die Schale aus der Hand und entsorgte sie in einem vollen Mülleimer, der nahezu versteckt hinter einem Aktenschrank zum Vorschein trat.
Heidecker las weiter. "Die besonders treuen und leistungsfähigen höheren Angestellten Gernot Heidecker, Kurt Schulze und Pavel Orlovski werden sich gemäß meiner Weisung um Ihren Strafvollzug kümmern. Der Vollzugsort ist die Wohnung von Herrn Pavel Orlovski, der diese freundlicherweise für dieses wichtige Amtsgeschäft zur Verfügung stellt."
Auf Befehl Heideckers unterschrieb er die vorgelesene Anklageschrift und stand auf. Er stellte sich auf einen morschen, alten Holzstuhl, den Orlovski in der Zwischenzeit vorbeibrachte. Schulze prüfte derweil, ob das Hanfseil richtig an dem Deckenhaken angebracht ist.
Heidecker zündete sich eine Zigarette an, trat den Stuhl beiseite und stellte das Radio an.
Draußen warteten mehr und mehr Menschen. Manche telefonierten, wahrscheinlich mit der Kundenzentrale, manche standen stumm da und warteten, dass etwas passiert.
Orlovski ging nach draußen, entschuldigte sich bei den Gästen für die entstandenen Unannehmlichkeiten und versprach allen, dass ab morgen wieder ein reibungsloser Dienst nach Fahrplan gewährleistet ist.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Oliver Haack).
Der Beitrag wurde von Oliver Haack auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.04.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Oliver Haack als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Aus dem Leben eines kleinen Mannes von Swen Artmann



Karl Bauer führt ein glückliches Leben – doch leider sieht er das ganz anders. Und so lässt der 46-jährige Finanzbeamte und Reihenhausbesitzer keine Gelegenheit aus, um diesem Dasein zu entfliehen. Dass er dabei von einem Malheur ins nächste steuert, ist fast vorprogrammiert.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Oliver Haack

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

unbekannter Kamerad... von Rüdiger Nazar (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Der ältere Mann und seine Prinzessin von Monika Wilhelm (Liebesgeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen