Roman Scherrer

Der Zirkus

Dieser Tag war etwas Besonderes. Niemand konnte an dieser Einstellung, auch mit noch so gewichtigen Worten, etwas ändern. Dieser Tag war einfach perfekt. Diese Ansicht vertrat zumindest Roland. Mit seinen 10 Jahren war der Ausflug zum Zirkus, einfach das Grösste für ihn.
Vor zwei Tagen waren die Wagen angekommen. Kurz darauf fingen die Aufbauarbeiten an. Und einen Tag nach Ankunft, wurde in der Stadt nur noch über die neue Unterhaltungsmöglichkeit gesprochen. Und weil Roland in letzter Zeit seine schulischen Leistungen verbessert hatte, durfte auch er sich an diesem spätsommerlichen Nachmittag vom Treiben der Gaukler, Clowns und Seiltänzer verzaubern lassen.
Tante Erika hatte ihm den Besuch des Zirkus einfach nicht abschlagen können. Und nun waren sie zu fuss auf den Weg zum grossen Hauptzelt des Zirkus, das man schon von weiter ferne her als Zirkuszelt erkannte.
Tante Erika hielt Roland behutsam an der Hand. Sie hatte ihr Haar streng nach hinten zu einem Zopf geflochten, hatte das blaue Kleid an, das sie immer zu Veranstaltungen jeglicher art anzog und wirkte dadurch wesendlich strenger, als es ihrem Gemützustand üblich war. Roland und seine Tante stellten sich zuhinterst in der Schlage an, welche aus Wartenden Besuchern des „Zirkus Maritron“ bestand. Der duft von Sägemehl, Popcorn und weiteren ihm unbekannten Gerüchen stiegen Roland in die Nase. Voller Begeisterung bemerkte er die Clowns, die bunt geschminkt vor dem Zirkuszelt für Klamauk sorgten. So konnten sie vielleicht noch unentschlossene Beobachter des bunten Treibens, zum Besuch überreden.
Als sie vorm Kartenverkäufer standen und seine Tante zwei Karten kaufte, beobachtete Roland den bärtigen Verkäufer. Nach seinem Zylinder und dem Smoking zu urteilen hätte er so angezogen auch gut als Bräutigam zu seiner eigenen Hochzeit erscheinen können. Doch die wilden ungekämmten Haare und das von Narben überzogene Gesicht des Verkäufers, konnten leichte Zweifel entstehen lassen, ob er so überhaupt eine Braut finden würde.
„Seid vorsichtig in der Manege“, sprach der Verkäufer langsam, Roland zugewannt. Seine Augen glänzten.
„Wäre nicht das erste mal, das uns ein kleiner Junge abhanden kommt.“ Mit einem Lachen wendete er sich den Besuchern hinter ihnen zu.
Roland mochte den Mann nicht. Ein ungutes Gefühl mischte sich in seine Positive Gefühlswelt. Er trat an der Hand von Tante Erika in das Zirkuszelt und konnte das Lachen des Verkäufer immer noch hören. Das Lachen war aber nicht hinter ihm, sondern kam aus seinem inneren selbst, als dunkle Wolke seines wolkenlosen gemüht.
„Was meinte der Mann damit?“, fragte Roland.
Seine Tante blickte ihn an und sah einen verunsicherten zehnjährigen Jungen vor sich der hören wollte das die Welt in Ordnung ist und das ein wunderbares Erlebnis auf ihn wartet.
„Der Mann hat nur Spass gemacht. Wir werden hier sicherlich viele tolle Sachen zu sehen bekommen.“
Beruhigt nahmen Roland in der ersten Reihe Platz. Seine Tante einen Platz links von ihm. Nervös vor Aufregung über die bald beginnende Vorführung brachte es Roland einfach nicht fertig still auf seinem Sitz zu verharren. Er drehte sich nach rechts um, nach links, reckte seinen Hals, als Personen vorne vorbeigingen um ganz rechts in der ersten Reihe platz zunehmen und staunte mit offenem Mund alles neue begierig an.
Auch Erika genoss das rege Treiben auf dem runden Sägemehlplatz. Sie war selbst über die Menge der Zuschauer überrascht. „Hier ist ja die halbe Stadt versammelt“, hörte sie eine Stimme einen Platz hinter sich.
„Und die andere Hälfte steht noch draussen und kauft sich gerade eine Karte“, antwortete eine andere Stimme.
Belustigt sah Erika zu Roland der immer noch mit offenen Mund die Vorbereitungen auf die grosse Zirkus-Show betrachtete.
Das Licht wurde dunkler und die Scheinwerfer an der decke des Zeltes begannen wild auf dem Sägemehlkreis vor ihnen zu tanzen. Jetzt war es völlig dunkel, nur die Scheinwerfer und ab und zu ein verspäteter Besucher, der barsch den Vorhang zum Eingang öffnete, erhellten das Zelt.
Stille begann das Gerede zuvor zu verdrängen. Als Die Scheinwerfer auf einen Mann mit Anzug und Zylinder zeigten, erstarb jegliches noch so leise Geflüster. Roland erkannte den Kartenverkäufer wieder.
„Willkommen im Zirkus Maritron“, er zog das Wort Willkommen in die Länge und sprach den Rest seines Textes mit dem letzten Atem aus. In der gespielten Pause die auf seine weiteren Worte folgten, baute sich beim Publikum gewollt Spannung auf.
„In der nächsten Stunde gehören Sie alle mir“, und wieder dieses unangenehme Lachen das Roland schon zuvor ein Unbehagen vermittelt hatte. Nervöses Lachen war nun in den hinteren Reihen zu hören, dass bei den nächsten Worten die der vom Scheinwerfer erhellte Mann sprach verklangen.
„Aber nun genug geredet. Lassen wir die Tore der Unterhaltung öffnen“, er drehte sich um, dabei schwenkte einer der Scheinwerfer auf den Vorhang am anderen Ende des Zeltes und das „Tor der Unterhaltung“ öffnete seine Pforten.
Das Licht ging aus. Sekunden verstrichen. Dann hörte man das schnauben eines Tieres und die Scheinwerfer warfen ihr Licht an die Stelle die sie zuvor erhellt hatten. Doch an stelle des von Narben übersäten Gesicht des Kartenverkäufers war nun ein Elefant zu sehen.
Roland hatte eine kleine Portion Popcorn von seiner Tante bekommen, hatte aber noch keinen einzigen Bissen davon zu sich genommen. Er war vom Schauspiel das sich ihm da darbot zu gefesselt um sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Nach den Elefanten kamen die Clowns. Diese schafften es mühelos den Geschmack der Zuschauer zu treffen und landeten einen Gag nach dem anderen. Am besten gefiel Roland die Nummer mit dem Wasserballon. Der eine Clown füllte einen Ballon mit Wasser, blies ihn auf und spritzte den zweiten nass. Damit sicherten sich die zwei Clowns fast soviel Beifall wie es die obligatorische Tortenschmeiss-Nummer erhoffen liess.
Eine Hochseilnummer war krönender Abschluss dieses Nachmittags. Und auch diese wurde abschliessend mit tosendem Applaus begleitet.
Auf dem Heimweg sprach Roland die ganze Zeit vom Zirkus. Und als sie daheim waren fragte er, ob sie Morgen wieder gehen würden.
 
 
 
Am Tag darauf durfte Roland nicht in den Zirkus gehen. Den ganzen Morgen hatte er gebettelt und gefleht, doch alles half nichts.
„Du weißt doch das ich Donnerstag einkaufen fahre, und danach einfach zu müde bin etwas zu unternehmen“. Damit war die Angelegenheit geklärt, zumindest für Tante Erika.
Roland musste also einen anderen Weg finden den Nachmittag zu verbringen. Seit Roland zu seiner Tante gezogen war, hatte er noch keine neuen Freunde gefunden. Da war es auch nicht gerade hilfreich, dass er als beste in seiner Klasse galt. Das brachte ihm mehr Spott ein als ihm lieb war. Von Freundschaften die sich anbaten ganz zu schweigen.
Er war erst vor drei Monaten in diese Gegend gezogen, zu seiner Tante die er nur von Fotos her kannte. Seine Mutter war bereits bei seiner Geburt gestorben. Sein Vater kam eines Tages einfach nicht heim. Er arbeitete bei der Polizei und sagte oft beim Abendessen wie gefährlich diese Arbeit doch im Grunde genommen war, aber jemand musste ja für Ordnung sorgen. Als Roland dann die glänzenden Augen von Tom sah, wusste er ganz instinktiv das etwas nicht in Ordnung war. Tom war der beste Freund von Rolands Vater und zugleich sein Arbeitskollege. Roland hatte nie erfahren was passiert war, er hatte aber auch nicht gefragt.
Alle waren auf einmal so nett zu ihm und sagten was für ein starker Junge er sei. Niemand hatte Roland in der Nacht weinend im Zimmer gehört. Das Kissen an die Lippen gedrückt, die Tränen wurden vom Kissen geschluckt, der Schmerz blieb.
Und ein paar Tage später war Tante Erika da. Sie nahm ihn mit zu sich und versuchte ihn wie ihr eigenes Kind aufzuziehen. Sie war nie verheiratet und hatte auch schon lange keinen Freund mehr, zumindest kannte Roland keinen Mann in ihrem Leben. Sie war Rolands einzige Verwandte die er noch besass. Tröstend legte seine Tante die Arme um Rolands Schultern, als sie ihn im Zimmer weinen hörte. Sie wischte ihm die Tränen vom Gesicht und erzählte eine Geschichte. Dann konnte Roland in Gedanke an Feen und Elfen endlich das Land der Träume betreten und den verdienten Schlaf finden.
 
 
 
An diesem Nachmittag der von einer strahlenden Sonne begleitet wurde und dessen Himmel eines der schönsten Blaufärbungen angenommen hatte die Roland je zu Gesicht bekommen hatte, fasste er den Entschluss in Richtung des Zirkus zu fahren. Er nahm für diesen kurzen Weg das Rennrad aus der Garage und begutachtete das Rad fachmännisch.
Sein Herz pochte laut ihn seiner Brust als er an den letzten Häuserblocks der Stadt vorbeifuhr. Im nahegelegenen Wald angekommen, konnte er im Schutz der Bäume, etwas gemächlicher weiter fahren. Niemand sah ihn dort, konnte ihn somit auch keine unbequemen Fragen stellen, wie: Wo willst du den hin, Roland? oder Weiss deine Tante das du hier alleine herumfährst?
Auf eine solche Unterhaltung mit den Nachbarn konnte er getrost verzichten.
Jetzt noch etwas weiter an der grossen Lichtung vorbei und dann ist der Zirkus nicht mehr weit, dachte Roland, heftig atmend auf seinem Rennrad.
Als er die hälfte der alten Steinbrücke überquert hatte, konnte er auf den Platz sehen, an dem gestern noch das mächtige Zirkuszelt stand. Nun war der Platz leer. Kein Zirkuszelt, keine Clowns, keine Zirkusmusik wie er sie gestern genau von der Stelle auf der er sich jetzt befand zum ersten mal gehört hatte, einfach nichts. Ganz langsam, das Rennrad neben sich her ziehend ging Roland weiter. Sein Verstand konnte kaum fassen, was ihm seine Augen da zeigten. Er hatte sich so auf die sonderbaren Wesen die den Zirkus behausten gefreut. Er hätte selbst den Kartenverkäufer liebend gerne gesehen, wenn dies nur hiesse der Zirkus wäre noch hier. Nun stand Roland genau dort wo sich 24 Stunden zuvor noch die Manege mit seinem Sägemehl befand. Nur noch die leichten Eindrücke auf dem Gras zeugten davon das sich hier vor kurzem noch etwas befunden hatte. Eine leichte Windböe liess kalte Luft über die Wiese wallen, wie Wasser auf dem Meer. Links von Roland bewegte sich etwas in einem Busch. Er konnte von dieser Entfernung nicht sehen was es war. Also ging er langsam näher. Es war bloss ein Blatt Papier das übrig geblieben ist, dachte Roland traurig. Er nahm es in die Hand und drehte es auf die beschriebene Seite.
„Zirkus Maritron“ stand in roter gewellter Schrift auf dem Blatt, das sich nun als Zirkusplakat zu erkennen gab. Diese Worte nahmen einen drittel des gesamten Platzes welches das Papier freigab ein. Darunter sah man die vielen Attraktionen die sich einem im Zirkus boten. Und wie Roland meinte, wurde hier nicht zuviel versprochen. Er sah sich das Plakat noch kurz an, faltete es dann vorsichtig zusammen und verstaute es sicher in der Hosentasche. Er würde jetzt heimgehen, es war schon bald Essenszeit. Doch sobald der Zirkus wieder hier ist, würde er ihn auch wieder besuchen, dies nahm er sich fest vor. Und wie so vieles was man sich in jungen Jahren so fest vorgenommen hatte, unterlag diesen Unternehmen dem Interesse das sich ein paar Tage schon etwas völlig anderem zugewendet hatte. Doch ganz vergessen blieb der Zirkus Maritron nicht. Das Plakat das behutsam auseinander gefaltet wurde hing noch Jahre später an der Wand von Rolands Zimmer. Er dachte oft an den Zirkus, doch bis jetzt hat er ihn nie wieder betreten...
 
 
 
R. S. , August 2002

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.05.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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