Roman Scherrer

Die Stubenfliege und der Holzwurm

Oder, Geist und Emotion vor dem Küchenfenster zur Welt
 
 
Einst lebten in einem alten Holzhaus eine unruhige Stubenfliege und ein nachdenklicher Holzwurm. Sie kannten sich schon sehr lange; etwa zwei Wochen lang. Nun mag das den Leser erstaunen, denn zwei Wochen für uns Menschen ist eine sehr kurze Zeit, doch für den Holzwurm und die Stubenfliege war dies eine sehr lange Zeitspanne.
Die meiste Zeit des Tages war die Stubenfliege damit beschäftigt in wilden Bögen im Haus nach essbarem Ausschau zu halten. Hatte sie etwas entdeckt wurden die Bögen zu ganzen Kreisen, in immer schnelleren Bahnen flog sie zuerst um, dann auf die köstlich aussehenden Leckereien, bis sie schlussendlich auf ihrem Essen landete und es genüsslich, in grossen Happen, eilig herunterschluckte.
Der Holzwurm dagegen, der in einem Holzhaus lebte, in seiner Eigenschaft als Holzwurm folglich am liebsten Holz ass, beschäftigte sich die meiste Zeit des Tages mit Holz. Wer nun denkt, dass der Holzwurm ein ziemlich langweiliges Leben führte, irrt sich in ihm das erste-, sicherlich aber nicht das letzte Mal. Den wie jeder wohlerzogene Holzwurm weiss, ist Holz nicht gleich Holz, und das richtige Stück zum Verzerr zu finden nicht gerade einfach.
So beschäftigten sie sich also, jeder für sich, eine ganze Weile, um ihre Mägen das knurren abzugewöhnen, mit der Nahrungsaufnahme. Waren sie satt, schliefen sie erste einmal etwas. Der Holzwurm sagte dazu: „Mit vollem Magen lässt sich nur schwer denken“, und schnarchte danach laut. Die Fliege summte nur und schlief gleichfalls ein.
Waren sie satt und ausgeschlafen trafen sie sich an ihrem Lieblingsplatz im Haus, vor dem Küchenfenster. Dahinter, durch die Glasscheibe, konnte man auf eine belebte Strasse sehen, die tagsüber von vielen Leuten benutzt wurde. Sie verbrachten Stunden davor mit beobachten und diskutieren.
„Da kommt der Professor!“, sagte der Holzwurm besserwisserisch. „Der läuft nicht nur so die Strasse entlang, der überlegt sich wichtige Sachen dabei.“ Und zur Stubenfliege: „Du würdest staunen wenn du wüsstest was der sich den ganzen Tag ausdenkt“.
Die Fliege gab nur ein zustimmendes „Suuummm“, von sich und sah weiter aus dem Fenster. Den alten Mann, welcher der Holzwurm für einen Professor hielt, machte nur wenig Eindruck auf die Fliege. Sie sah ihn, seine weissen streng gekämmten Haare, seine grosse Hackennase und den alten Anzug den er trug. Leicht nach vorne gebeugt ging er die Strasse entlang und verneigte sich kaum merklich zum Gruss, wenn ihm jemand begegnete, der bekannt mit ihm war.
„Ich glaube ihn schmerzt sein Rücken heute sehr.“
„Was?“, entgegnete der Holzwurm überrascht.
„Na deinen Professor. Er geht heute sehr langsam vorüber und macht keine unnötige Bewegung. Ich glaube er hat heute schlimme Schmerzen im Rücken und … da … schon wieder, er fasst sich an die Taille, siehst du?“
„Ahm, das mag schon sein, ist aber nicht wichtig.“
„Nicht wichtig!“, pustet die Fliege empört. „Das ist etwas was dir den ganzen Tag vermiesen kann.“
Die Stubenfliege zeigt dem Holzwurm ihre Rücken und flattert etwas mit den Flügeln.
„Wenn mir der Rücken schmerzt, spüre ich jeden Flügelschlag wie einen leichten Stich. Und meine Flugkunst, die sonst so elegant und schnell ist, wird zum unliebsamen Aufwand der alles andere als elegant ist.“
„Ja gut, aber vom denken hält es dich nicht ab, und das ist mir wichtig“, sagte der Wurm.
 
Einige Zeit verging, in der viele Leute an dem Fenster vorübergingen. Der Postbote teilte gemächlich die Briefe aus, ein paar Schüler mit schwer beladenen Mappen gingen fröhlich ihren Schulweg entlang, und der Bäcker von gegenüber verkaufte gut riechende Brote an seine Kundschaft. Der Stubenfliege lief beim Anblick der feinen Backwaren der Mund voll Speichel.
„Mhmm, das würde mir auch schmecken“, säufste sie.
„Da kommt Tom, siehst du ihn?“
„Natürlich sehe ich ihn. Er kommt mal wieder zu spät zur Schule.“, gab der Holzwurm zur Antwort.
„Ja, aber er scheint richtig aufgeregt zu sein. Hoffentlich ist nichts passiert.“
„Das einzige was mich bei dem überraschen würde, ist, wenn er es mal pünktlich in die Schule schaffen sollte. So was geht mir nicht in den Kopf, jeden Wochentag zur gleichen Zeit muss er zur Schule gehen, das muss er doch wissen. Aber anstatt zur rechten Zeit loszugehen, rennt er immer in letzter Minute Richtung Schulhaus.“
„Ach sieh das doch nicht so streng, dass mit der genauen Zeit hat man eben nicht im Gefühl.“
„Im was? … Im Gefühl?! … Nein dort nicht. Aber man muss es doch wissen. Es muss einem doch klar sein. Alles hat seine Ordnung, auch die Zeit. Wie gut kann man sich doch alles einteilen, wenn man sich die Zeit zu nutze macht und verplant...“
Nachdem der Holzwurm erst mal Luft geholt hat und seine Gedanken wieder geordnet hatte, sprach er: „…Heute früh zum Beispiel, da hatte ich Hunger. Ich hätte jetzt das Holz in der nähe der Spüle verspeisen können, aber das schmeckt nicht besonders gut. Also nahm ich meine Liste hervor, in der ich ein paar Orte vermerkt habe, bei denen mir das Holz ganz besonders gut geschmeckt hat. Schnell darauf hatte ich mich für einen der näher gelegenen Orte entschieden und habe dort ein trockenes Holzstück gegessen.“
„Ja und. Was soll mir das nun wieder sagen?“
„Dass, wenn wir unseren Kopf benutzen, die besten Resultate herauskommen.“
„Und wie hast du dich dabei gefühlt?“
„Wie immer“, antwortete der verblüffte Holzwurm.
„Siehst du!“
Die Stubenfliege grinste verschwiegen.
„Wenn ich hungrig bin strecke und recke ich mich erst einmal, etwa so…“
Die Fliege reckte und streckte sich genüsslich und summte.
„Dann erhebe ich mich und fliege los. Ich bin dann etwas aufgeregt und drehe meine Runden in den Zimmern. Wenn ich lange nichts gefunden habe, kriege ich Angst. Vielleicht kommt kein Essen mehr – nie mehr. Das halte ich dann kaum aus, fliege wilder umher und mache mir langsam Sorgen. Mein Herz schlägt schnell, schneller, rasend. Ich kann kaum mehr einen vernünftigen Gedanken fassen … doch dann … was ist das bloss? … was richt da so … so köstlich? Ich fliege dem Geruch nach und sehe das Essen auf dem Tisch. Es ist eine Torte. Sch… Schook … Schokoladentorte!!!“
Die Fliege macht vor Freude einen Luftsprung und erzählt dann aufgeregt weiter: „Ich kann es nicht recht fassen. Alle Angst war unbegründet, mein Herz jubelt auf. In immer enger werdenden Spiralen fliege ich auf die Torte zu. Ich bin schon so nahe, dass mich der feine Duft fast betäubt und das Glück das ich empfinde lähmt mich und macht es mir fast unmöglich den letzten kurzen Weg zur Erfüllung meiner Träume zu gehen. Doch auch dies überwinde ich, beisse voller Erwartung in die noch lauwarme Torte und bin zufrieden mit mir und der Welt.“
Die Fliege taumelt leicht zurück und lässt sich sanft zu Boden gleiten. Gespannt wartet sie darauf dass der Holzwurm spricht. Der wiederum scheint nachdenklich geworden zu sein und schweigt vorerst.
Der Bäcker von gegenüber ist verschwunden und mit ihm auch der Andrang vor der Bäckerei. Der Postbote muss auch schon ein ganzes Stück weiter sein. Vom Fenster aus ist er zumindest nicht mehr zu sehen. Und die Kinder sind nun bestimmt alle in der Schule und lernen.
Hastig rennt ein unbekannter vor dem Fenster vorbei, seine schritte hallen laut auf dem Asphalt. Nach ein paar Minuten kommt der gleiche wieder vorbei, und zwar wieder von rechts nach links, wie er es bei ersten Mal getan hat. Der dreht wohl ein paar Runden um den Block, denkt sich der Holzwurm. Einer dieser Sportler. Komisches Volk.
Es hilft nichts, der Holzwurm kann seine Gedanken bei diesem ständigen kommen und gehen nicht klar ordnen. Zu vieles beschäftigt ihn momentan. Er verabschiedet sich von der Stubenfliege und geht in seine selbstgebaute Höhle in der nähe der Spüle. Zuvor verabredet sich der Holzwurm aber noch für später mit der Stubenfliege.
 
Etwas später, als die Stubenfliege zur Landung vor dem Küchenfenster ansetzt, findet sie immer noch einen nachdenklich wirkenden Holzwurm vor. Sie hat schon befürchtet das der Holzwurm sein Schweigen von vorhin fortsetzte, da beginnt der Holzwurm mit den Worten: „Ich habe lange und gründlich über deine Worte nachgedacht“, zu sprechen.
Die Fliege ist geschmeichelt das er ihren Worten so ein Gewicht beimisst.
„Wie du weisst, lebe ich in der Nähe der Spüle …“
Die Stubenfliege nickt neugierig.
„… obwohl ich sage, dass ich das Holz dort eigentlich nicht leiden kann. Das ist unlogisch. Ich könnte ja einfach umziehen und irgendwo wohnen, wo mir das Holz besser schmeckt. Doch das tue ich nicht …“
Der Holzwurm sah eindringlich zur Fliege.
„Warum?“
„Warum?“, fragte die Stubenfliege flüsternd nach.
„Weil wir eigentlich gar nicht so verschieden sind, wie ich immer gedacht habe. Ich habe uns immer als zwei völlig unterschiedliche Lebewesen angesehen, mit völlig verschiedenen Einsichten und einer individuellen Lebensweise – doch ähnlich sind wir uns, ich konnte es zuerst kaum glauben.“
Draussen vor dem Fenster läuft der Professor wieder zurück und wird von den heimkehrenden Schulkindern überholt. Er lächelt dabei und sieht ihnen nach.
„Als ich klein war, da lebte ich und meine Eltern auch in der Nähe der Spüle. Da habe ich mich immer schon am sichersten gefühlt. Ohne das es mir bewusst war, habe ich mir später diese Sicherheit geschaffen.“
Die Stubenfliege nickt verständnisvoll.
„Und das ich mich wie immer gefühlt habe, auf der suche nach schmackhaften Holz, dass stimmt nun so auch wieder nicht. Auch für mich ist es immer wieder ein Abenteuer auf die suche nach Essbaren zu gehen. Auch wenn die Gefahr nicht besonders gross ist, bin ich doch immer wieder gespannt ob mein Plan das halten kann was er verspricht. Und ein Glücksgefühl stellt sich bei mir ein, wenn alles gut geht, ähnlich deinem Abenteuer.“
Nun schien die Fliege der Worte abhanden gekommen zu sein und summte leise vor sich hin.
„Ich versuche alles zu Planen und zu durchdenken …“, sagte der Holzwurm.
„… und ich lass den Bauch sprechen.“, sagte die Stubenfliege.
„Einzeln gehen wir durch die Welt, doch gemeinsam verstehen wir zu Leben. Geist und Emotion vor dem Küchenfenster zur Welt“, endet der Holzwurm und die Stubenfliege summt zustimmend.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Roman Scherrer).
Der Beitrag wurde von Roman Scherrer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.05.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Roman Scherrer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

222 Gedichte: Liebe & Lyrik & Humor & Aphorismen von Horst Rehmann



222 Gedichte; eindeutig - zweideutig, mehrdeutige, nachdenkliche und gekonnt gereimte Poesie, die geschmackvoll mit vielerlei Liebesversen durchwirkt ist. Ein außergewöhnliches Buch mit Satire und guter Unterhaltung, das zu den verschiedensten Anlässen und Begebenheiten serviert werden kann. Schmunzelnde Buchstaben der Wortspielereien, welche liebevoll mit Aphorismen angereichert sind. Ein gehöriger Spritzer Humor mischt sich ebenfalls unter. Liebliche Wortküsse und passend zu den Jahreszeiten sortierte Reim-Kompositionen, die jeden Lachmuskel zum Training einladen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fabeln" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Roman Scherrer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Eine Wirtschafts-Anekdote von Roman Scherrer (Parabeln)
Hühnersuppe über alles... von Jürgen Berndt-Lüders (Fabeln)
Christkind der Kölner Domplatte von Rainer Tiemann (Lebensgeschichten & Schicksale)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen