Jeden Abend, zum Sonnenuntergang, kam
die große Spatzenschar zu ihrem Schlafplatz zurück. In dem
riesigen Efeuwirrwarr an dem alten Haus gab es nach der Rückkehr
viel zu erzählen, und das Gezwitscher von alten und jungen
Spatzen war in der ganzen Nachbarschaft deutlich zu hören.
Ein ganz kleiner junger Spatz dachte
bereits viele Tage darüber nach, wie es wohl wäre, ein
großer und bunter Vogel zu sein. Er wollte nicht mehr so ein
kleiner unscheinbarer Spatz sein, der zwischen Hecken und Feldern
seine Tage verbringen mußte. Er wünschte sich Tag für
Tag nichts sehnlicher, als ein großer bunter Vogel zu sein.
Er wurde immer unzufriedener und oft
hörte man ihn laut rufen:
„Ich möchte doch so gerne ein
großer bunter Vogel sein!“.
Er übertönte damit das laute
aufgeregte Gezwitscher der anderen. Ansonsten saß er nach der
Heimkehr nur still im Geäst und sah dem Treiben seiner Umgebung
zu. Ältere Spatzen machten sich schon Sorgen, ob der Kleine
irgendwie krank sei.
Eines Tages setzten sich zwei von ihnen
zu dem keinen Spatzenkind und fragten:
„Was ist mit dir, warum möchtest
du ein großer bunter Vogel sein?“
Der Kleine schaute bedrückt nach
unten und murmelte:
„Weil ich einfach kein Spatz mehr
sein möchte. Ich möchte groß, bunt und schön
sein, und auch besonders singen können!“
„Ach so! Das ist
dein Kummer! Diesen Wunsch wirst du dir wohl aus dem Kopf schlagen
müssen. Bisher ist ein Spatz immer ein Spatz geblieben!“,
sagte der eine von den Älteren.
Der andere meinte:
„Versuche es doch mal mit einem
Traum. Manche Träume sollen in Erfüllung gehen, man müsse
es sich nur genügend lange wünschen!“
Nachdenklich hüpfte der kleine
Spatz an die oberste Stelle des Hauses, dorthin, wo das Efeu
besonders dicht war, um seine Ruhe zu haben. Jeder hatte inzwischen
seinen Schlafplatz gefunden und Stille trat ein. Es wurde immer
dunkler und der Schlaf gesellte sich zu den Vögeln - und den
kleinen „Möchtegernanderssein“ überfiel ein Traum:
Er befand sich in einem ganz anderen
Land. Es war herrlich warm und ringsumher sah er wunderschöne
große bunte Vögel, die so schön sangen, wie er es
noch nie gehört hatte . Sie bestaunten den Neuankömmling
von allen Seiten.
„Wer bist du denn?“ fragte
neugierig ein besonders schöner bunter Vogel, der vor ihm hin
und her stolzierte.
„Ich bin ein Spatz und komme aus
einer Spatzenkolonie!“ erwiderte er.
Immer mehr von den großen bunten
Vögeln kamen angeflogen und angerannt, um sich das fremde Wesen
zu besehen.
„Was starrt ihr mich denn alle so an,
ich bin doch nur ein häßlicher, kleiner Vogel!“, hörte
man ihn sagen.
„Gerade weil du anders bist als wir
alle, gefällst du uns so sehr. Solch ein schwarzbraunes Gefieder
hat von uns hier keiner!“, lobte ein schöner Paradiesvogel und
rückte an den kleinen Fremdling heran. „Kannst du auch
singen!“ rief ihm einer aus den hinteren Reihen zu.
„Ich konnte noch nie singen, aber ich
kann zwitschern!“ entgegnete er und wurde plötzlich ganz
mutig.
Laut und deutlich fing er an zu
zwitschern. Alle standen mit offenen Schnäbeln da und staunten.
„Welch wunderbare Töne!“ rief
der Größte unter ihnen.
Voller Begeisterung drängte dieser
sich durch die Menge zu dem kleinen Spatzen, ließ ihn auf
seinen ausgebreiteten Flügel springen und hob ihn die Höhe
während er sich im Kreis drehte.
Wie im Chor rief die große bunte
Vogelschar: „Zwitscher uns noch weitere Lieder und schenke uns doch
Federn deines Kleides!“
Im Überschwang seiner Gefühle
zupfte er sich die schönsten Federn aus und gab sie denen, die
er erreichen konnte. Sie hielten die Kostbarkeiten gegen die Sonne
und schwenkten sie mit dem Schnabel hin und her. Plötzlich wurde
dem kleinen Spatzen so kalt und die fremde Welt, in der er war,
verschwamm vor seinen Augen.
Der kleine „Möchtegernanderssein“
erwachte erschrocken aus seinem Traum, denn ein kühler
Morgenwind strich ihm über die kahlen Stellen in seinem
Gefieder. Hatte sich doch der kleine Vogel tatsächlich im Traum
die Federn ausgerissen. Während die rote Morgensonne am Horizont
erschien, erwachten auch die anderen Spatzen am alten Haus und hörten
ein Gejammer in der Höhe. Aufgeregt hüpften sie hinauf und
sahen ein vor Kälte zitterndes Spatzenkind, umgeben von
ausgezupften Federn. Mitleidsvolle Spatzenmütter drückten
sich dicht an das Spatzenkind, um es zu wärmen.
Leise hörten sie es sagen: „Nie
wieder will ich träumen oder ein anderer Vogel sein. Davon
friert man doch nur!“