Nicole Schneider

Das Spiegelbild

Es war einmal eine kleine Elfe. Eigentlich – so sollte man glauben – sind Elfen geschaffen, um fröhlich zu sein, so wie ein Fisch zum Schwimmen geboren ist. Wenn man in der glücklichen Lage ist, diese zarten kleinen Geschöpfe wahrnehmen zu können, kann man sie übermütig durch die Luft schwirren sehen und ihr glockenhelles Lachen hören.
 
Aber die kleine Elfe, um die es in dieser Geschichte geht, war ganz und gar nicht glücklich und fröhlich – und so sah sie auch nicht aus. Ihr goldenes Haar war wirr und verfilzt, ihr kurzes Kleidchen rissig und schmutzig, und ihre Flügel waren staubig und fleckig. Ihre großen blauen Augen blickten meist traurig auf den Boden.
 
Was hatten die anderen Elfen nicht alles versucht, um sie aufzumuntern. Sie hatten sie mit Grashalmen gekitzelt, sie überredet, mit ihnen morgens in den Tautropfen zu toben, ihr lustige Geschichten erzählt und vieles mehr.
 
Aber nichts half.
 
Die anderen Elfen waren ratlos. Die einzigen Momente, in denen die kleine Elfe etwas lebhafter wurde, waren, wenn es galt, ein verirrtes Glühwürmchen zu trösten und ihm den Weg zu zeigen, einer anderen Elfe das Haar zu bürsten, kurz, immer dann, wenn sie anderen helfen konnte. Aber danach versank sie wieder in ihrer Traurigkeit.
 
Als die anderen Elfen sich nicht mehr zu helfen wussten, baten sie die weise Fee des Waldes um ihre Hilfe. Diese kannte alle kleinen Elfen und wusste über jede genau Bescheid. Natürlich war ihr auch die kleine traurige Elfe bestens bekannt. Sie bat die anderen, diese zu ihr zu bringen.
 
Am nächsten Tag erschien die kleine Elfe bei der Fee. Man sah, dass sie sich bemüht hatte, Kleidung und Haar wenigstens ein bisschen in Ordnung zu bringen, und auch ihre Flügel waren jetzt sauber, aber sie bot dennoch einen recht jämmerlichen Anblick. Auch ihr gezwungenes Lächeln, mit dem sie die Fee begrüßte, konnte nicht über ihren Kummer hinwegtäuschen.
 
„Hallo, kleine Elfe“, begrüßte die Fee sie, „ich hatte gehofft, dass du mit mir einen kleinen Spaziergang machst. Ich gehe so ungern alleine spazieren, und meine Cousine, die Wetterhexe, ist heute verhindert.“ Eigentlich hatte die Elfe keine große Lust auf einen Spaziergang, aber sie wollte nicht unhöflich sein. Eine Weile bewegten sich die beiden schweigend nebeneinander her. Die Fee schritt über die weichen Waldwege, und die kleine Elfe schwebte neben ihr.
 
Nach einer Weile kamen sie an einen kleinen Wasserfall. „Stell dich hier vor den Wasserfall“, forderte die Fee die kleine Elfe auf. „Ich möchte dir jemanden vorstellen!“ Kaum war die Elfe auf dem Waldboden gelandet, da berührte die Fee mit ihrem Zauberstab den Wasserfall, und das Wasser erstarrte und bildete eine glatte, spiegelnde Fläche. Gebannt schaute die kleine Elfe in den Spiegel und fühlte sich mit einem Mal wie im Traum. Sie sah dort in der klaren Wasserfläche eine kleine Elfe mit zerrissenem Kleid, verfilztem Haar und großen traurigen blauen Augen in einem blassen und schmalen Gesichtchen. „Wer ist das?“, fragte sie erstaunt, denn sie hatte sich seit Ewigkeiten nicht mehr in einem Tautropfen oder einer Pfütze betrachtet. „Oh, das ist eine kleine Elfe, die dort im Wasserfall gefangen ist“, erwiderte die Fee. Während sie sprach, bemerkte die kleine Elfe, wie ihrem Gegenüber im Wasserfall Tränen in die Augen traten und die Wangen hinab kullerten. Dass sie selbst weinte, bemerkte die kleine Elfe nicht. Sie fühlte nur unendliches Mitleid. „Was ist mit ihr?“, fragte sie die Fee. Diese berührte wieder den Wasserfall, das Wasser setzte sich in Bewegung, und die kleine Elfe verschwand. „Setz dich auf den Stein, dann erzähle ich dir von ihr“, sagte die Fee beschwichtigend zu der kleinen Elfe, die erschrocken ihre Hand zum Wasserfall ausgestreckt hatte, als die Wasserelfe in den schäumenden Fluten verschwand.
 
„Warum ist sie so traurig? Und warum ist sie gefangen?“, fragte die kleine Elfe bestürzt. „Eine traurige Geschichte“, erwiderte die Fee ernst. „Sie ist so ein liebes Geschöpf, immer für andere da, hilft anderen, ein gutes Leben zu führen, aber für sich selbst tut sie nichts! Sie gönnt sich keinen Spaß, sie pflegt sich nicht, sie tut nichts dafür, dass sie glücklich ist. Und weil sie sich selbst nicht liebt, kann sie auch die Liebe der anderen nicht spüren.“
 
„Ich möchte ihr helfen. Sie soll glücklich sein“, erwiderte die kleine Elfe entschlossen. „Wie willst du das tun?“, fragte die Fee, um zu prüfen, ob es der kleinen Elfe auch ernst war. „Jemand muss ihr helfen. Ich werde ihr das Haar bürsten, bis es glänzt und ihr Kleid nähen. Dann werde ich ihr einen Blumenkranz für ihr Haar flechten, und ich werde jeden Tag hierher kommen, um im Wasser mit ihr zu toben. Wir werden reden und lachen, und ich werde ihr die anderen Elfen und die Tiere vorstellen. Ich werde ein paar große Blüten ins Wasser werfen, auf denen sie liegen und sich in der Sonne ausruhen kann. Und ich werde dafür sorgen, dass alle nett zu ihr sind und keiner sie traurig macht.“ Die kleine Elfe war in ihrem Eifer kaum zu bremsen.
 
„Versprichst du mir, dass du all das, was du eben gesagt hast, auch wirklich tust – für die kleine Wasserelfe, die ich dir eben gezeigt habe? Du übernimmst damit eine große Verantwortung, denn viele andere Elfen sind an dieser Aufgabe gescheitert. Gerade du aber kannst es schaffen“, sagte die Fee und schaute die kleine Elfe eindringlich an. Diese nickte entschlossen. Diese großen traurigen Augen, die sie eben gesehen hatte, hatten ihre kleine Seele tief berührt. „Ja. Niemand sollte so unglücklich sein“, sagte sie.
 
„Nun gut“, sagte die Fee, „dann nimm sie an die Hand und hilf ihr!“ Sie ließ mit ihrem Zauberstab noch einmal den Wasserfall erstarren, wieder fühlte sich die kleine Elfe wie im Traum, und wieder erschien die Wasserelfe auf der Oberfläche. Die kleine Elfe am Ufer streckte die Hand aus, ihr Gegenüber im Wasserfall tat es ihr gleich, sie griff zu, beide gemeinsam gingen sie einen Schritt zur Seite, im gleichen Moment begann das Wasser wieder zu fließen – und sie war allein.
 
„Wo ist sie?“, fragte die kleine Elfe bestürzt und blickte in das aufgewühlte Wasser. „Sie ist in dir“, erklärte die Fee, „das ist ihre einzige Möglichkeit, den Wasserfall zu verlassen. Alles, was du für sie tun willst, das tue jetzt für dich, und wann immer du dir nicht sicher bist, ob es der kleinen Wasserelfe in dir auch wirklich gut geht, komme zu mir an den Wasserfall, und wir sehen nach. Und – sorge gut für sie, ich habe sie dir anvertraut!“ Die Fee strich der kleinen Elfe über das Haar und ging davon.
 

 
In den ersten Wochen musste die kleine Elfe noch häufig an den Wasserfall zurückkommen, um nachzusehen, ob es der kleinen Wasserelfe besser ging. Doch sie nahm ihre Aufgabe sehr ernst. Schon beim zweiten Besuch hatte die kleine Wasserelfe ein neues Kleidchen und ordentlich gebürstetes Haar.  Im Laufe der Zeit bekam es auch wieder einen seidigen Glanz. Die Flügel glitzerten in der Sonne, und die großen blauen Augen begannen wieder zu strahlen. Auch die Bäckchen wurden rot, und schließlich begann auch ihr Mund wieder zu lächeln. Wenn die kleine Elfe anfangs bei einem Besuch doch mal wieder Tränen in den Augen der kleinen Wasserelfe entdeckte, wusste sie, dass sie sich noch etwas mehr um sie kümmern musste.
 
Und irgendwann spürte sie auch ohne den Wasserfall, dass es ihrem Schützling gut ging.
 
Und dann eines Tages kam ihr die Idee, sich selbst nach langer Zeit mal wieder in einer Pfütze zu betrachten, und erstaunt blickte sie in die großen blauen Augen der Wasserelfe.
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.05.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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