Irmgard Schöndorf Welch

Geschichten aus der Nacht 03 .... Einmal beim Einkauf

*






Einmal beim Einkauf

 
Im Supermarkt treffe ich Vera: poly-erblondet, braungebrannt, Lippen frisch gespritzt, stramme Strumpfhosenschenkel im Minirock.
Vera.
Ihre drei Kinderchen hat sie bei sich. Man stelle sich vor: Drillingssöhnchen, gerade einmal zirka vier Jahre alt. Nie habe ich in größere, blauere Unschuldsaugen gesehen. Den dazugehörigen Ehemann und Vater gibt es auch. Er ist Co-Pilot oder sowas.

Sie ruft schon von weitem: "Gerti, o Gerti ... du hast dich aber gar nicht verändert!"
"Seit ewigen Zeiten haben wir uns nicht gesehen", sprudele ich heraus, "du bist immer noch ... sehr sexy."
"Ich bin Witwe geworden!", stammelt Vera.
"O nein ... o nein, das tut mir ... unsagbar leid!"
Schon liegen wir einander in den Armen. Ich tätschele ratlos ihren Rücken.
"Wolfgang ist an Ohrkrebs gestorben", sagt sie.
"Wie furchtbar, wie furchtbar. Das ist ja ..."

"Es ist alles noch viel, viel schlimmer ... wenn du wüsstest, was ich mit ihm erlebt habe", murmelt sie, während wir mit unseren Einkaufswagen, Kinder im Schlepptau, durch die Ladengänge zockeln.
"Wolfgang ist ... zuletzt noch schwul geworden ... ich erfuhr es nach seinem ... ich meine ... am Ende."
"O NEIN!!"
"Sein Geliebter hat ihm in der FAZ einen Nachruf gewidmet ... die Beerdigung und alles war sehr ... würdig."
"O Gott, dabei hat er so gesund ausgesehen", stottere ich.
"Ja, er ist bis zuletzt gesund gewesen!"

"Wie kannst Du das alles nur verkraften?"
"Ich sag dir, wenn ich die Hormone nicht genommen ... ich meine, wenn ich die Kleinen nicht hätte."
"Sie müssen ein großer Trost sein, drei so süße, wundervolle ... "
"O ja, sie sind mir ein richtiger Trost. Weißt du, ich bin hier, um ihnen ein paar Kinderüberraschungen zu kaufen, die mögen sie gern!"
"Ah, ja."

Wir schlendern nun durch den Supermarkt, vorbei an den mit Köstlichkeiten beladenen Regalen.
Da sehe ich: Veras Gang wird auf einmal merkwürdig schleppend. Sie ist kreidebleich. Schwankt.
"Mir ist so komisch", sagt sie und hält sich an einem Regal fest, das leider prompt mit seiner wunderbaren Schokoriegel-Fracht in sich zusammenstürzt.

"O je, mir wird schwarz vor Augen!", flüstert Vera
All die Symptome scheint sie zu entwickeln, die ich nur zu gut von meiner eigenen Person her kenne: Schwindel, Kreislaufkollaps. Urplötzlich ausbrechender Herzinfarkt? Oder Schlimmeres?
Vera taumelt: "Ach Gerti, kann ich mit in deine Wohnung kommen und mich eine Weile bei dir hinlegen?"
"Aber sicher."
Ich weiß ... so kann ich sie nicht nach Hause fahren lassen, sie wohnt gute fünfzehn Kilometer weit weg.

"Nimm uns mit zu dir", bittet sie.
"Natürlich. Klar!"
Ich kann mir vorstellen, wie sie sich fühlt. Sie braucht dringend Hilfe!
"Nur muss ich rasch noch Käse kaufen", sage ich, "deswegen bin ich ja hergekommen!"

Eilig haste ich zur Theke.
"Bedienen Sie mich schnell", rufe ich schon beim Hinrennen den Verkäuferinnen zu. Dies ist ein Notfall!"
Doch es klappt nicht. Immer geraten mir andere Kunden in die Quere. Die drängen sich brutal vor, kicken mich mit ihren Ellenbogen zur Seite.
"Hinten anstellen!", brüllen sie im Chor.

Da nehme ich mir den Käse halt selbst aus dem Regal. Doch kaum fasse ich die runden Laiber oder eingeschweißten Scheiben an, da zerbröseln sie in ihren Verpackungen. Das ist ja noch nie passiert. Was ist das für eine komische Ware?
"Dauert’s noch lang?", jammert Vera.
"Nein, nein!"
Nach mehreren nutzlosen Versuchen, einen intakten Käse zu finden, gebe ich auf und wende mich wieder Vera zu.
"Es ist nicht weit bis zu mir, wir schaffen das schon!", sage ich heiter.

Aber, o Gott, da fällt mir ein ... in meiner Wohnung sind ja die Handwerker! Sie reißen Fenster heraus und Decken herunter, klopfen Löcher in die Wände, sind noch mitten drin in der Arbeit. Bei mir sieht es aus wie auf einer Baustelle. Die ganze Einrichtung ist unter Mörtel und Schutt begraben, ausgenommen die wenigen Möbel, die ich zu ihrer Rettung mit Plastikplanen abgedeckt habe ...
Wie konnte ich das bloß vergessen?

"Hunger ... Hunger! Big Mac essen gehen", quängeln die kleinen Rangen.
Mir wird heiß und kalt. Wie soll ich mit ihnen fertig werden, wenn ich nicht einmal einen simplen Käsekauf auf die Reihe kriege.

"Mayday, Mayday", haucht Vera jetzt und taumelt mir bewusstlos in die Arme.
Hilfe ... dieser Sache bin ich nicht gewachsen.
Gottlob, Vera atmet noch! Verwirrt hieve ich sie oben auf eine der plexiglasbedeckten Tiefkühltruhen. Wo soll ich sie denn sonst hintun?
"Durch den Kälteschock wird sie sich schnell erholen, wenn sie aufwacht", murmele ich zur eigenen Beruhigung.
"Na, na ... Sie wissen doch, dass das nicht stimmt", meint ein Mann im weißen Manager-Kittel, der gerade vorbeirauscht.
Ich muss mir eingestehen: er hat Recht!

Die süßen Kleinen plärren. Ich stecke ihnen Gummibärchen in die brüllenden Mäulchen und in jede Hand ein Überraschungsei. Dann überlasse ich sie zerknirscht ihrem traurigen Schicksal. Halbwaisen mit ohnmächtiger Mutter! Und ich eine Versagerin, die hektisch den leeren, quietschenden Einkaufswagen vor sich herstossend, durch die Supermarktgänge zum Ausgang rast ...

"He, da läuft eine weg, die nicht bezahlt hat", schreit die Kassiererin. Jetzt erst sehe ich ... die drei quirligen Vera-Söhnchen haben anscheinend Süßigkeiten gerafft, als ich nicht hinsah. Hanuta und Haribo türmen sich schachtelweise in meinem Einkaufswagen.

"Ich bin unschuldig", versuche ich dem Hausdetektiv klar zu machen, der mich gerade festnimmt und am Handy nach der Polizei telefoniert, "ich bin nicht zum Klauen hergekommen ... wollte doch nur Käse kaufen."
"Sie können mir viel erzählen!", sagt er.



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Copyright Irmgard Schöndorf Welch 28.06. 2004


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.05.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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