Kapitel eins
Ich schlug die Augen auf. Ich hatte überlebt. Ein
kratzendes Geräusch hatte mich geweckt. Mich den Augen gen Sternenhimmel und
den Rücken im Gras blieb ich noch einige Minuten liegen. Dann wurde das
Geräusch lauter. Ich drehte den Kopf nach links. Ein Eichhörnchen raschelte im
Gras, ungefähr drei Meter von mir entfernt. Dann sprang es auf einen Baum und
war verschwunden. Ich richtete meinen Blick wieder nach oben. Mein Rücken
schmerzte. Ich sah zu dem Baum hinauf und schätze ab, wie tief ich ungefähr
gefallen war. Ich tastete nach meinem Ruckack und fand ihn an meinem Fußende,
dann richtete ich mich auf. Einige frisch geschnittene Grashalme blieben mir am
Rücken kleben. Ich klopfte sie ab und schulterte meinen Rucksack. Nachdem ich
mir noch eine kleine Weile meinen Abdruck im Gras besehen hatte, machte ich mich auf den Heimweg.
Als ich die lange Allee mit den sommergrünen Pappeln
entlang ging, die nun im Dunkel aschgrau dort standen, wiegten ihre Blätter
leicht im Frühlingswind. Ich ging etwas langsamer und genoss die frische
Nachtluft. Auf der Straße waren dunkelschwarze Reifenspuren zu sehen, die
geradewegs auf einen Baum zu führten, der ein wenig angeknackst dort stand und
das Feld hinter ihm im Schutz hielt.
Als ich vor de Haustür ankam schien noch Licht durch
das Wohnzimmerfenster. Ich konnte auf der Couch den schlaffen Körper meiner
Mutter ausmachen. Sie war wohl aufgeblieben.
Ich betrat das Haus, nachdem ich mir die Schuhe an
dem Abtreter abgeschleift hatte und legte meine Jacke ab. Ich betrat zuerst die
Küche und nahm mir einen Schluck Milch aus der Pappe und ließ sie offen auf dem
Küchentisch stehen. Meine Füße waren kalt auf dem gefließten Boden. Ich hob sie
an und entdeckte in beiden große Löcher. Dann zog ich sie aus und warf sie in
den Mülleinemer.
Ich ging durch den Flur in das Wohnzimmer. Der Boden
war mit weichem Teppich belegt und ich vergrub meine Zehen darin. Der Fernseher
lief, aber meine Mutter sah nicht hin. Ihr Kopf lag schief auf ihrer Schulter
und sie schnarchte. Ich holte eine Decke aus dem Schrank und legte sie ihr auf
den sich schwerfällig hebenden und senkenden Körper. Sie machte einen lauteren,
kurzen Schnarcher und verfiel danach wieder in ihren gewohnten Rhythmus. Ich
bekam Kopfschmerzen.
Die Treppe zu meinem Schlafzimmer knarzte, als ich
einen Fuß vor den anderen setzte. Ich ging weiter innen die Stufen entlang und
versucht, leichtfüßiger zu laufen. In meiem Zimmer war es stickig und ich riss
ein Fenster auf. Auf dem Schreibtisch hatte sie einen Teller mit belegten
Brötchen hinterlassen. Ich nahm eins und stieg aus dem Fenster auf das beteerte
Dach. In den Regenrinnen sammelte sich täglich mehr Moos und ich vermutete, sie
würden irgendwann kein Wasser mehr führen.
Über die Hälfte des kleinen Garagendaches hob ein
stattlicher Apfelbaum seine Äste, der jetzt gerade in der Blüte stand. Im
Sommer fielen die Äste immer auf das Dach, dass es nur so krachte. Sie rollten
dann immer in die Regenrinne, und ich brauchte sie nur dort herauslesen. Der
Baum eignete sich gut zum Klettern. Im Klettern hatte ich Übung, das hatte ich
schon mein ganzes Leben gemacht. Ich fiel selten von einem Baum. und wenn doch,
war es nie meine eigene Schuld gewesen.
Ich nahm einen abgebrochenen Zweig vom Dach auf und
schabte das Moos aus der Dachrinne. Ich ließ es im hohen Bogen über die Kante
des Daches springen und in unserem Garten landen. Ich tat das eine Weile, bis
das gröbste beseitigt war, dann warf ich dem Moos den Zweig hinterher und
setzte mich im Schneidersitz und lehnte mit dem Rücken an den Stamm, der an der
linken Seite des Daches die Hauswand berührte. Ich schob meine nackten Füße
über die raue Teerung und sah über unseren Garten hinweg. Er war recht klein
und grenzte direkt an das Nachbargrundstück, nur von einem alten und instabilen
Lattenzaun von dessen Garten getrennt. Der nachbarliche Garten war ähnlich dem
unseren angelegt: einige weitere Apfelbäume standen vereinzelt darin und am
Zaun entlang war ein Beet unterschiedlichster Blumen angelegt. Er war ebenfalls
nicht besonders groß und grenzte an der Seite des Hauses, die mir durch ihre
Fenster die nachbarliche Küche und, im zweiten Stock, das Schlafzimmer der
Nachbarstochter zeigte. Manchmal unterhielten wir uns über die Entfernung,
manchmal auch kam sie herüber und wir lagen mit dem Rücken auf dem Dach. An
diesem Abend war das Licht in ihrem Zimmer schon aus. Ich fragte mich still,
wie spät es sein mochte.
Ich wachte mit den ersten Sonnenstrahlen auf und
rieb mir betäubt die Augen, während der Morgen graute. Meine Füße waren kalt
und ein wenig zerkratzt vom Dachbelag. Die Nacht war recht warm gewesen, und
ich war irgendwann eingeschlafen. Auf den Blättern des Apfelbaumes perlte der
Tau. Ich gähnte ausgiebig. Meine Augen tränten. Ich besah mir noch eine Weile
die aufgehende Sonne, bis ich das Knurren in meinem Magen nicht mehr ignorieren
konnte und in mein Zimmer stieg, um mir eines der Brötchen von meinem
Schreibtisch zu nehmen, die nun nicht mehr so frisch und ein wenig pappig
schmeckten. Als ich das Brötchen aufgegessen hatte zog ich mir eine frische
Hose und frische Unterwäsche an. Ich ging ins Bad um mich zu waschen. Mit
freiem Oberkörper und einer Zahnbürste zwischen den Zähnen betrat ich erneut
das Dach. Die Gardinen ihres Fensters waren hochgezogen. Sie stand an ihrem
Fenster und winkte mir zu. Ich hob den Arm und nickte ihr zu. Sie bedeutete mit
ihren Fingern, das sie in fünf Minuten wiederkäme, wieder nickte ich, und sie
verschwand vom Fenster in Richtung Bad. Ich spukte Zahnpasta in unseren Garten
und spülte mir den Mund aus mit dem Becher, den ich in der linken Hand hielt.
Nachdem den Becher und die Zahnbürste wieder weggebracht und mir ein T-Shirt
übergeworfen hatte, stand sie auch schon wieder an ihrem Fenster und öffnete
es.
„Guten morgen! Hast du draußen geschlafen?“
„Ja. Ich bin spät nach hause gekommen... Ich war
spazieren.“ Ich rieb mir den Kopf und grinste sie an. Sie grinste vage zurück.
Als ich mich an den Frühstückstisch kam, sah mich
meine Mutter müde an, sie hatte tiefe Augenringe. Sie sagte nur „Guten Morgen.
Schön geschlafen?“ Weiter nichts. Ich goss mir ein Glas Milch ein und setzte
mich. Auch sie setzte sich, nachdem sie etwas Brot in den Toaster gesteckt und
ihn angeschalten hatte. Ihre langen, blonden Haare waren zerzaust. Sie hatte
sich wohl noch nicht die Mühe gemacht, sie zu kämmen. Ich zog das
Marmeladenglas an mich heran und nahm mit dem Messer eine Spitze davon heraus.
Sie sah mich vorwurfsvoll an, als ich das Messer ableckte. Ich achtete nicht
darauf und tunkte erneut das Messer hinein. Sie füllte sich eine Tasse mit
Kaffee und schlürfte leise, aber nicht überhörbar. Ich nahm noch eine
Messerspitze Marmelade. Sie sah mich finster an und räusperte sich. Als ich zur
nächsten ansetzte, setzte sie sich gerade hin und starrte mich direkt an. Der
Toaster klackte und der Toast sprang heraus.
„Wo warst du gestern Nacht?“ Sie hatte ein wenig
Kaffee verschüttet, als sie der Toaster erschreckt hatte.
„Andauernd bist du nachts unterwegs. Ich mache mir
Sorgen. Du könntest mir einen Zettel hinterlassen, wenn ich dich schon nicht
daran hindern kann einfach wegzugehen.“
„Mutter, ich bin siebzehn Jahre alt.“, sagte ich
ruhig. Sie funkelte mich entrüstest an, während sie mit einem Taschentuch den
verschütteten Kaffee aufzusaugen versuchte.
„Du bist siebzehn, das weiß auch ich. Aber ich würde
trotzdem gerne wissen, wo du dich aufhälst. Wenn dir etwas passiert und ich
dich nicht finden kann...“ Ich stand langsam auf, leerte mein Glas Milch und
wand mich um von ihr, auf dem Weg in Richtung Haustür.
„Wo willst du nun schon wieder hin? Melville!! So
rede doch mit mir! Ich bin deine Mutter“ Ich zog die Tür ins Schloss und ließ
sie dort verwirrt und laut rufend sitzen.
Die Sonne stand nun schon hell am Horizont. Au der
Straße trieben sich bereits kleine Jungen herum und spielten Fußball auf den
Gehwegen. Ich sah mich nach links und rechts um, und beschloss dann, den Weg
zur Cafeteria einzuschlagen.
An der Tür der Cafeteria hing ein Schild mit der
Aufschrift „Harry’s“, und darunter waren die Öffnungszeiten verzeichnet. Das
Cafe war schon sehr alt, und der Besitzer hatte es von seinem Vater geerbt.
Dennoch war es in gutem Zustand, man gab sich sichtlich Mühe es immer auf den
neuesten Stand zu bringen. Die Tische im innern waren nussbraun gestrichen und
sorgsam mit feinen Gravuren verziert, die offensichtlich Kaffee- und Eisbecher
darstellten. Die Tische standen an den Fensterwänden und waren von
lederbezogenen Sitzbänken umschlossen, ähnlich den alten amerikanischen Filmen.
An der Theke stand ein junger Mann Mitte zwanzig und unterhielt sich gerade mit
einem Stammkunden. Auch ich kam öfter hierher. Als er mich sah, grüßte er mich
über sein Gespräch hinweg. Er hieß Sasha und war ein schlaksiger,
schwarzhaariger Kerl mit zwei kleinen Grübchen in den Wangen, die ihn wie eine
Comicfigur aussehen ließen, wenn er lachte.
„Darf’s was sein?“, fragte Sasha, nachdem er das
Gespräch beendet hatte und zu mir an den Tisch gekommen war. „Oder bist du nur
zum Reden hier?“
„Ich wollte nur mal hallo sagen... War schon jemand
hier?“ Er schwang seinen schmalen Körper auf die Bank mir gegenüber und stützte
mit dem Ellbogen seinen Kopf.
„Vorhin kam Helene hier vorbei und hat sich einen
Kaffe mitgenommen. Sie sagte sie hätte noch zu tun... Irgendwas von wegen
Bücherei.“ Er kratzte sich beiläufig am Arm und sah aus dem Fenster, als hätte
er Helene gerade erst zur Tür hinausgehen sehen.
„Sie nimmt dort einem Job an.“, sagte ich. „Ich habe
heute morgen schon mit ihr gesprochen, vor dem Frühstück. Sie wollte in den
Ferien dort arbeiten... Sagte etwas von einer großen Anschaffung, die sie sich
leisten wolle, hat aber nichts genaues verraten. Sonst jemand hier gewesen?“
Sasha schüttelt den Kopf. „Eine große Anschaffung?“ Er legte die Stirn in
Falten und erinnerte damit stark an Dagobert Duck. „Vielleicht holt sie sich
endlich mal ein Auto, dann müsste sie sich nicht immer meins leihen. Ich frage
mich manchmal, warum ich überhaupt ein Auto habe, wo sie es doch die ganze Zeit
fährt.“ Ich blickte verträumt aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite
verfiel ein Mann gerade in einem wilden Streit mit einer Polizisten, die ihm
einen Strafzettel wegen Falschparkens unter den Scheibenwischer geschoben
hatte.
„Sie wird sicher noch einmal hier vorbeikommen,
heute abend, denke ich.“ Sasha erhob sich von seinem Platz. „Ich muss jetzt
auch weiter machen. Du kannst sie ja mal besuchen gehen, ein Job in der
Bibliothek wird sicher nicht der spannendste sein. Sie wird sich über Besuch
freuen.“ Er langte in seine hintere Hosentasche und hielt mir ein Portemonnaie
entgegen. „Das kannst du ihr gleich zurück geben. Sie hat es vorhin hier liegen
lassen.“ Er klopfte mir auf die Schulter und ging wieder in Richtung Thresen.
Die Gräser wehten umher und kitzelten mein Gesicht.
Ich hielt die Augen diesmal ein wenig länger geschlossen, um den schwachen Wind
zu genießen und die Spannung der Frage, wo ich wohl sei. Ich strich mit der
Hand über das nasse Gras. Ich wachte meistens auf großen Wiesen auf. Nicht weit
von mir entfernt hörte ich Wasser rauschen. Ich musste beinahe direkt neben
einem kleinen Bach liegen.
Ich versuchte mich daran zurück zu erinnern, was ich
getan hatte, bevor ich hier landete. Ich erinnerte mich an das Gespräch mit
Sasha, und dass ich danach in die Bibliothek gegangen war, um Helene ihr Portemonnaie
vorbeizubringen. Sie war gerade nicht da gewesen, hatte die Aufischt gesagt,
sie wäre fort, um Bücher aus dem anderen Lager zu holen. Ich erinnerte mich,
ein Buch gelesen zu haben, während ich auf sie wartete. An alles danach konnte
ich mich nicht mehr erinnern. Das letzte, was ich mir vor Augen führen konnte,
war das eines Tierkopfes, der auf einer der Buchseiten abgedruckt war. Es war
der Totenschädel eines Koyoten oder einer anderen Art von Hund, und das ist
immer das letzte, was ich irgendwo sehe, bevor ich mich auf einer großen Wiese
oder einem Feld wieder finde, mit dem Rücken auf dem Boden liegend.
Ich öffnete die Augen und sah mich um. Tatsächlich
war ein kleiner Bach kaum fünf Meter von mir entfernt, und als ich mich
aufrichtete sah ich, dass ich auf einer weiten Wiese ein wenig außerhalb der
Stadt lag, auf der meistens Schafe zum Weiden geführt wurden. Der Bach schied
die Weide von einer löchrigen Landstraße. Als ich zu meinen Füßen hinunter sah,
merkte ich, dass meine Hosenbeine nass waren. Ich krempelte sie hoch und ging
in einer etwas kälteren Nacht als der vorigen erneut meinen Weg nach hause.
Ich betrat den Flur und hinterließ größere
Ansammlungen von Wassertropfen auf dem Fußboden. Ich patschte die Treppe zu
meinem Zimmer hinauf und legte meine Sachen ab, um mich nackt auf das Bett
fallen zu lassen. Ich sah zu Boden und bemerkte, dass Helenes Portemonnaei aus
meiner Hosentasche gefallen war. Ich würde es ihr morgen geben.
Der Morgen brach an und ich hatte kein Augen
zugetan. Ich starrte die Uhr an, bis ich dachte, dass Helene nun wohl wach und
angezogen sein müsste, dann schlüpfte ich schnell in meine Sachen und lief aus
dem Haus zu ihr herüber. Ich klopfte laut an die weiße, schöne Pinienholztür
ihres Hauses und hörte sie bald darauf die Treppe hinunter eilen. Sie riss die
Tür auf und sah mich fragend an.
„Melville, wo warst du gestern gewesen? Sasha
meinte, du wolltest mich besuchen kommen, doch als ich in die Bibliothek zurück
kam, warst du nicht mehr da.“ Ich streckte ihr wortlos ihren Geldbeutel
entgegen und ging zur Tür herein.
„Helene.“ Sie sah mich besorgt an. „Helene, ich bin
gestern zum ersten Mal nachmittags eingeschlafen. Ich kann mich nicht mehr
daran erinnern, was ich getan habe, nachdem ich auf dich warten wollte.“ Ich
wischte mir Schweiß von der Stirn und setzte mich auf einem Stuhl in der Stube,
die direkt an den Eingangsbereich grenzte.
„Ich weiß nicht, wo ich gewesen bin. Ich bin auf der
Weidewiese wieder aufgewacht. Es war genauso wie sonst, nur bin ich gestern
nicht erst nachts weggedöst.“ Sie sah mich ratlos an.
„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Du kennst
meine Meinung.“ Ja, die kannte ich. Ich sollte einen Arzt aufsuchen, ich hätte
Narkolepsie und sollte mich endlich behandeln lassen.
„Du weißt, dass ich das nicht machen werde.“, sagte
ich entschieden. Ihr Blick nahm nun wieder eine sorgenvolle Gestalt an. „Ich
werde nicht zu einem Arzt gehen und ich bin auch nicht krank. Das hat nichts
damit zu tun, das ist keine Krankheit.“ Sie verstand es nicht. Sie erlebte das
ales nicht selbst, sie erlebte es nur durch mich.
„Ich werde wieder gehen.“, sagte ich. „Ich wollte
dir nur bescheid sagen. Ich muss noch meiner Mutter helfen. Sie muss
Überstunden machen und kommt mit dem Haushalt nicht hinterher, du weißt schon.“
Das war eine glatte Lüge. Ich hatte mir nur nicht wieder ihre Predigt anhören
wollen. Ich wandte mich zur Tür.
„Melville, ich wollte nicht...“ „Ist schon gut“,
unterbrach ich sie. „Ich muss nur weg... Wir sehen uns später.“ Ich schloss die
Tür hinter mir und lief zügig in die Stadt.