Germaine Adelt

Filmriß

   Ein Blick in den Spiegel verriet ihm, dass die Nacht für ihn sehr kurz gewesen war. Wenngleich er den Spiegel nicht kannte. Die rasenden Kopfschmerzen erschwerten sein Denken. Ja, er hatte sogar das Gefühl, dass dies noch zusätzlichen Schmerz verursachte. Sein Kreislauf verließ ihn und er setzte sich stöhnend auf den Badewannenrand, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Verwirrt tastete er nach, ob er wirklich auf einem Rand saß. Denn in seinem Bad befand sich nur eine Dusche.

   Mühselig erhob er sich und sah noch einmal in den Spiegel, in der Hoffnung, dass dort eine Antwort stand oder zumindest eine Erinnerung zurückkam. Er kannte dieses Gesicht. Es war seines, es war wohl kein Albtraum. Zwar sah er richtig schlecht aus, mit tiefen Augenrändern und verdorrten Lippen, aber es waren keine Verletzungen zu sehen. Ein Unfall oder eine Schlägerei entfiel, somit auch ein Krankenhausaufenthalt. Er fragte sich, wie er in das Bad gekommen war. Dann entdeckte er ein Kopfkissen in der Badewanne, was vieles erklärte.

   Er hatte noch seine Klamotten an und empfand dies auch als normale Kleidung, wenn er auch nicht annähernd wusste, was er gestern angehabt hatte. Gestern war ein gutes Stichwort. Er hatte keine Ahnung was für ein Wochentag war, ja für den Moment konnte er nicht einmal das Jahr benennen.

 

   Plötzlich ging die Tür auf und eine hübsche Brünette kam herein. Ungeniert setzte sie sich auf die Toilette um Wasser zu lassen. Dezent wandte er sich ab.

   Doch sie lachte nur: „Genierst du dich etwa?“

   „Kennen wir uns?“, fragte er erstaunt.

   Lächelnd hob sie ihre rechte Hand und deutete auf einen Ring. „Wir sind verheiratet, schon vergessen?“

   Diesmal verließ ihn sein Kreislauf endgültig. Als er wieder zu sich kam, fächelte ihm die Brünette besorgt frische Luft zu. Neben ihr eine, ebenfalls sehr hübsche, Blondine.

   „Geht’s wieder?“, fragte die Brünette. „War wohl doch zuviel Tequila?“

   „Wo bin ich?“, flüsterte er.

   „Männer!“, stöhnte die Blonde. „Lass mich raten, du kannst dich an nichts erinnern!“

   „Irgendwie schon ...“

   „Na gut, fangen wir von vorn an. Ich bin Nicole und das ist Vanessa.“

   „Und Vanessa ist meine Frau ...“

   „Na siehst du, geht doch.“

   „Soll ich dir einen Kaffee machen?“, fragte Vanessa leise.

   „Wäre nett ... aber noch besser wäre ...“

   „Hier!“, sie hielt ihm ein Foto hin auf dem ein Hochzeitspaar abgebildet war. „Vielleicht hilft dir das auf die Sprünge.“

   Er erhob sich langsam und betrachtete das Bild. Vanessa und er gaben ein hübsches Paar ab. Sie die glückliche Braut mit Schleier und Blumen im Haar. Er der stolze Bräutigam in Anzug und Fliege. Und langsam kam die Erinnerung wieder. Er hatte gelangweilt in einem Café gesessen, als die beiden ihn ansprachen, ob er Zeit und Lust hätte, eine verrückte Idee umzusetzen.

   „Kann ich einen Abzug davon haben?“, bat er.

   „Natürlich“, erklärte Nicole. „Wenn du willst mache ich eine ganze Fotosession mit dir. Immerhin schulden wir dir etwas.“

   Vage erinnerte er sich an das Fotostudio im Keller des Hauses und an die Fotos, die sie gemacht hatten, und an den Spaß, den alle drei dabei gehabt hatten. Lange war er nicht mehr so ausgelassen und albern gewesen wie am gestrigen Tag.

   Der Kaffee war fertig und Vanessa stellte eine Tasse vor ihm ab. Für einen Moment fragte er sich, ob das eine gute Idee war, da sein Magen rebellierte. Aber einen Versuch war es wert.

   „Es war für den Erbonkel, oder?“

   „Nicht ganz“, erklärte sie. „Mein Großvater, der von einer kleinen Rente lebt. Und der einzige Verwandte, den ich noch habe. Ein ganz lieber Kerl, der aber niemals verstehen würde, dass seine kleine Vanessa mit einer Frau zusammen ist.“

   „Verstehe. Was aber, wenn er mich mal sehen will?“

   „Ach, das kriege ich schon hin. Er wohnt weit unten im Süden, und außerdem hast du als Pilot ja auch nicht immer die Zeit.“

   „Pilot? Wenn du meinst.“

   „Ich finde es nach wie vor albern“, beharrte Nicole. „Aber Vanessa hatte es sich so sehr gewünscht und ein Spaß war es allemal.“

   „Kann man so sagen“, stöhnte er leise.

   „Wenn du mal Lust auf Gesellschaft hast oder auf Tequila oder auf beides, jederzeit!“, verkündete Nicole.

   „Einfach so?“, fragte er. „Nur weil ich den Spaß mitgemacht habe?“

   „Einfach so!“, sagte Vanessa und hauchte ihm einen Kuss auf seine Lippen. Und für einen Moment bereute er fast, dass er nicht wirklich verheiratet war.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.05.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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