Irmgard Schöndorf Welch

Geschichten aus der Nacht 10 .... MYRA

*










MYRA - ETWAS GESCHAH.

( Fiction)


Etwas ist geschehen. Alles ist anders, als es heute Morgen noch war. Und so hatte der Tag begonnen: Die Fahrt übers Land. Der grelle Sonnenball am Himmel. Das Licht Afrikas

Sie erinnert sich jetzt wieder an die letzten Minuten, bevor ...

Sie sitzt oben auf dem Dach des dahinrollenden Zuges. Ihr Name ist Myra. Ihre Haut ist von dunklem Braun. Das schwarze Haar hat sie mit vielen Bändchen zu hundert hübschen Zöpfchen geflochten. Sie trägt einen langen Rock aus Baumwolle, das Muster mit den leuchtendsten Farben der Welt. Rot wie Korallen ist ihre kurze Bluse. Der Rock, der erst auf der Hüfte beginnt, lässt ihre schlanke Mitte, lässt ein Stück ihres glatten, runden Bauches sehen. Stolz blickt sie an sich hinunter: An den Füßen trägt sie keine Schuhe – die sind in der großen Tasche – und sie hat Kettchen aus Glasperlen und goldene Mini-Glöckchen um ihre dünnen Fesseln gebunden.

Sie sitzt also auf dem Dach des Eisenbahnwagons zusammen mit anderen Leuten. Auch ihre vier Kinder hat sie bei sich, jedes zierlich und von dunkelbrauner Farbe, so wie sie. Die Kleinen sind zwischen drei und neun Jahre alt, alles Knaben.
So fahren sie, eng aneinander gelehnt, zum Markt. Es ist normal für sie, auf diese Art zu reisen. Sie sind vergnügt und singen. Andere Frauen und Kinder stimmen ein.

Der Zug rollt durch gelbe Steppe, später durch üppiges Grasland. Wie eine Fata Morgana glitzert in der Ferne noch lange der schneebedeckte Gipfel ihres heimatlichen Berges. Es ist schön und angenehm, den Fahrtwind zu spüren. Von hoch oben auf dem Dach sehen sie, wie die weite Ebene unter ihnen vorbeizieht.

Da drängt sich plötzlich ein sonderbares Etwas seitlich vom Horizont heran. Etwas Fliegendes, viel größer als ein Adler in der Luft. Nein, ein Flugzeug ist es nicht. Die Frau neben Myra weist schreiend zum Himmel.

Man hat so ein ähnliches Ding schon früher gesehen. In die Wellblechhütte des Dorfältesten hatten weiße Helfer eines Tages einen Tiwi-Apparat geschleppt - den ersten in ihrer Siedlung- , denn etwas Großartiges sollte gezeigt werden, etwas, das hier niemand für möglich hielt. Die A-me-ri-kens würden zum Planeten Mars aufbrechen, der da oben unendlich weit weg am Himmel stand.

Einheimische Männer, Mütter, Kinder, alle waren zu der Hütte gelaufen und warteten gespannt, was da kommen sollte. Und dann sahen sie wie dieses Ding – ‚rocket‘ wurde es genannt - vom jenseitigen Halbrund der Erde zu seiner großen Reise ins Universum startete.

Verwundert starrten alle auf tiwi. Und ‚the rocket‘ erhob sich in einem Schwall aus Feuer von jener anderen Hälfte der Erde, dem fernen Land, wovon man nur leise und mit Furcht zu sprechen wagte: JU-ÄS-Ä. In Flammen und Rauch fuhr das seltsame Gebilde auf zum Himmel, wurde kleiner und kleiner. Dann unsichtbar.

Der alte Mann, der Dorfvorsteher, sagte: „Menschen sitzen darin!“
Da lachten Myras schlaue Söhnchen. Sie lachten und hatten Grübchen in den Wangen: „Den Quatsch glaubt doch keiner!“
Die Erwachsenen lachten ebenfalls, dass in ihren amüsierten Gesichtern die Zähne weiß blitzten.

Der Dorfvorsteher streichelte einem Jungen über den Kopf und antwortete, er glaube es auch nicht so recht. Aber bei den A-me-ri-kens wisse man ja nie ... nicht bei DENEN.

*

Doch so ein Ding - oder ein ähnliches – natürlich kleiner - kommt jetzt plötzlich auf Myra und ihre Freunde zu. Fegt über den Horizont ... fremd. Merkwürdig. Weil es ja diesmal WIRKLICH ist und nicht an tiwi, sondern direkt über den Himmel hinweg rast. Und es ist schnell. Myra sieht mit Staunen das Silberglitzern und die funkelnde Pracht seiner Metallhaut, wie sie grell aufgleist unter den Strahlen der Morgensonne. Ein lustiges, kleines Flämmchen züngelt orangerot an seiner rechten Flanke.

Zuerst schießt das Ding waagerecht über den Himmel, durchs tiefe Blau. Stoppt dann in der Luft. Taumelt auf einmal. Kommt wie ein angeschossener Vogel herunter. Rast auf sie zu. Bei Allah, die eine Hälfte der rocket brennt jetzt ... BRENNT.

Sie stürzt herab wie eine riesenhafte Spindel, aus der das Feuer schlägt. Dreht noch einmal eine Kurve. Die Leute schreien, doch dann ... Aufatmen. Das Monstrum zischt knapp über den Eisenbahnwagon hinweg. Jagt davon.

Doch es steuert genau in die Richtung, auf die auch der Zug mit großer Geschwindigkeit zurast. Die ganze Steppe da vor ihnen ist plötzlich ein Flammenmeer. Eine einzige turmhohe Mauer aus Feuer. Die Menschen brüllen. Blitzschnell fasst Myra ihre beiden jüngsten Söhne, die ihr am nächsten sitzen, und springt mit ihnen von hoch oben, vom Dach, herunter. Ihnen geschieht nichts. Das fühlt sie noch. Dann ein Donnerschlag ... und vor ihr vergeht die Welt.

*

Als sie zu sich kommt, liegt sie auf etwas Weichem am Boden. Einer ihrer kleinen Söhne, Kasim, weint sehr. Der andere, Ali, ist still. Er rührt sich nicht. Jemand zieht ein Tuch über sein Gesicht.
"Damit ihn die Sonne nicht blendet", denkt Myra.

"Bitte, Gott, wirke ein Wunder." Sie betet, dass auch ihre beiden älteren Söhne rechtzeitig gesprungen sind und leben.
Das zweitjüngste Söhnchen weint sehr.
"Kasim, mein Lieber, ich bin ja bei dir", sagt die Frau. Aber er hört sie vielleicht nicht. Er sieht sie an und schließt die Augen. Sie denkt: "Ich muss in Zukunft ganz sanft mit meinen Kindern umgehen, damit sie diesen furchtbaren Tag bald wieder vergessen."

Ihr hält man einen Becher mit schwarzem Kaffee an den Mund. Ihre Lippen sind so merkwürdig ... scheinen ihr größer als ihr Gesicht ... sind wie Ballone, die gleich davonfliegen.

Der Nes-Café schmeckt schlecht, so, als sei das Pulver modrig. Sie spürt, dass auch von ihr ein schlechter Geruch ausgeht. Überhaupt hängt hier überall ein seltsames, undefinierbares Aroma in der Luft.
Und Kasim, das Söhnchen, hat rote Blasen auf seiner Haut, aus denen es hell wie rosa Wasser quillt.

Sie sieht an ihrem nackten Bauch und an den Armen, dass auch ihr Fleisch aufgesprungen ist und roh wie das Innere einer reifen Melone. ‚Ich bin also doch verletzt!‘, denkt sie, „aber es ist bestimmt nicht so schlimm!‘

Bei dem nuklearen Zwischenfall habe es dreitausend Opfer gegeben und nur vierzig Überlebende“, verkünden Nachrichtensender in aller Welt. Die junge Afrikanerin, weit von allen Nachrichtensendern entfernt, auf einem Notbett, hört Krankenschwestern flüstern, aber sie versteht kein Wort ...

"Die werden uns bald Ärzte schicken", denkt Myra, "dann wird alles gut." Und: "Ich werde Kasim und Ali Tag und Nacht pflegen, bis sie wieder ganz gesund sind ... Die beiden Älteren werde ich auch finden. Sie sind mutig und bestimmt noch rechtzeitig vom Dach des Zuges abgesprungen. Ganz sicher sind auch sie gerettet.

Dann werden wir alle fünf miteinander heimfahren. In unser Dorf. Zu meinem Mann. Und zu Vater und Mutter ...
Aber jetzt werde ich erst einmal schlafen. Ich bin sehr müde."

Einige Stunden später zieht eine Rote-Kreuz-Helferin mit Tränen in den Augen das Laken über Myras Gesicht.


*




Copyright Irmgard Schöndorf Welch, August 2002
bearbeitet 04.06.2005

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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