Anna Sieselbst

norah - kino in new York

 

Man nannte sie Norah.

 

Viele Leute, die öfter ins Kino gingen, begrüßten sie bei ihrem Vornamen, wenn sie, sich vorsichtig zwischen den Reihen voranschiebend, die Billets kontrollierte, mit einer kleinen Zange Löcher hineinstanzte.

 

Sie gab dem Naschzeugverkäufer, der geduldig am Eingang wartete, einen Wink, wartete, bis er fertig war, dann sagte sie dem Filmvorführer Bescheid.

 

Sobald der Hauptfilm begann, legte sich knisternde Stille über die Köpfe.

 

Norah lehnte sich an die Wand, ganz hinten, dort, wo der Saal fast endet und in die Wirklichkeit führt. Der Direktor hatte angeordnet, dass die Verantwortlichen immer im Saal bleiben mussten, immer, solange Besucher darinnen waren.

 

Das Kino war neu, die goldenen Armlehnen funkelten, der rote Samt glänzte immer wieder auf.

 

Sie schloss die Augen, den Film kannte sie, nachdem sie ihn dreimal gesehen hatte, hatte sie aufgehört auf die Leinwand zu sehen, nun stand sie dort, mit geschlossenen Augen, und lauschte. An dieser Stelle lachte das Publikum auf, sie seufzte.

 

Es war immer das selbe. Früher hatte sie sich keinen schöneren Beruf vorstellen können, als täglich in einem großen, prachtvollen Kinosaal mit vielen prachtvollen Menschen zu arbeiten.

 

Jetzt war sie müde. Sollte sie ewig als Saalwärterin arbeiten? Ewig sich durch Sitzreihen schieben, kleine Löcher in Billets stanzen, an der Wand lehnen und einem Film lauschen, den sie doch schon auswendig kannte?

 

Mit ihren schwarzen Schuhen, die fast ein wenig zu hoch für ihre Füße waren, zog sie Kreise über den Teppichboden, der prachtvoll wie alles schimmerte. Ein kleiner, schwarzer Fleck hatte sich eingeschlichen.

 

Der Eingang, unter dem das ehemalige Gesicht des Hauses hervorblinzelte, war neu gestrichen worden, ein roter Vorhang raschelte vornehm, wenn man ihn berührte, von goldenen Kordeln zurückgehalten.

 

Sie seufzte noch einmal. Wenn man genau hinsah, bröckelte es überall, die Wände, gestützt von neuem Anstrich, versteckt unter Seidentapeten, die Sessel, mit neuen Stoff überzogen, mit goldener Farbe verziert, nichts war so wie es schien.

 

Nichts ist so wie es scheint, dachte sie, ich hör auf. Ich hör auf.

 

Sie verließ den Saal, hinauf in das gleißende Licht, hinauf in das Büro des Direktors.

 

„Was wollen Sie? Wieso sind Sie nicht unten?“

 

Sie sah auf ihre Schuhe. Jetzt!

 

„Wieso sind Sie nicht unten? – Ist etwas passiert?“

 

Sie schüttelte stumm den Kopf. Ich hör auf, dröhnte es in ihr.

 

„Sagen Sie doch etwas!“

 

Hör auf, hör auf.

 

„Norah? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

 

„Es... es ist schon gut.“, sagte sie, machte kehrt, stapfte zurück in das Dunkel des Kinosaals.

 

Schwer atmend lehnte sie sich wieder an die Wand.

 

„Norah? Sind Sie sicher, das alles in Ordnung ist?“, der Direktor schob sich in das knarzende Kino.

 

Sie schüttelte den Kopf . „Nein.“

 

„Sprechen Sie leiser, um Gottes Willen“, raunte der Direktor, „wo ist ihr Problem? Sagen Sie doch.“

 

Sie öffnete die Augen, starrte ihn an und ihm war, als sähe sie ihn gar nicht.

 

„Dort“, sagte sie und wies auf den Boden,

 

„dort ist ein Fleck im Teppich.“

 

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