Irmgard Schöndorf Welch

MINOU 3. Buch: ERFAHRUNGEN ( Roman )

 

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Minou 3. Buch:

ERFAHRUNGEN


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Das ist die Fortsetzung von DER SIZILIANER

 

Hier führe ich die Kapitel des Romans im Vorhinein auf – damit Du, lieber Leser, es leichter hast, Dich durchzufinden:

 

01 Luxusliner
02 IL Gattopardo
03 Eine Garconniere in Athen
.... Akropolis
.... Minou findet Alkoholisches
.... Treffen mit Christina
04 Piräus und zwei neue Männer
.... Die blaue Witwe von Ägina
.... Elena taucht auf
.... Jerrys Liebesangebot
05 Ozean und Mondschein
06 Elenas Abreise ( Ägina )
07 Hydra. Und wieder Tom und Jerry ( Mai 1960 )
08 Flucht?
09 Sturm
10 Wiedersehen auf Paros
...
11 Ein Picknick wie kein anderes
12 Und dann?
13 Wer Tomas Mathoggi wirklich ist
14 Das Desaster
15 Danach. Mathoggis Angebot
16 Rückblende Marienstock 1950. Minou ist grün
17 Ein Abendessen und große Verwirrung
18 Sofia ist eine schlaue Jungfrau
19 Mary und Edith sind auch da
20 Jerry Love
21 Der Amerikaner
22 Im Sternschnuppenregen  soll man sich nie etwas wünschen


 

Was vorherging:

Oktober 1959. Minou, mit Vater, Geschwistern und der Stiefmutter Lisa in einem kleinen Ort in Deutschland aufgewachsen, ist 20 Jahre alt. Nach einem denkwürdigen, in Sizilien verbrachten Urlaub, der ihr Leben änderte, einer 'verhängnisvollen' Affäre mit dem Conte Ernando Sascala und der geplatzten Hochzeit mit Nikos Sakatis, einem griechischen Geschäftsmann, ist sie jetzt - von ‚ihren‘ Männern verlassen - auf dem Weg nach Athen.



01
LUXUSLINER


Der Oceanliner kommt aus New York. Den Namen weiß Minou später nicht mehr. Wohl weil sie so wenig mit dem Herzen bei der Sache ist. Im Nachhinein: es mochte die ‚Queen Mary‘ gewesen sein. Oder die ‚Queen Elisabeth‘. Eines dieser strahlend weißen Riesenschiffe, Stolz der englischen Cunard Line, damals die luxuriösesten Königinnen der Meere.
Internationales Flair an Bord, Gewimmel von Gesichtern, Sprachen, Mentalitäten, Hauch von weiter Welt. Die Eleganz der Passagiere! Man hat für Minou großzügig die erste Klasse gebucht. In vornehmer Runde wird sie die Mahlzeiten einnehmen.
Solch eine Reise ist immer so ein Traum von ihr gewesen. Und sie kann sie nicht genießen, jetzt ... Spürt zwar, dass das alles hier hochinteressant ist. Sie nimmt die Umgebung wahr, die glanzvolle Atmosphäre, doch es berührt sie nicht wirklich, bleibt ihr sonderbar fern. Und dann auch wieder nicht. Sie vibriert bis in jede Faser vor Aufregung. Oder soll sie sagen: Unwohlsein. Nervosität.
Ihre trauervollen Gedanken, ihre Abkapselung! Sie streift nicht erlebnishungrig herum, meidet die mit Passagieren überfüllten Bars und Lounges, geht auf den Außendecks spazieren, obschon es kalt ist. Die meisten Reisenden bleiben im Schiffsinneren, wo man bequem von Liegestühlen aus durch Glaswände auf das wild bewegte Meer sieht und sich nebenbei Drinks oder Tee servieren lässt. Es regnet. Grau ist die Wasserwüste draußen. Grau der Horizont.
Das Schiff ist jetzt eine Stunde unterwegs.
Minou macht sich mit innerem Beben in ihrer Kabine für die Mittagsmahlzeit zurecht ... sie legt großen Wert darauf, gut auszusehen, das ist ihr, wie immer, wichtig. Ganz so 'down' ist sie bald nicht mehr, ein bisschen neugierig schon, trotz allem. und : Los, gibt sie sich einen inneren Ruck, auf geht's!

Der Speisesaal ist plüschig, behaglich rötlich in gedämpftem Licht. Es ist, als strahle ein warmer Schimmer aus dem samtigen bordeaufarbenen Veloursboden heraus und fülle den ganzen Raum. Das gibt Minou kurzfristig ein Gefühl von ... Behütetsein. Der Teppichbelag ist so üppig, dass sie bei jedem Schritt in Watteweichheit einsinkt. Gedämpft nur klingt das Stimmengemurmel der Speisenden. Die Atmosphäre, die Intimität des dezent beleuchteten Saales beruhigt ihre Nerven.
Ein Stuart nimmt sie, als sie am Eingang erscheint, gleich unter seine Fittiche, führt sie zu einem gedeckten Vierertisch, an dem bereits eine junge Orientalin ( Araberin? ) und zwei schwarzhaarige, sehr hellhäutige Männer von zirka vierzig und fünfzig Jahren sitzen. Wie sie später erfährt, reist jeder von den Dreien allein. Es sieht aber aus, als gehörten sie zusammen, denn sie sind in eine lebhafte Konversation verstrickt, als Minou zum Tisch kommt. Die beiden Männer erheben sich höflich, stellen sich vor:
"Ali al Farrah."
"Benjamin Gold"
"Hermine Kern", antwortet sie.
Die schwarze Frau sagt nur: "Ismalda." Lächelt. Haar glatt, hochglanzschwarz, zurückgekämmt, eng am Kopf anliegend und edle – abessinische? – Züge. Nichts vom Kleiderprunk, den die meisten – weißen - Ladies zur Schau tragen. An dieser Frau hier ist kein Accessoire zuviel. – Einfach geschnittenes, dunkles Kleid. Sie hat die zartesten Handgelenke ... die längsten, schlanksten Finger der Welt ... Sie ist schön. Und hochmütig - denkt Minou.

Der Tisch ist mit glänzendem Damast und feinem Porzellan gedeckt. Minou berührt vorsichtig Orchideen in einer dünnen Kristallvase. Sie sind tatsächlich echt, sie sind lebendig.

Die drei Leute redeten eben noch in einer ihr unbekannten Sprache miteinander. Jetzt schalten sie gleich auf Englisch um. Sie sehen so aus, wie sie sind: fremd. Menschen aus einer Minou sehr fernen Welt. Das Schiff wird vom Piräus weiterfahren nach Osten: Iraklion, Beirut, Haifa ...
Ihre Tischgenossen wollen die üblichen Dinge von Minou wissen: woher sie kommt, wohin sie geht. Fragen, die sie überfordern. Alles überfordert sie. Würde sie die Wahrheit sagen, würden diese Leute sie verachten. Wahrscheinlich. Im Inneren ist sie schon wieder unerträglich erregt. Zerfahren. Keinen Bissen bekommt sie hinunter. Weil ihr ziemlich elend ist. Irgendwie lauert wieder diese dunkle Angst im Hintergrund ihres Hirns wie Wetterleuchten.
Da passiert es. Aus heiterem Himmel. Minou hat sich eben eigentlich halbwegs ‚normal‘ gefühlt. Und plötzlich ... Nicht, dass sie seekrank wäre. Es ist weder Magenübelkeit, noch Brechreiz. Es ist nur ... sie ist auf komische Art schwindlig. Sehr schwindlig. Gar nicht mehr fest auf den Beinen. Auf der Kippe im wahren Sinn des Wortes.
Jeden Augenblick muss jetzt der große Kollaps kommen. Gleich. Und was dann ... ? Sie ist mutterseelenallein in einer unbekannten Welt.


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Beim Essen wird das besser, redet sie sich Mut zu.
Aber nein ... es stimmt nicht. Das GEFÜHL - sie kennt es längst - überfällt sie jetzt. Manchmal verliert es sich, bevor es sie mit all seiner Wucht trifft. Man muss es ignorieren, ignorieren. Heute steigert es sich jedoch. Eine Attacke. Lebensbedrohend lauert schon die Panik. Minou schwankt. Spürt, wie die Kraft sie verlässt, fühlt sich verloren, dem Nichts ausgeliefert, das gleich über sie hereinbrechen wird ... vielleicht gar ... der Tod. Denn ihr Herz ist dabei, zu versagen ... Bebend und von Übelkeit gebeutelt, nimmt sie das wahr. Gleich wird sie ohnmächtig zusammenbrechen.

Da bleibt nur noch Flucht! Schnell raus hier, bevor es zu spät ist! Als ob es anderswo besser wäre! Aber etwas muss sie ja tun!

Minou, im Mittelpunkt freundlicher Aufmerksamkeit ihrer Tischgenossen, stammelt mühsam ein paar Worte der Konversation ... und rennt davon. Rennt ins Nichts. Verwirrt, aber keineswegs ganz kopflos. Sucht einen Waschraum. Lässt kaltes Wasser über die Handgelenke fließen. Damit sich der aufmuckende Kreislauf vielleicht stabilisiert. Nein, das ist nutzlos. Jetzt droht die Ohnmacht ... konkret. Der mögliche Tod. Sie schafft sich angsttaumelnd, schweißnass über Treppen und unendlich lang erscheinende Korridore in ihre Kabine.

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Am Abend geht sie wieder in den Speisesaal. Man darf nicht aufgeben. Und vor allem hat sie großen Hunger, jetzt. Tut so, als ob nichts gewesen wäre. Das sonderbare, ihr so sehr bekannte - und sie doch jedesmal wieder wie am ersten Tag überrumpelnde - Unwohlsein ist ja vorbei.

Kaum am Tisch, fragen die anderen besorgt, was sie denn am Mittag so plötzlich ...
Da ... die Angst, die sie gerade überwunden zu haben glaubt, springt sie von neuem an. Nur, weil die Leute sich nach ihrem Befinden erkundigen?!

Schon bei der Vorspeise ist sie nah daran, vom Stuhl zu kippen. Dann kann sie sich nicht mehr halten ... Nein, es geht nicht. Sie macht sich wieder davon, gerade aufrecht genug, um kein öffentliches Spektakel zu bieten.
Also: kein Speisesaalbesuch mehr für sie! Lieber wird sie auf die Mahlzeiten verzichten!

Nach etwa einer Stunde ist die Angst vorbei. Nun hat sie großen Hunger. Sicher wäre es leicht, auf dem Riesenkreuzer irgendwo eine Lounge zu finden oder eine Bar, wo am späteren Abend noch etwas Essbares serviert wird. Doch herumzulaufen und Menschen zu begegnen, die sie - so ist das auf diesem Schiff – ansprechen würden, dafür fehlt ihr jetzt die Kraft. Das Mahl hätte sie sich bestimmt auch auf die Kabine bestellen können. Aber nur keine Extra-Sperenzchen! Sie ist tatsächlich zu schüchtern, das einzufordern, was vielleicht für das Personal nur eine geringe Belastung gewesen wäre.

Als der Abend in die Nacht übergeht, klingen aus dem Ballsaal Tanzmelodien. Das ganze Schiff scheint durchtränkt von einer lässig-lauen, sinnlichen Atmosphäre, die auch Minou spürt. Aber sie fühlt sich nicht zugehörig. Alle scheinen erregt, wollen Teil sein des Treibens, Teil des luxuriösen Ganzen, dort sein, wo das Leben in seiner Fülle brodelt ... ihre Sinne jagen erregt neuen Erlebnissen entgegen.

Minou will nichts davon. Sie ist müde. Möchte lang und tief schlafen. Hat sich in ihrer Kabine schon hingelegt.
Da plötzlich ... das Bild unendlicher Wassermassen schwappt in ihr gebeuteltes Hirn. Schlagartig. Blitzartig! Warum hat sie daran noch nicht gedacht! Jeden Augenblick kann der Ozean hereinstürzen. Direkt an der Kabinenwand steht ihr Bett, aus dem sie jetzt entsetzt hochfährt. Sie stellt es sich vor: Das schwarze, sturmgepeitschte Weltmeer - es ist wahrhaftig nur zentimeterweit von ihrer angstbefallenen Seele entfernt - wird allein zurückgehalten durch die dünne menschengemachte Schiffshaut. Aneinandergeschweißte, metallene Plättchen gegen die Urgewalt der See!

Die tausend Passagiere, die da oben feiern, denken an andere Dinge, das weiß sie. Sie dachte bis vor einer Minute auch an andere Dinge. Nun aber nicht mehr. Sie starrt auf das Bullauge, aus dem sie vor Stunden noch hinunter auf die Wasseroberfläche hat sehen können, hinter dem es jetzt blubbert wie grünschwarze Bouillon. Denn höher ist die See geworden. Sie sieht - oder glaubt es zu sehen - : das Bullauge liegt bereits unter dem Wasserspiegel und somit die Kabine ebenfalls.
O Gott, was ist, wenn plötzlich etwas Schlimmes ... ? Havarie, Explosion?? Oder die Bordwand hält dem Druck des Ozeans einfach nicht mehr Stand und klafft auf? Da wird in Sekundenschnelle hier alles geflutet sein. Gurgelnd wird das Schiff absacken ... wie Blei in die Tiefe sausen.
Minou bricht der Schweiß aus, heiß, kalt. Schon treiben vor ihren wachen Augen die grell gebleichten, noch nicht gänzlich entfleischten Karkasse von Walen und vermodernden Fischen vorbei, der eklige Schleim von Verwesendem. Wie es in Meeren so üblich ist, denkt sie. Bilder vom Sterben im Wasser krallen sich auf einmal in ihrem Hirn fest ... Tod im Ozean, der ständig stattfindet, von dem jeder weiß, an den sie nie, nie gedacht hat. Da schlingern vor ihrem inneren Blick in Algen verhudert schon die Leiber ertrunkener Matrosen. Sie denkt an all die untergegangenen Schiffe und ihre menschliche Fracht ... Augäpfel stieren sie plötzlich an, gequollen, leer.

Ich muss ruhig bleiben – ruhig!
Und U-Boote liegen auf den Gründen der Meere, das weiß doch jeder. Mit jungen, erstickten Marinesoldaten. Hermetisch sind sie in ihren eisernen Särgen verschlossen. Begraben für alle Zeiten. Das ist schlimmer noch, denkt sie, als im freien Meer zu ertrinken.
Da schlägt die Angst wie eine schwarze Mauer über Minou zusammen. Schon spürt sie sich selbst herumwirbeln in den Strudeln der Tiefe, nach Luft gierend. Ertrinkend.
NEIN. Dagegen muss man sich wappnen! Ankämpfen. Schnell schlüpft sie wieder in ihre Kleider. Nicht, um hinaufzugehen und zu tanzen. Sogar eingeladen worden ist sie von ihren Tischgenossen! Nein, sie zieht die Kleider an, damit sie bereit ist. Bereit für das Unausweichliche.

Völlig angekleidet liegt sie dann auf dem Bett. Sprungbereit! Ihr Adrenalin auf dem Höchststand. Sie wird, wenn die Katastrophe kommt, sich in Sekundenschnelle in die Schwimmweste werfen, zum Oberdeck hoch rasen, während aus den Lautsprechern das drohende ‚SOS‘ ertönen wird: "Mayday. Mayday." Und dann der Schiffsuntergang, das Ende ...
All die übrigen Passagiere, die sich um Mitternacht in den eleganten Räumen vergnügen und die, die in den Kabinen schlafen, streift Minou mit keinem Gedanken. Wie könnte sie auch? Wo der Tod, ihr Tod, ihr persönlicher Tod doch so hautnah auf sie lauert.

Nun ist aber Schluss, brüllt sie sich selbst an, reiß' dich zusammen, du Blöde!
Sie bündelt, was in ihr ist, Verstand UND Energie, um dagegen zu halten. Sich vom Wahn loszureißen. Sie wird nirgendwo hin rennen, sondern tapfer dem drohenden Schicksal entgegensehen. Sie wird liegenbleiben auf ihrem Bett. Ganz normal. Als wäre alles in Ordnung. Dem Schicksal gibt sie sich anheim. Die Kleider aber, die behält sie an. Für alle Fälle.
Äußerlich ist sie ruhig, innen vor Angst starr und steif wie ein Brett. Reglos. Eng ihre Kehle. Nur das Herz hämmert.
In diesem Zustand schläft sie endlich erschöpft ein. Doch da ist die halbe Nacht schon vorbei.

Dann passiert es: Plötzlich fährt sie aus bleischwerem Schlaf hoch. Sie hatte es von Anfang an gewusst: jetzt ist es so weit: der Ozean ist dabei, in ihre Kabine einzubrechen, die sich in Windeseile mit Wasser flutet. Da brüllt sie nach Gott. Springt aus dem Bett und fällt bis zur Brust hinein in die brackige Brühe. "Hilfe". Sie hört ihren eigenen Schrei.
Da wacht sie auf. Das war nur ein Traum. Du heiliger Himmel ... Das laute Klopfen eines Stewarts an ihre Tür hat sie aus dem Alp geweckt! Oder ihn erst verursacht? Danach wird alles gut. Sie fühlt sich erlöst und frei von den Schrecken der Nacht ...

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Beim Frühstück im Speisesaal ist sie munter. Andere Leute sind seekrank. Sie aber nicht.

Es regnet über dem Meer .. . ja, sie scheinen in einen Sturm geraten zu sein. Das Schiff hat jedoch einen optimalen Stabilisator. Es schlingert kaum. Minou ... nun will sie auch ein solches Wetter erleben ... Voller Neugier fährt sie mit einem der zahlreichen Fahrstühle ganz nach oben. Endstation: das Promenadendeck. Da ist niemand, kein Passagier, kein Crewmitglied. Himmel und Wasser sind von dunkelstem Grau an diesem Vormittag . Weltuntergang. Und weit und breit wirklich kein Mensch zu sehen. Wie auf einem Geisterschiff. Minou steht an die Reling geklammert. Und es toben eigenartige Winde. Das gefällt ihr. Gischt übersprüht in kühlen Stürzen ihre Kleidung, doch wagt sie sich sogar freihändig übers Deck. Da plötzlich wird sie von einer Sturmbö gepackt ... sie schlittert, es fegt sie fast von den Beinen ... sie ist mitten drin im Geschehen von Wetter und Wind. Zuerst gefällt ihr das sehr, aber ... sie kann nicht lange die Herrin der Stürme sein, sie spürt sich schon wieder schwach werden, ist diesen Dingen nicht gewachsen ... darum schafft sie sich lieber nach unten ins sichere Refugium, in ihre Kabine, durchgepustet zwar, ziemlich nass und zerzaust.

Sie muss die Kleider wechseln und ihr Aussehen vor dem Badezimmerspiegel schnell wieder herstellen. Aber dann hält sie nichts mehr in der Kabine. Mit dem Fahrstuhl fährt sie noch einmal nach oben. Sie hat es zuvor schon bemerkt, die großzügige Bibliothek ist der einzige öffentliche Raum auf dem Schiff, der nicht so überfüllt ist wie die anderen. Höchstens sitzt einmal jemand dort und schreibt einen Brief. Ein fast geheimer Ort. Hier hat sie Ruhe. Überall sonst wird sie von Männern angesprochen. Vielleicht ist sie ja auch das einzige, WIRKLICH allein reisende junge Mädchen an Bord. Und Männer scheinen sie für Jagdwild zu halten. Für eine Abenteurerin. Ein Flittchen?

Einer der Herren an ihrem Tisch, Ali al Farrah, war ihr vorhin über die Flure gefolgt, als sie zu ihrer Kabine ging. Beim Frühstück hatte er ihnen allen vom Libanon erzählt, dem Ziel seiner Reise und nun bietet er Minou an ... so von Mann zu Frau ... unter vier Augen ... na, was schon ... während er parlierend neben ihr herläuft und sie als ‚très belle, jeune femme‘ hochjubelt, fragt er, ob sie nicht vielleicht Lust habe, mit ihm zu kommen. Für eine Weile. Beirut sei eine aufregende Stadt... und da sie über ihre Zeit offensichtlich frei verfüge ...
Das hatte Minou verletzt. VERLETZT. "Nein" hatte sie gesagt. Sonst nichts. Aber mit kompromissloser Stimme. Er hatte begriffen. Und sogleich, Entschuldigungen murmelnd, wieder den Gentleman gespielt.

Zumindest ihr Äußeres gefällt Männern, das weiß Minou. Die Zeit mit Nikos hat sie geprägt ... na ja ... noch ist sie halbwegs vom Wohlstand durchtränkt, ihre gebräunte Haut glatt und gesund„ das Haar glänzend, gut geschnitten. Und sie wirkt ZUGÄNGLICH, auch das weiß sie. Weil sie höflich ist und mit allen Menschen, auch aufdringlichen Männern, stets REDET, wenn sie angesprochen wird. Aber sie flirtet nicht. Gespräche hier an Bord beendet sie schnell. Einladungen zu Drinks lehnt sie ab. Sie müssten doch merken, dass sie kein leichtes Mädchen ist!
Andererseits bemüht sie sich ständig um ihr Aussehen. Sie will eine Schöne sein, eine Begehrte. Und doch wird sich mit niemandem einlassen. Sie könnte es gar nicht.


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02
IL GATTOPARDO


In der mahagonigetäfelten Bibliothek stehen edle Tischchen, zierliche Polstersessel, wandbreite, deckenhohe Glasvitrinen gefüllt mit englisch-, französisch- , spanisch, italienisch-sprachiger Literatur. Nur EIN einziges deutsches Buch findet Minou: ‚La legge‘ von Thomas Mann. und das, wie sie sieht, auf italienisch! Was ist mit Goethe und Schiller, den größten Dichtern Europas, ja der Welt, wie es in der Schule immer geheißen hatte? Hier kann man ihre Werke anscheinend leicht entbehren. Vielleicht sucht sie aber an der falschen Stelle?


Minou greift sich den Roman: 'il Gattopardo' vom Grafen Tomasi di Lampedusa. Sie kennt das Buch ... fast jeder hat es gelesen, zumindest in Italien. Es spielt in der Zeit um 1860, als die Adelsgeschlechter in Sizilien ihre Macht an Leute zu verlieren begannen, die mit Intelligenz , Kraft, aber auch Skrupellosigkeit aus unteren Schichten aufstiegen und ihre adelige, schon stagnierende, hochmütige Welt ins Wanken brachten.

Das neu herausgekommene Werk ist der Renner, ist DER Roman Siziliens, des Mezzogiorno, ist aber auch rasch ein Weltbestseller geworden.
Es gibt vielleicht nur wenige berühmte, einheimische Autoren auf der Insel. Man verehrt daher den Grafen di Lampedusa, der bisher ziemlich unbekannt war, plötzlich auf der Insel als Nationalschriftsteller, ihn, der mit nur einundsechzig – gerade gestorben ist. Der Roman ist sein Lebenswerk. Allein schon der Titel ‚il Gattopardo‘ scheint Minou um so vieles klangvoller, exotischer, als etwa 'der Leopard', wie das Buch in der deutschen Übersetzung heißt.

Auch auf la Serena war zu der Zeit jeder mit dem Gattopardo in der Tasche herumgelaufen.
Endlich hatte ein Landsmann der unverstandenen sizilianischen Seele und der Schönheit des Landes ein würdiges Denkmal gesetzt. Sie waren alle stolz auf 'ihren' Schriftsteller.

Der Roman war ein Ereignis gewesen. Wie ein Konzert von Domenico Modugno zum Beispiel oder eine Tosca-Aufführung im Opernhaus von Catania. Es war très chic, über den Inhalt zu diskutieren. Ungefähr eine Woche lang war il Gattopardo in aller Munde gewesen ... fast zuviel Aufmerksamkeit für den toten Dichter in dieser immer nach Neuem gierenden, schnell gelangweilten Gesellschaft.
Auch Nikos, der stets auf allen wichtigen Kultursektoren up-to-date sein wollte, hatte gleich ein Exemplar gekauft und es rasch Minou überlassen. Sie aber hatte es überfordert aus der Hand gelegt. Weil es sehr nervend war, ständig im dizionario nach ihr unbekannten italienischen Wörtern zu fahnden. Und weil sie in der Kritik und Beurteilung des Werkes doch mit den Anderen kaum mitreden konnte.


Jetzt, ein halbes Jahr später stellt sie fest: sie kann den Text leicht lesen. Das erstaunt sie schon, dass sie ein schwieriges Werk wie dieses fast bis in die letzten Feinheiten versteht. Da müsste sie eigentlich stolz sein. Ist sie aber nicht. Statt dessen heult sie wieder einmal lautlos und die Tränchen kullern. Zu sehr kommen bei der Lektüre die Ernando- und Sizilien-Erinnerungen zurück und ihre Gefühle überschwemmen sie.

Schon ist sie da, wo sie eigentlich stets im Inneren weilt, in Ernandos Welt. Ganz nah bei ihm. Sie träumt sich zurück in die Landschaften, in die Städte, die sie mit ihm erlebt hat. Sie findet die Menschen in dem südlichen Roman lebensecht ...
Der Leopard ( il Gattopardo ) ist das Wappentier jener sizilianischen Fürstenfamilie, von der das Buch erzählt. Der Autor Tomaso di Lampedusa, selbst ein höherer Adeliger, beschreibt den Glanz, die Vergeudungssucht, den irgendwie aufgesetzten, zelebrierten Katholizismus seiner Schicht, auch ihren Hochmut und die tiefinnere Naivität. Und alles schön in die Vergangenheit entrückt. Da kann er seinen Landsleuten aus den großen alten Familien die Wahrheit, wenn auch verbrämt, vorhalten: zum Beispiel, dass sie tief melancholisch sind, dass keiner von ihnen je gelernt hat, mit Zeit und Geld wirklich umzugehen, dass Arbeit nicht in ihren Wortschatz gehört, und sie von der Wiege bis zur Bahre den Freuden der Welt nachjagen ... auf recht verantwortungslose Weise.
Da ist der Fürst Don Fabrizio Salina. Die Hauptperson. Sein Clan hat sich seit Jahrhunderten mit den wechselnden, ausländischen Machthabern arrangiert. Ob Griechen, Normannen, Araber oder Spanier, alle waren auf seine Familie angewiesen. Denn ohne die alteingesessenen, strengen Feudalherren hätte bald im Volk Anarchie und Chaos geherrscht. Zum Ausgleich durfte die Aristokratie ihre Privilegien behalten und einen kultivierten Müßiggang pflegen. Das war um 1860 die Welt des Adels in Sizilien. Das ist auch die Welt von Ernandos Vorfahren und in gewissem Sinn sogar noch die Seine.

In Fürst Fabrizio Salina findet Minou die Eigenschaften und den Stolz ‚ihres‘ geliebten Conte, aber nicht dessen Ausstrahlung wieder. Weil doch Ernando hundertmal herrlicher (!) ist. Der ebenfalls sehr hochgewachsene, alle anderen überragende Fürst im Buch ist leider honigblond, von heller Hautfarbe – urrgh ... ein Mann mit weiß-rosiger Haut ... unerotisch!! Dieser Fabrizio, der Protagonist, ist also fad und teutonisch von Aussehen. Das kommt durch die Gene seiner Mutter, einer deutschen Fürstin. Es ist träges, nordisches Blut, das ölig in seinen Adern fließt. Wuchtig ist er und schwerfällig. 'Ohne fett zu sein', stellt der Autor jedoch wörtlich klar!
Setzt sich der Fürst auf ein Sofa, so ächzen die Sprungfedern und die Dielen krachen unter seiner Last. Nein ... einen Traummann hat der sizilianische Autor hier nicht erfunden. Zumindest keinen nach Minous Geschmack. Der Fürst Salina hat außer dem überragenden Wuchs so gar nichts mit Ernando, dem Wendigen, Eleganten, Undurchschaubaren, gemeinsam.


Während das Schiff sich seinen Weg durch die Herbststürme auf dem Ozean bahnt, vergräbt sich Minou in die Lektüre des Gattopardo, findet darin sehr viel von den Farben IHRES Sizilien.
Don Fabrizio Salina ist, ebenso wie Ernando - wie alle SÜDLICHEN, wahrscheinlich wie alle WIRKLICHEN Männer – denkt sie - natürlich nicht für die Liebe zu nur einer Frau gemacht. Was Minou aber kurios in dem Buch erscheint, das sind des Fürsten ständige Gewissensbisse darüber, dass er seine Triebe nicht unter Kontrolle halten kann und die häufig aufflammende Reue über seine daraus resultierende eheliche Untreue.
Da ist Ernando aus anderem Holz geschnitzt, denkt Minou, keine Spur von Skrupeln oder Selbstbezichtigungen bei ihm. Und sie ... bewundert noch immer seine Härte, Rücksichtslosigkeit, seinen männlichen Egoismus!
Dann kommt in dem Buch noch die demütige Mariannina, Fabrizios kurz erwähnte, kleine Bettgefährtin vor, die immer zur Verfügung Stehende, die er sich im Geheimen hält, von der man nichts weiß, als: "sie ist ein gutes Mädchen."
"Du bist ein gutes Mädchen", hatte Ernando auch zu Minou gesagt. Mit denselben Worten. Zu ihr, die im Mahlstrom der Begierde fast ertrank, die von ihm geliebt und erkannt sein wollte, aber doch nur genommen wurde ... und wohl niemals für ihn gezählt hatte.
Was immer Ernando mit ihr gemacht hat, in dieser Geschichte begegnet sie IHM auf mysteriöse Weise wieder! Da laufen ihr die Tränen jetzt über Hals und Brust bis in ihren BH hinein. Unwichtig. Niemand sieht sie. Sie sitzt in einer versteckten Nische der Bibliothek. Sie liest und liest. Das Buch bringt in ihr wieder all die Liebe für Ernando ans Licht, die zu vergessen sie gerade übers Meer reist. Taumelig wird sie vor Heimweh. Verlangen.
Die barocken Schlösser, die Reisen ins weite, sonnenverbrannte Getreideland im Innern der Insel, oder zu den Orangenplantagen beschreibt das Buch ... alles das, was sie selbst in SEINER Gesellschaft erlebt hat, das, was ihr vertraut ist, auch der für sie bis dahin ungewohnte Luxus ... wobei dieser ja eher von Nikos stammte ... eine Tatsache, die sie aber schon gut verdrängt und verdreht hat.
Die Nächte mit Ernando, die Süße der letzten Umarmung, alles kommt zurück. Die Verbindung zwischen der Welt des Fürsten Salina und 'ihres' Conte ist zu offensichtlich. Deshalb fasziniert dieses Buch Minou sehr.
Beim Lesen rieseln ihr Schauder über den Rücken. Sie spürt: das hier Beschriebene und ihr Seelenzustand passen zusammen. Sie identifiziert sich mit Mariannina, Fabrizios kleiner Hure, die er versteckt, zu der er sich nicht bekennt, die er wohl auch nicht wirklich liebt, zu der er aber ZÄRTLICH ist.
Il Gattopardo. Was immer da steht über la Sicilia und seine Menschen, es wühlt Minous Gefühle über Gebühr auf.
Ernandos überlebensgroßes Bild ist wieder vor ihr. Sie vergisst, dass sie allein auf einem Schiff ins Unbekannte fährt.
Sie steigt fast körperlich in das Buch ein. Ignoriert die Gegenwart.
Sieht erstaunt auf, als ein junger Stewart ihr ein Kännchen Tee und kleine, englische Törtchen bringt. Er stellt die Sachen auf einem Silbertablett in dem stillen Raum neben sie hin, obwohl sie überhaupt nichts geordert hat. Das rührt sie. Was es koste, will sie wissen.
"It is for free, Miss!"
Da kramt sie schnell einen Geldschein aus ihrer Tasche.
"You are so pretty", murmelt er.
Er lächelt wirklich schön und wird rot. Er schüttelt den Kopf - nein - das Geld, das Minou ihm hinreicht, weist er stolz zurück. Er bleibt eisern. "It’s for free!"
Ein attraktiver, liebenswerter Junge! Warum kann sie sich über die Freundlichkeit solch eines Menschen nicht FREUEN? Warum nicht das Leben überhaupt mehr genießen? Warum ist innen in ihr diese Traurigkeit?
Während des kurzen Restes der Reise hält sie sich lesend in der Bibliothek auf. Versteckt sich vor dem Angesprochen-Werden. Sie sucht keine Unterhaltung.

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03
EINE GARCONNIERE IN ATHEN


Piräus. Minou hat noch eine Nacht in ihrer Kabine verbringen können, denn das Schiff fährt erst am Vormittag weiter.
Am Hafen winkt sie eine Sammeltaxe heran. Ihre Tischnachbarn hatten ihr Verhaltenstips für Griechenland gegeben. Auf Handzeichen hin halten die Fahrer immer wieder überall am Straßenrand, nehmen Wartende mit, solange im Fahrzeug Platz ist.
Das Vehikel undefinierbarer Herkunft ist klapprig, scheint lang nicht gesäubert. Es riecht innen nicht gut, aber es menschelt. Leute, die einander fremd sind, rücken hautnah zusammen.

Zentrum von Athen! Hier steigt Minou aus. Die Straße ist vom Verkehr durchtost. Die Garconniere liegt im Souterrain eines alten Hauses. Ein winziges Appartement.
Minou kann dort eine Weile wohnen. Der sizilianische Avvocato hatte mit ihr im Campeggio alles besprochen. Sie muss sich nur bei einem griechischen Rechtsanwalt den Schlüssel abholen.
Dessen Kanzlei ist im gleichen Gebäude wie die Garconniere, doch im repräsentablen Vorderhaus. Minou geht weitläufig um den Block herum, biegt in eine Parallelstraße ein, gelangt so auf umständliche Weise von der schäbigen, heruntergekommenen Rückseite zur prunkvollen Vorderseite des verschachtelten Gebäudes. Wahrscheinlich gibt es einen direkten Durchgang im Inneren. Sie kennt ihn nicht.

Die Fassade des mehrstöckigen, hochherrschaftlichen Hauses ist außen mit floralen Ornamenten und Frauenantlitzen geschmückt. Dann ein hohes Prunkportal. Zwei Flügeltüren stehen offen. Innen ist es dämmrig. Im langgestreckten Foyer Teppiche. In der Ecke ein Aufzug: Sein altmodisches Gitter ein filigranes Kunstwerk aus Blüten und Ranken ... schmiedeeisern, zart, die Kabine innen mit weinrotem Plüsch ausgeschlagen, an der Rückwand ein mannshoher Spiegel, goldgerahmt. Unter Schüttelanfällen, wildem Rucken und Gezuckel schafft sich der Lift bis zum dritten Stock.
Minou betritt eine bis zur Decke mit Akten vollgestopfte Kanzlei. Es riecht nach Staub. Der einzige Angestellte, der auftaucht, ist freundlich, gibt ihr den Schlüssel für die Garconniere, ohne dass sie sich auszuweisen braucht ... als kenne er sie und wisse schon Bescheid. Freundlich erklärt er auf italienisch, il avvocato sei abwesend, sie solle in etwa drei Stunden zurückkommen. Es liege da ein Brief, den der Signore ihr persönlich aushändigen wolle.

Wieder draußen im Flur kann sie noch so lange auf den Knopf neben dem Fahrstuhlschacht drücken, die schmiedeeiserne Aufzugtür bleibt hermetisch verschlossen. Auch, als sie es mit Zerren und Rütteln versucht. Hinter dem kunstvollen, metallenen Gitterwerk sieht sie die samtige, rote Kabine einladend warten, doch die Tür öffnet sich nicht.
Wahrscheinlich hat sie etwas falsch gemacht beim Knopfdrücken und wohl den ganzen Mechanismus außer Kraft gesetzt. Vielleicht hat ja gerade sie in diesem Moment den Aufzug ruiniert. Es ist ihr peinlich, zurück in die Kanzlei zu gehen und den Schaden zu melden. Da wuchtet sie lieber ihren Koffer und die Reisetasche zu Fuß die drei Stockwerke hinunter!

Sie läuft wieder um den Block herum, in ihren Ohren den Athener Verkehrslärm. Um zur Eingangstür der Garconniere zu gelangen, muss sie mehrere Treppenstufen hinabsteigen. Die Wohnung liegt nämlich unter Straßenniveau. Minou schließt die schwere Eichentür auf, ist, mitten am sonnengleißenden, vom Auto- und Hupenlärm durchtränkten Großstadtvormittag plötzlich eingehüllt in lautlose Dunkelheit. Als sie nach langem Herumtasten das Licht anknipst, steht sie in einer Diele, deren Wände mit kleinen Ölbildern, Wandleuchtern, Spiegeln reich bestückt sind. Dahinter ist ein Zimmer durch einen schweren, cremefarbenen, zur Seite gerafften Samtvorhang von der Diele getrennt. Inmitten des Zimmers, unter schwergerüschtem hellem Baldachinhimmel, ein großes, französisches Bett, darauf eine Steppdecke aus hellbeigem Brokat, auf der, Ton in Ton, Seerosen- und Blumenranken eingewebt sind. Der Boden des Zimmers, mit dunklem Marmor getäfelt, trägt als Inselchen ein paar blaugrundig gemusterte, kleine, ovale Teppiche. An den Wänden, wie Tulpen- und Rosenblüten geformt, in rankenhaft geschwungenen Messinghalterungen, Lämpchen aus opakem Glas. Ein Klick Minous auf den mühsam gefundenen Schalter und sie verbreiten alle miteinander ein wohliges, orangefarbenes Licht.

Dann ist da noch ein prunkvolles Badezimmer mit blaugrünem, geädertem Marmorfußboden und ebensolchen Kacheln an den Wänden. Die Wanne, wie eine große Muschel, die ihre Schale geöffnet hat und deren Inneres perlmutten und hellrosa schimmert, ist flach in den Boden eingelassen. Eine Wanne für zwei ...so groß, dass man, in der Mitte liegend und die Arme ausgestreckt, den Rand nur knapp mit den Fingerspitzen erreichen könnte.
An den Wänden Spiegelglas. Dort eingeritzt Frauenantlitze mit üppigem Haargelocke, dazu Blüten, Blüten ... 'Jugendstil' wird sie später wissen. Damals kennt sie sich mit so etwas nicht aus.
Da ist ein intarsienverziertes Mahagonitischchen neben dem Bett. Darauf ein Grammophon. Und Schallplatten. Schellack. Drei. Die Label tragen geheimnisvolle Schriftzeichen. Kyrillisch ist das nicht. Sie hat keine Ahnung. Jüdisch? Arabisch?

Nachdem sie luxuriös gebadet hat und auf dem Bett liegt, bietet sich Minou ein sonderbares Spektakel. Denn die Wohnung hat statt der Fenster nur zwei kleine, rechteckige Luken aus fest eingesetztem Opak-Glas. Hoch oben an der Wand, ein kleines Stück unter der Zimmerdecke liegen diese Luken, genau auf der Höhe des draußen vorbeiführenden Bürgersteiges. Die Schatten von Leuten huschen in einer stetigen, lautlosen Flucht hinter den milchigen Scheiben dahin. Nein, Menschen sieht man nicht, nur unaufhörlich die schwarzen Umrisse von Füßen aller Art, Waden bis zum Knie, von Männern, Frauen, Kindern. So rennen, schlurfen, trotten, hopsen, stöckeln sie vorüber. In ständiger Prozession, jedoch durch das milchige Glas nur als Schattenrisse zu erkennen. Merkwürdig .
Um vier Uhr nachmittags geht Minou noch einmal zum Büro des Rechtsanwalts. Er ist klein, er ist fünfzig und quirlig. Er hat lebhafte Augen und eine Stirnglatze. Er sei gebürtiger Sizilianer, sagt er.
Ob sie auch einen Kaffee möge.
Sie murmelt dass ihr am Mittag der Angestellte gesagt habe, da sei ein persönlicher Brief für sie ...
"Ah, si si ... ein persönlicher Brief ... "
Jetzt läutet aber das Telefon. Der Rechtsanwalt setzt sich entspannt zurecht, zündet sich eine Zigarette an, plaudert lange ausgiebig auf Griechisch in die Leitung hinein.
Währenddessen bringt ein Junge auf einem Tablett zwei Kännchen türkischen Kaffee, Moccatassen, die obligatorischen Gläser mit Eiswasser, dazu klebriges, süßes Gebäckzeug.
Minou sieht den Avvocato gespannt an, atemlos, mit klopfendem Herzen. Es dauert lang, bis er endlich den Hörer auflegt und sich zu erinnern scheint, dass das Mädchen ja auch noch da ist ...
Warme, zuversichtliche Gefühle haben Minou inzwischen überflutet. Wahrscheinlich ist der Brief eine Nachricht von Ernando oder zumindest vom guten Nikos, denkt sie. Der Wunsch, der sich seit Stunden mit ihrer Sehnsucht gekoppelt hat, lodert auf. Und geht vielleicht doch noch in Erfüllung.
"Tatsächlich, da ist ein Schreiben für Sie", sagt der Avvocato und tut, als sei es ihm erst jetzt wieder eingefallen. "Vedremo".
Ganz ruhig bleiben, suggeriert sich Minou
"Ach ja, der Brief!"
Sie ist taumelig.
Der Avvocato nimmt aus einer Schublade, deren Schloss er umständlich auf- und wieder abschließt, einen Umschlag. Auf dem steht nur ihr Name. In Schreibmaschinenschrift getippt. Hermine Kern. Nicht Minou. Das muss eine sehr seriös gemeinte Sache sein.
Der Brief ist niemals von der Post transportiert worden, weiß sie augenblicklich, keine Marken darauf. Nicht zugeklebt. Der Mann legt den Umschlag vor sich hin.
Statt ihn ihr endlich zu geben, nimmt er schon wieder das Telefon ab, diesmal wählt er eine Nummer. Lässt sich bei seinem Gespräch Zeit.
Was sie nun so zu machen gedenke, fragt er nachher lässig und wohin sie von Athen aus reisen wolle. Minou sieht ihn starr an.

"Ihre Freunde werden sich nicht mehr um sie kümmern können", sagt der Avvocato, "Sie sind jetzt auf sich allein gestellt!"
Natürlich weiß sie das schon längst und doch ist ihr, als träfe sie ein Stich mitten ins Herz.
"Man hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, dass ... "
"Es ist okay, es ist okay", entfährt es Minou wild und sie wird grün vor Blässe.
Der Avvocato lässt das Ende des Satzes offen. Weil sie ihm hektisch dazwischengekommen ist. Nun hat er den Faden verloren. Sie wird nie erfahren, was ‚man‘ ihm NOCH zu sagen auftrug.
Als sie ihn entgeistert ansieht, mehr wissen möchte, zuckt der Rechtsanwalt die Schultern ... Er weiß null. Hat mit dieser ihrer Liebesgeschichte nix am Hut.
Er gibt ihr endlich das – unverschlossene - Couvert.
Als sie es aufmacht, sieht sie darin Geldscheine, Dollarnoten. Kein Brief, nicht einmal ein Zettel. Keine Nachricht. Kein geschriebenes Wort. Weder von Ernando noch von Nikos ... und dieser Mann hat das die ganze Zeit über gewusst.
Dass irgendwie ein Scheck in dem Brief sein würde, hatte sie vermutet. Da ist jedoch Bargeld. Der Rechtsanwalt in Mare Luce hatte ihr gesagt, man würde sie nicht im Stich lassen. Bis sie wieder fest auf ihren Füßen stehe. Aber diese Scheine! Einfach so. Lieblos im Brief. Ein Bündel. Das ist jetzt etwas anderes, Eiskaltes. Endgültiges. Der Schluss. Sie wird mit Geld abgefunden, ausgezahlt. Von wem? Ernando? Nikos? Das man ihr ‚helfen‘ würde, hatte sie ja durch den Avvocato in Mare Luce gewusst. Und doch ... es ist, als hätten sie ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.
Sie will noch nicht übergenau in dem Umschlag nachschauen, will sich die Hoffnung übriglassen, vielleicht später in der Ruhe des Appartments, in der Tiefe des Couvertfutters ein paar Zeilen zu finden ... persönliche, liebevolle.
Der Avvocato beobachtet sie.

Ich will das Geld nicht, denkt Minou, eigentlich dürfte ich das Geld nicht annehmen.
Und der Rechtsanwalt daraufhin lächelnd, als ob er Gedanken lesen könne: "Nessesse mangiare oppure morire", - was soviel heißt wie: friss Vogel oder stirb.
Ob er ein Freund von Ernando oder Signor Sakatis sei, fragt Minou.
Darauf schweigt er.

"Es ist eine recht große Summe", sagt der Avvocato, " Sie können, wenn Sie ein bisschen sparsam sind, eine Weile recht gut leben ... Das ist generoso von Ihren Freunden, nicht wahr? Doch sie benötigen Drachmen statt der Dollars. Wir könnten Ihnen einen Teil davon einwechseln, Signorina. "Sie sollten nur DAS Geld mitnehmen, das Sie für die nächste Zeit brauchen und das restliche hier bei uns lassen. Wir deponieren es für Sie."
"Ja, gut."
Sie muss nur noch den Empfang der mitgenommenen Summe quittieren. Der Mann meint, sie könne so lange in der Garconniere wohnen, wie sie Lust habe. Sie schüttelt den Kopf. Ob er eine Reinemachefrau vorbeischicken solle, fragt er, denn für eine Weile habe eine junge Dame dort übernachtet, eine Stewardess von Olympic Airways. Da sei vielleicht einiges nicht mehr perfekt. Er habe bisher keine Zeit gehabt, nachsehen zu lassen ...
"Nein, nein!"
Ob sie sonst noch etwas brauche, ob er irgend etwas für sie tun könne?
"Nein, danke!".
Zurück in der Wohnung durchsucht sie den Briefumschlag, in dem jetzt die Summe steckt, die ihr der Avvocato als Reisegeld ausgezahlt hat. Sie fahndet bis hinein ins Futter nach einem kleinen Zettel mit ein paar Worten. Sucht hektisch nach einem Lebenszeichen von Ernando. Oder von Nikos. Da ist nichts.
Woher das Geld auch kommen mag, sie denkt plötzlich den verrückten Gedanken, dass keiner der beiden Männer etwas damit zu tun hat ...

*

Was ist das für eine fürchterliche Luft in dieser Wohnung! Nein, schmutzig, wie der Avvocato gefürchtet hat, ist es hier nicht, nicht einmal staubig, die winzige Kochnische perfekt aufgeräumt. Doch es riecht ekelhaft nach altem Tabakrauch. Auch ist da ein Beigemisch von vielleicht ursprünglich gutem Parfüm, das sich in der abgestandenen Luft in ein Konglomerat von widerwärtig stinkenden, chemischen Substanzen verwandelt hat und ihr Brechreiz verursacht. Das war heute Vormittag noch nicht so. Oder? Was für eine giftige Atmosphäre! Trotz der aufwändigen Einrichtung ist das hier eigentlich ein unterirdisches Verließ. Man kann hier drinnen kaum richtig atmen!
Sie könnte ja in ein Hotel gehen. Aber das erfordert den Kraftaufwand des Herumlaufens oder Taxifahrens durch die stickigen Straßen der Stadt. Außerdem ... kennt sie ja diese Anfälle von Verunsicherung und Angst, das ist nichts Neues. Sie darf das nicht so tragisch nehmen. Es ist nicht die Wohnung allein, die es ausgelöst hat.
Reiß' dich zusammen, befiehlt sie sich barsch, das schaffst du. Nur diese eine Nacht noch! Du musst schlafen. Morgen früh nimmst du am Piräus das erste Schiff. Um sieben Uhr wirst du auf dem Meer sein.
Sie findet Nescafépulver in einem halbvollen Schraubglas im Wandschrank. Wahrscheinlich von der Stewardess übriggelassen. Als sie sich einen heißen Kaffee gemacht hat, geht es Minou besser ...
Da stellt sie plötzlich fest, dass es hier drinnen eine funktionierende Entlüftungseinrichtung gibt. Sie setzt sie in Betrieb. Bald schon riecht es frisch. Auch wird es angenehm kühl. Das sollte positiv sein bei der Hitze, die in der Enge Athens sogar jetzt, im Herbst, noch brütet. Sie kriegt die Dinge langsam in den Griff. Wunderbar. Da bleibt sie doch vielleicht erst einmal hier und sieht sich eine Weile die Stadt an.

*



AKROPOLIS

Am ersten Morgen in dem Appartement, steht sie früh auf. Eine fremde Stadt beim Erwachen zu erleben, das muss interessant sein. Sie läuft durch die Straßen. Die sind jetzt leer, wo das Viertel am Abend vor Betriebsamkeit regelrecht gebrodelt hat. Athen schläft. Es ist Sonntag.
Überirdisch schön leuchtet oben auf dem Hügel über allem die Akropolis, beleuchtet von den Strahlen der aufgehenden Sonne. Fern. Weiß. Pur. Später am Vormittag fährt Minou mit einer Taxe hin. Wie sie ihr von der Plaka her nahekommen, schrumpft die Tempelvision seltsamerweise zu sehr irdischen Maßen. Als sie dann die reichlich zerbröckelte Pflasterung und die Stufen emporsteigt und davor steht, findet sie alles weit weniger großartig, als sie erwartet hat.
Die tausendfach besungene, die 'heilige' Akropolis ... im Grunde sind es zerbröckelnde Reste, Ruinen von Bauten, die vielleicht nie himmelbewegend waren, nicht einmal in der Zeit ihrer Blüte. Ach, die Akropolis ... Was ist nur mit mir los?, denkt Minou, für mich sind das stumme Steine. Es lässt mich kalt ...
Wenn sie früher nur den Namen gehört hatte, war die hellste, heiterste Stätte der Welt vor ihrem inneren Auge aufgewachsen, über sonnendurchglühtem Land leuchtend ein hehrer, lichter, zum Himmel ragender Tempel, der Verbindung schuf zwischen der Erde und dem, was nicht von dieser Welt ist. Eine Stätte, wo Irdisches und Göttliches ineinander überfließen. Aber jetzt: die Akropolis, wie sie sich über der hässlichen Metropole präsentiert, scheint ihr, ( Zerstörung und Verfall einmal ausgenommen ) lediglich ein banales, überbewertetes Menschendingchen, das allerdings an einem wunderbaren Ort erbaut ist. Der nun allerdings so wunderbar nicht mehr ist, weil die Stadt sich wie ein wucherndes Geschwür darum gelegt hat.
Und die Kyriatiden? Sie enttäuschen das deutsche Mädchen ebenfalls, als sie dann vor ihnen steht. Gähnlangweilige Frauengestalten mit vom Zahn der Zeit angefressenen Marmorgesichtern. Allzu züchtig der Faltenwurf ihrer wohlgeordneten Gewänder. Auch sie berühren Minous Seele und auch ihre erotische Fantasie nicht.
Majestätisch sind sie vielleicht, darüber kann man streiten, doch sie sind kalt, kalt. Die Griechen haben hier keine Gefühle in Stein meißeln können, keine Verletzbarkeit, nicht einmal ein Lächeln, denkt Minou. Dann schämt sie sich und weiß: Ich bin es, die unfähig ist, wahre Größe zu erkennen! Dabei hat sie immer gewünscht, einmal im Leben die Akropolis zu sehen. Jetzt, als sie davor steht, spürt sie kaum etwas von der Glorie, nichts von dem sehnsüchtig erhofften Glücksgefühl.
Den alten Griechen muss man zugute halten: sie ahnten nicht, zu wie riesiger, stilloser Häuseranhäufung sich Athen ausdehnen würde. Da steht die Akropolis nun ... fremd.
Die meisten Leute empfinden das anders, denkt sie, sie kommen aus der ganzen Welt und sind ergriffen. Nur ich spüre in mir nichts davon.
Wirklich, in Minous Seele ist kein Widerhall. Das liegt vielleicht an ihrer Verfassung. Es geht ihr schlecht. Ohne Ernando fehlt ihr ... alles.

Sie denkt an den Tag, als sie Hand in Hand mit ihm durch das antike Freilichttheater in Taormina gegangen war. Es stammt auch von den Griechen. Ihr gefallen ohnehin die griechischen Ruinen auf Sizilien besser, als diese hier. Wie hatte sie damals die Herrlichkeit des Theaters in Taormina bis tief ins Innerste begriffen, die vollkommene Harmonie. Wie alles an jenem Tag gestimmt hatte: Ort und Zeit. Der Geliebte hatte sie bei der Hand gehalten, während sie zwischen den weiten Reihen aus Quadern entlangstreiften, so selbstverständlich, als ob sie schon immer zusammengehörten. Minous Seele war da vom Wunder berührt worden. ER war bei ihr. Er zeigte ihr stolz die Wunder seiner Insel. Es war auch Mittag gewesen, ein ebenso sonnengleißender Mittag wie dieser.

Hier in Athen stellt sie traurig fest: das antike Heiligtum auf dem Hügel macht sie nicht froh, erhebt ihre Seele nicht. In Minous Innerem stimmt nichts, in ihrem äußeren Bild ... fast alles.
Minou ist elegant und teuer gekleidet in jener Zeit. Heute trägt sie ihr schönes, weißes Leinenkostüm, die weißen Pumps mit den Stöckelabsätzen und ihre ebenfalls weiße, kleine Handtasche aus Boxcalfleder mit einem edlen Firmenetikett. Alles Geschenke von Nikos. Äußerlich wirkt sie schick. Wie eine, der es gutgeht.
Von jungen Burschen wird Minou bepfiffen, umringt. Die lungern hier oben um die Akropolis herum und bieten verhohlen ( verbotenerweise? ) Andenken feil. Akropolisse aus Bakelit. Amphoren aus Steingut, echt antik bemalte Terracotta-Schalen. Fünf Dollar jeweils das Stück. Höchstens hundert Touristen sind auf dem recht weiten Gelände unterwegs. Sonntag Morgen!

Minou wird von einem älteren Paar auf Englisch angesprochen. Der Mann fragt, ob er sie bitte drüben bei den Kyriatiden fotografieren dürfe. Es sei der Gegensatz ... den müsse er unbedingt festhalten: hier die steinernen Vertreterinnen des jahrtausendealten klassischen Frauenideals, daneben sie, "a perfect modern european beauty", sagt er ... "full of live, modisch, SELBSTBEWUSST". ( grins )
Wow! – Aber Minou wird dadurch keinen Deut froher.
Na, ja! Sie macht mit. Der Mann knipst einige Fotos. Die Frau, die ihn begleitet, hält der Deutschen einen Notizblock hin, möchte ihre Adresse haben, sagt, dass sie ihr Abzüge schicken würden, wenn die Bilder denn etwas geworden sein sollten.
Minou schreibt ihnen spontan die Anschrift von zuhause in Marienstock, von Papa, auf den Zettel. Sie hat ja selbst keine feste Adresse mehr.
Als sie auf dem Rückweg ist, hinunter zur Plaka, da ist der Mann auf einmal neben ihr, spricht sie wieder an, bittet sie, doch noch ein paar Minuten ihrer Zeit zu opfern für ein paar zusätzliche Aufnahmen.
Gerne. Sie hat ja nichts vor. Er knipst also die ziemlich blöd lächelnde Minou, angelehnt an eine der zerbröckelnden Säulen des Tempels Erechtheion. Und sitzend auf den Stufen vor der Akropolis. Er will, dass sie auch mit ihm und seiner Frau aufs Bild kommt. Richtet einen Selbstauslösemechanismus ein unter so viel Gegaffe der herbeischlendernden Umstehenden, wie nun einmal zu einer solchen Aktion gehört. Klick ... der Apparat fotografiert die drei zusammen: angelehnt an die zerbröckelnden Säulen des Tempels Erechtheion. Oder sitzend auf den Stufen vor der Akropolis. Und vor ähnlich schönen Motiven ...
Der Mann ist um die sechzig, die Frau vielleicht fünfundfünfzig Jahre alt. Beide mit weichen Zügen. Die Kleidung - von unsagbarer Beschaffenheit - könnte vielleicht die Lachmuskeln reizen. Bei näherem Hinsehen aber eher nicht. Keiner würde sich über die beiden lustig machen. Sie sind über die herkömmlichen Normen von Stil und gutem Geschmack hoch erhaben. Es sind Amerikaner.
Das Gesicht der Frau ist unter einer Masse rosigen Puders merkwürdig flach, glatt, schicksallos. Die auch am Körper absolut rosafarbene Frau mit dem faltenlosen Gesicht trägt ein schulterfreies Kleid, das um die Brust eng, dessen Rock weit geschnitten ist und aus plissierter, quittegelber Seide. Das Ganze mit aufgedruckten grellen SCHIRMCHEN in allen hässlichen Rot- und Lilafarben, die es auf der Welt gibt. Auf dem Kopf hat sie eine Art Turban, der ihr Haar vollständig verhüllt und das gleiche Schirmchenmuster zeigt wie das Kleid. Dazu trägt die Missis ein paar Pfund dickkugeligen Bernsteinschmuck an Hals, Armen, Ohren. Amber in satten Honigschattierungen von hellgoldgelb bis harzbraun.
Der Mann, wuchtig gebaut, mit kräftigen, sommmersprossigen Armen, mit viel Bauch auch, hat einen beigen Cowboyhut auf dem massigen Schädel. Grellkarierte Bermudashorts zeigen stramme, blauaderdurchzogene, sonngebräunte Beine. Ein rosa Hemd verhüllt seinen massigen Torso. Er hat einen Seidenschal um den Hals gebunden, darstellend die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika: The Starspangled Banner. Das sticht ins Auge. Oh say can you see? Das kann doch nicht wahr sein!

Der amerikanische Patriot und seine Frau laden Minou zum Mittagessen ein. Diese sagt zu. Sie hat ohnehin nichts Besseres vor. Sie hätte am liebsten irgendwo in einer kleinen, tavernenartigen Kneipe gegessen. Mit schummriger Beleuchtung oder noch lieber in einem von Weinreben überwachsenen, romantischen Innenhof, wie sie zuvor in der Plaka einige gesehen hat.
Die beiden Eheleute aber überraschen das Mädchen. Die Lady schlägt das Restaurant des George V Hotels. Das ist so ungefähr, das beste, das es hier gibt, wird Minou gleich erfahren ...
Die Leute haben eine lange dunkelblaue Limousine mit Chauffeur. Die wartet in geringer Entfernung von der Akropolis. Da staunt Minou. Das Leben bietet immer wieder unerwartet Kitsch und Klischees. Sie kann nichts dafür.
Das Ganze könnte aufregend werden, wenn sie sich den Dingen mehr gewachsen fühlte. Dennoch ... sie steigt ein.
Die Gäste im George V starren neugierig, wie es sich gehört, als der Ober das komische Dreiergespann zu einem Tisch führt.

Die Amerikaner scheinen nette Leute zu sein. Bescheiden. Voller Hunger nach Griechischem. Und nach Erlebnissen. Minou spürt, dieses Paar hier ist einsam. Die wollen ihre Langeweile loswerden, ihre Reise mit angenehmen Momenten auspolstern. Sie suchen Möglichkeiten zum Glück.
Vielleicht möchten sie sich ein bisschen Jugend und Frische an die Seite holen oder so etwas. Da ist Minou gerade die Richtige! Doch ... Gott sei Dank ... sie scheinen nichts von ihr zu erwarten, außer, dass sie heiter sein soll, locker, lässig. Na ja, sie bemüht sich. Nach dem Aperitiv und den hors d'oeuvres ist sie lebhaft. Aber das ist aufgesetzt. Innen fühlt sie sich unbehaglich und außen überdreht. Die beiden Amerikaner wollen wirklich wenig von ihr, nur ihre Gesellschaft, ihr Lachen, unterhaltsames Geplauder.
Nicht einmal das kann sie ihnen bieten, es ist nicht ihr Tag. Gleichgültig ist sie. Fühlt sich auch kein bisschen auf der Höhe. Doch sie hört ihnen zu. Das ist das mindeste, was sie einbringen kann als Gegenwert für die kostspielige Mahlzeit. Höflichkeit! ... Meistens redet der Mann. Sagt: Hart gearbeitet habe er sein Leben lang. Glück war ebenfalls dabei. .. Sagt: aufgebaut hätten sie ... eine Schirmfabrik (!!) Ihr kleines Imperium. Und Kinder erzogen. Vier. Ein Sohn leite jetzt die Firma. Und wir reisen. So lang die Gesundheit ... Zuerst good Old Europe." Nun auch noch das Glück, mit einer schönen, weltgewandten jungen Dame ... die souverän ...
Wenn man Minou mit so etwas kommt, geht es ihr gleich echt miserabel ... denn sie ist alles andere als das selbstbewusste Girl, die beschwingte junge Dynamische, die die beiden wohl in ihr sehen wollen. Über Griechenland weiß sie wenig Besonderes zu sagen. An konkretem Wissen, Sightseeing-Fragen betreffend, hapert es total. Aber die beiden hängen an ihrem Mund.
Ob sie sich für zirka eine Woche ein bisschen ihnen anschließen möge, fragt der Mann zaghaft. Als Begleiterin, Reiseführerin ... von gemeinsamen Unternehmungen spricht er, einem Ausflug im Auto gleich jetzt nach dem Essen ... wohin auch immer ... sie möge doch einen Vorschlag machen!

Beim Mahl packt Minou auf einmal ein wirbelndes Unwohlsein, ein Schwindel, die altbekannte Angst, auf der Stelle und vor aller Augen hier mitten in diesem Luxustempel bewusstlos ... usw. Panik jagt ihr den Schweiß aus den Poren. Sie lächelt aber, während der Mann ihr sonderbar zublinzelt. Oder bildet sie sich ein, dass er ihr zublinzelt? Nur eines kann sie noch vor dem Zusammenbruch retten. Flucht! Da sagt sie, mitten ins melodische Geplauder der Missis hinein: um Gottes Willen, sie müsse sich ja mit Freunden ... das habe sie total verschwitzt, vergessen, es sei wichtig ... very, very important.
Sie muss jetzt rasend schnell nach draußen und das Weite suchen. Bevor sie hier unter lauter Fremden umfällt.
Dass sie versprechen solle, heute Abend wieder zu kommen, zum supper um acht, bitte, sagt der Mann schnell, reicht ihr etwas hilflos seine Karte. Und sie könne sie ohnehin hier finden, brauche sich nur an den Portier wenden, sie wohnten in diesem Hotel.
"You promise to come?"
"Yes, yes", sagt Minou.
Kurz vor dem Umkippen, von Panik gebeutelt, will sie vor den beiden das Gesicht wahren ... und bringt eine aufgesetzte Ruhe zustande ...
Schreitet mühsam, nein – wankt hinaus. Nicht ohne das Good-bye-Winken der Amerikanerin von der Tür her noch zu erwidern!
O Gott, ich kippe um, denkt sie.

Draußen ist sie in Panik, weil das Taumeligsein keineswegs aufhört. Eine ganze Weile lang. An eine Wand gelehnt, stützt sie sich am Mauerwerk ab. Erst langsam wird ihr besser.
Als Minou viele Jahre später eines Tages in das Haus zurückkommt, das ihr Elternhaus gewesen ist, findet sie in einer Plastikhülle inmitten einer Menge Papierkram unter dem verrotteten Krempel, den Lisa in den Keller geschafft hat, ein mit Airmail-Stamps beklebtes, aufgerissenes Couvert. Darin stecken die Fotos von jenem Tag an der Akropolis. Das amerikanische Paar hatte die Bilder zu Papa heimgeschickt, zur Adresse, die Minou angegeben hatte ...
Wie muss Oskar Kern damals zumute gewesen sein, als er den Umschlag öffnete und ihm das törichte Gesicht seiner verschollenen Tochter entgegengrinste. Denn auf Fotos grinst sie immer. Neben ihr der dicke Mann mit Cowboyhut, der besitzergreifend seinen Arm um ihre Schulter und den anderen um seine christbaumartig behängte Missis gelegt hatte ... Mister und Mrs. T.C. Hasenstein aus Chicago, Illinois ...

Lisa sagt ihr später, der Papa habe den Amerikanern sogar zurückgeschrieben. Sie wisse es, denn sie persönlich habe den Brief aufgesetzt - "mein Englisch vom Institut her, weißt du!" - Das Ehepaar habe zurückgeschrieben, dass sich ihre Bekanntschaft mit der jungen Dame leider nur auf eine kurze Begegnung beschränkt habe und man nicht wisse, wo Minou abgeblieben sei. And - that they felt very sorry not to be of any greater help. ‚She was such a nice girl', schrieben sie.

*




MINOU FINDET ALKOHOLISCHES


An diesem Nachmittag läuft Minou noch eine Weile durch die engen, von Touristen überschwemmten Gassen der Plaka. Einige Male angesprochen, aber einsam, einsam. Sie betritt da und dort kleine Läden. Weil das alle tun, weil man das eben tut, wenn man schon einmal in der Altstadt von Athen ist. Die Übelkeitsattacke steckt ihr in den Knochen, die Angst, es könne gleich wieder losgehen. Sie sieht sich Armbänder an aus Silber, die viel dahermachen und bedrucktes tönernes Ziergeschirr, das altgriechische Mäandermuster nachahmt. Aber sie hat keinen Kaufwunsch. Nur ein paar Postkarten ersteht sie. Nicht, um sie an Freunde zu verschicken. An wen sollte sie schreiben? Zum Andenken nimmt sie sie mit. Bestimmt würde sie beim späteren Anschauen die Schönheiten der Akropolis besser würdigen können als heute ...

Erschöpft kommt sie per Taxe in ihre luxuriöse Wohnkatakombe zurück. Hat den einen, einzigen Wunsch auf der Welt, Ernando neben sich zu spüren. Dass er sie in die Arme nähme wie ein Kind. Wie kann sie nur weiterleben ohne den tröstenden Traum von seiner Liebe?
Da ist dieses Grammophon, da sind die rätselhaften Schallplatten. Es dauert eine Weile, bis sie den Apparat - bestimmt ein außereuropäisches Fabrikat und natürlich keine Gebrauchsanweisung dabei - zum Funktionieren bringt. Die Musik jedoch verzaubert sie. Wie unter Zwang legt sie die drei Platten nacheinander immer wieder auf. Sie gehören zusammen, bilden offensichtlich ein geschlossenes musikalisches Werk.
Minou liegt matt auf dem baldachinüberdachten Doppelbett und lauscht der unbekannten Musik. Antriebslos. Saugt den fremdartigen Klang, der durch den Raum zieht, tief in ihre Gehörgänge ein. Verschieden sind die Töne von allem, was ihr je in die Ohren gekommen ist und die Sprache des Sängers ist ihr unbekannt ... Mit leiser Orchestermusik fängt es an, aus der sich die rätselhafte Stimme herauslöst. Die wird immer stärker, reiner, heller, glasklar, eine Frauen-, oder Knabenstimme? Die schwingt sich aufwärts in stolze, einsame Höhen. Pathetisch. Voller hinausgeschrieenem Schmerz. Die Töne klettern, sie springen eine Leiter empor. Höher, höher, bis zum Himmel. Die Stimme zittert, bebt, fällt vibrierend in Abgründe, um desto glockenheller, metallisch rein wieder daraus aufzusteigen. Nie hat Minou so einen behexenden Klang gehört. Der ist nicht mehr von dieser Welt.
Beim Anhören der Schallplatten gerät sie in Wehmut. UND Ekstase. Von Menschen verlassen, lässt sie sich hineinfallen in die seltsamen Klänge, den bestrickenden, verwunschenen Gesang.
Oben auf höchsten Höhen verharrt die Stimme lange, lange, gläsern, makellos, so erhaben, dass der Lauschenden die Tränen übers Gesicht laufen. Der Ton. Hell. Überirdisch rein. Fremd. Fremd. Füllt den Raum. Minous Herz auch. Ihre Seele fröstelt davon. Schauder überrinnen ihren Körper.
Das Ganze bekommt ihr aber schlecht. Sie wird kraftloser ... von Stunde zu Stunde, während sie auf dem Bett liegend, lauscht ...

Am Ende ist es so schlimm, dass sie die Wohnung nicht mehr verlassen kann. Sie schafft es kein bisschen, in die brütend heißen Straßen Athens hinauszugehen. Was soll sie da? Sinnlos ist alles, als ob sie aus ihrem Astronautenraumschiff auf den kahlen Mond hinaustreten solle. Sie hat tatsächlich ANGST vor dieser Stadt. Vor dem Leben, das draußen vorbeitost, mit dem sie nichts zu tun hat.
Ihr fehlt sogar die Kraft, sich in irgend einen Laden zu schleppen, Lebensmittel einzukaufen. Statt dessen hört sie die Schallplatten an, immer und immer wieder. Erst nach zwei Tagen des Fastens, als ihr furchtbar übel ist, übel, aber ohne Hungergefühl, kommt ihr der Gedanke, einmal in der Kochnische nachzuschauen. Das hätte sie besser nicht getan.
Im Kühlschrank findet sie zwei Dreiviertelliterflaschen Rotwein und eine Pulle französischen Champagner. Auf einem Regal noch eine Dose Corned Beef, ein Döschen Sardinen. Der Wein schmeckt ihr herrlich. Sie fühlt sich plötzlich stark, voller Entschlusskraft. Und macht sich gleich daran, Ernando einen Brief zu schreiben.
Darin versucht sie, ihm zu erklären, warum sie sich an jenem Abend derart furchtbar hat gehenlassen. Weil ihre Liebe zu ihm unendlich stark, überwältigend gewesen sei und so weiter ... sie habe es nicht mehr ertragen, ihn so fern zu wissen und so weiter, sie habe den Boden unter den Füßen verloren. Auch vielleicht zuvor ein bisschen zuviel getanzt und getrunken in jener Nacht. Ob er das verstehen könne. Und so weiter ... ein endloses klagendes Gewäsch. Den armen Nikos habe sie nicht lächerlich machen wollen, aber, ihn, Ernando, ihn liebe sie, ihn liebe sie ... Das wisse er doch. Sie würde ihm nie eine Last sein. Eine selbständige und souveräne Person würde sie werden. Sie würde in Taormina bei Amalia Sanpietro als Kinderfräulein zu arbeiten beginnen.
- Die Baronin hatte Minou tatsächlich einmal diesen Job angeboten -
Ob er das erlaube? fragt sie, ob er erlaube, dass sie wieder nach Sizilien komme. Fragt, als wäre er ihr Beherrscher und der Herr der Insel! Er solle sie bitte NICHT GANZ verlassen, fleht sie im Brief. Wenn sie ihn nur ab und zu für ein paar Minuten sehen dürfe. Damit würde sie sich ja begnügen. Solches und ähnliches unausgegorenes Zeug schreibt sie. Sie ist zwanzig. Und sie weiß um die Lächerlichkeit ihres Gestammels. Aber sie kann nicht anders. Wenn eines ihn bis zum Ekel abschreckt - das weiß sie auch - dann dieses sich-ihm-an-den-Hals-Schmeißen armer, verliebter Weiber. Das ist eine Sache, die ihn stets gelangweilt hat. Und nun schlägt Minou in diese gleiche Bresche hinein. Nein, sie ist nicht mehr zu retten. Und bildet sich ein, ihn auf solche Art zu rühren. Es gibt Frauen, die mit ihren Gefühlen klüger umgehen, die mit allerlei Winkelzügen um einen Mann kämpfen und Erfolg haben. Doch solche Schachzüge werden ihr immer fremd bleiben.

In der großen Muschelbadewanne lauscht sie der behexenden Musik. Schluchzt. Tut nichts, als nur an seine Berührungen zu denken. Wie sie im rosaschimmernden, lauwarmen Wasser liegt, betrachtet sie ihren Körper, der immer mager und kränklich gewesen ist, mit dem sie sich auch jetzt, wo er gebräunt und ziemlich schön aussieht, nicht wirklich anfreunden kann.
Sie berührt sich, so wie er sie berührt hat. Streichelt die eigene Haut, die in der lauen Luft fröstelt. Später, auf dem Bett liegend, macht sie Liebe mit sich selbst, wütend, verweifelt. Es gelingt ihr, wenn auch mit großer Anstrengung, den Höhepunkt zu erreichen. Mehrmals. Dabei murmelt sie wie eine Litanei seinen Namen vor sich hin. Denkt an die Dinge, die er gesagt, mit ihr gemacht hat. Die Befriedigung hilft ihr kaum in ihrem Kummer. Sie wird noch elender. Und verliert das Zeitgefühl.
Durch die Milchglasluken der Wohnung nimmt sie nach einer Weile nicht mehr wahr, ob draußen ein glutheißer, menschenwimmelnder Athener Geschäftsmorgen angebrochen ist oder einer jener gerücheschweren Nachmittage, voller schon orientalisch angehauchter Herz-Schmerz-Leiermusik aus Kofferradios, voller Stimmenwirrwarr, Autogehupe, wo all die kleinen, stämmigen Griechen mit Kind und Kegel in den Straßen herumwuseln. Sie sieht nur die hinter ihrem Garconnierefenster vorbeihastenden Beine, Beine ...

Ihr fehlt der Mut ( und die Lust? ), ihre klimatisierte Schutzzone zu verlassen, die Höhle, die sie beschirmt, in der sie die riesige Badewanne hat, das Bett, die Sphärenmusik. Sie erinnert sich dann wieder, dass da ein Telefon auf dem Tischchen neben dem Bett steht. Es gelingt ihr irgendwie, das Fernsprechamt Athen in die Leitung zu kriegen. Minou fühlt sich, ach, so schwach vor lauter Sehnsucht nach dem Geliebten. Die eine Flasche Wein hat sie bereits geleert, an der zweiten arbeitet sie vehement. Sie muss jetzt sofort mit Ernando sprechen.
Die zwei Telefonnummern von ihm hütet sie noch immer wie Schätze. Die eine ist des Conte Privat- oder Geheimnummer, die er nur guten Freunden gibt. Die hat er ihr in den Zeiten seiner Glut fast aufgezwungen. Sie MÜSSE ihn jederzeit erreichen können, bei Tag und Nacht, hatte er damals gesagt, weil er gemeint hatte, sie - des Italienischen kaum mächtig - würde allein nicht zurechtkommen. Für sie war es ein Zeichen gewesen dass sie ihm, 'etwas', wahrscheinlich sogar viel bedeute. Doch sie hatte diesen Anschluss nie angerufen. Sie wollte Ernando so wenig wie möglich mit ihrer Person belasten. Auch jetzt verlangt sie diese Nummer nicht ... Sie weiß, es ist der Anschluss seines Familiensitzes. Es wäre furchtbar, mit hämischen Dienstboten konfrontiert zu werden, mit Ernandos Mutter vielleicht sogar, oder (Tiefpunkt der Scham! ), Lucia, seine Frau plötzlich am Apparat zu haben.

Bleibt noch die Firma. Sie gibt dem Fräulein vom Amt die Nummer der Firma in Siracusa. Nach wildem Stimmenwirrwarr, Pronto-Pronto-Gebrüll, Hektik und mehrmaligem Getrenntwerden, ist Ernandos Sekretär am Apparat. Minou fragt nach dem Conte Sascala. Lässig.
Vito erkennt ihre Stimme auf Anhieb. Ist freundlich, beflissen. Will wissen, ob es ihr gut gehe.
"Ja, ja!"
"Nein", sagt er, der Conte sei nicht da. Doch ... doch, er sei SCHON in der Stadt, aber im Augenblick außer Haus, nein, man wisse nicht, wann er zurückkomme. Später solle sie es noch einmal versuchen. Bestimmt würde er heute zurückkommen ... aber später ...

"Wann?"

Als sie gerade auflegen will, ist plötzlich SEINE Stimme in der Leitung, verhalten, heiser. Wie sie sie von Sizilien her in Erinnerung hat ...
"Ich bin es", sagt sie, "Minou !" Sie versucht, optimistisch und ... leicht zu klingen:
"Stell dir vor", plappert sie, "ich bin in einer sehr sonderbaren Wohnung in Athen und höre gerade Musik. Da habe ich gedacht, ich rufe dich einmal an. Es ist eine so seltsame Melodie. Du kennst sie ja vielleicht, diese Schallplatten, die auf dem Tisch liegen? Das heißt, wenn du die Wohnung kennst. Hörst du die Musik im Hintergrund? Warte, ich drehe den Apparat lauter ... "
"Minou ... ich bin in Eile", sagt er. "Geht es dir gut?"
"Entschuldige, Ernando, ich habe Wein getrunken", fügt sie lächerlicherweise hinzu. Wahrscheinlich hat er das ohnehin schon bemerkt.
"Ich hoffe", sagt er, "dass du dich amüsierst und nette Leute kennenlernst. Schau dir unbedingt die griechischen Inseln an. Fahr' nach Kreta, fahr‘ nach Rhodos, mach dir eine schöne Zeit ..."
"Morgen will ich ins Nationalmuseum ... "
"Das ist gut, Minou. Und dann sagt er: "Warte, ich gebe dir jetzt eine Telefonnummer. Schreib‘ sie auf. Verlange dort Signor Ossini. Er ist Italiener, un uomo molto per bene, un mio bon amico, der würde dir gern die Stadt zeigen. Er ist ein sehr angenehmer Mensch, ein wirklich guter Freund, hörst du? Also, notiere die Nummer. Hast du einen Bleistift zur Hand? "
"Ernando ... warum sollte ich ... ich liebe doch dich ... "
"Er wird dir die Stadt zeigen ... sonst nichts. Schreib die Nummer auf, Minou. Mehr kann ich nicht für dich tun!"
"Ernando ... ... !!"
"Hör zu: ich bin hier in einer Besprechung. Es geht nicht, dass du mich anrufst. Wenn du Probleme hast, dann wende dich an diesen Signor Ossini. Er weiß von dir. Du kannst über alles mit ihm sprechen. Er wird dir zuhören. Er hilft dir weiter."
"Nein!"
Auch der Avvocato wird dich gern beraten."
"Ich brauche nur dich, ich brauche nur dich", stößt sie jämmerlich hervor.
( Hat er sie überhaupt verstanden? )
"Ich werde jetzt auflegen!" sagt er leise, aber bestimmt. Und dann auf französisch: "Je t'embrasse ... je t'embrasse bien fort."
Das hätte er nicht sagen sollen. Neuer Stoff für Minous Weiterträumen.
"Ich küsse" oder "ich umarme dich" heißt das. An diese Worte klammert sie sich an wie ein Kind. Er muss sie noch immer ein bisschen ... sonst würde er nicht ...

Danach liegt sie auf dem Teppich. Wie gefällt. Der Alkohol hat sie endlich umgehauen. Nachdem sie die erste Flasche geleert hat, hat sie nämlich weitergetrunken, solange bis auch das zweite Fläschchen Wein vollständig alle war. Nun isst sie die Sardinen.
Es wird mir bald besser gehen, denn jetzt habe ich etwas im Magen, denkt sie und isst noch die Pfundbüchse Fleisch auf. Gleich darauf hat sie die große Flasche mit dem Champagner auch schon geöffnet. Sie schwebt nun quasi im Raum, sodass sie die behexende Musik vom Plattenspieler gerade noch wie durch einen dicken Wattemantel wahrnimmt. Aber es geht ihr besser ... Immer besser. Besser, obwohl sie so traurig ist.

Als sie irgendwann am Boden vor dem Bett zu sich kommt, erinnert sie sich kaum an den Schluss der Trinkerei, nur vage, dass sie noch einmal mit Ernando hatte sprechen wollen, was anscheinend schlecht ankam, denn man hatte sie nicht mehr mit ihm verbunden - und dass sie, wie die Tatsachen beweisen, die Halb-Literflasche Champagner auch ausgetrunken haben muss, was ihr anscheinend kein Problem bereitete, woran sie sich aber nicht mehr erinnert.
Eine undefinierbar lange Zeit liegt sie vor dem Bett herum, denn sie schafft es nicht, sich vom Boden da hinaufzuhangeln. Ihr ist übel. Sie übergibt sich einfach vors Bett. Denn aufs Klo kommt sie nicht mehr. Schläft zwischendurch immer wieder ein. Oder übergibt sich. Nur jetzt unbeweglich liegen bleiben, weil sonst Schreckliches geschieht: so schwindelig wie sie ist. So übel war ihr noch nie. Das wird sie ohnehin nicht überleben. Totalvergiftung! Das ist ihr Ende. Sie spürt es. Hinter der Milchglasscheibe wird's dunkel, dann hell. Wann ist draußen Tag, wann Nacht? Zwischendurch döst sie. Dann liegt sie wieder hellwach, aber bewegungslos. Vor Übelkeit halb verrückt, fürchtet sie jämmerlich um ihr Leben. So entsetzlich krank ist sie. Vielleicht war etwas mit den Sardinen nicht in Ordnung? Und sie ist allein.
Mit Wasser und in Wasser eingeweichten uralten Keksen, von denen sie zum Glück eine Packung in einer Schublade findet, fängt sie an, sich halbwegs aufzupäppeln, als ihr System endlich den Alkohol losgeworden ist.

*

Nach fast zwei Tagen nimmt sie ein Bad. Hoffentlich das letzte in dieser dekadenten Wohnung. Gott sei Dank. Froh ist sie, als sie wieder auf den Beinen ist, ohne zu torkeln.
Niemals mehr Alkohol für mich, denkt sie, während sie das Erbrochene wegputzt. Und sie lässt die Hände vom Grammophon. Obwohl die verzauberten Schallplatten lockend auf sie warten. Sie hütet sich vor der hypnotischen Musik.
Das Telefon lässt sie ebenfalls unberührt. Sie hätte kostenlos mit der ganzen Welt plaudern können. Die hier, wem immer die Wohnung gehören mochte, hätten ihr das sicher nicht übelgenommen. Wahrscheinlich hätte es keiner je bemerkt. Aber sie stellt verwundert fest, dass es niemanden gibt, den sie anrufen kann ... oder will. Was soll sie den früheren Bekannten sagen, die entweder Kolleginnen vom Fernsprechamt oder Kameradinnen aus der Schulzeit sind? Die sind fern, mit denen hat sie längst jeden Kontakt verloren. Und Else, die Cousine, hat zwei Babys, wie sie voriges Jahr bei einem Telefonanruf von ihr erfahren hat. Minou kennt nicht einmal den Mann, mit dem sie verheiratet ist.

Sie selbst ist das schwarze Schaf, war es eigentlich immer. Wie soll sie den Freundinnen, die immer noch auf dem Fernsprechamt Dienst tun und den anderen, die bereits Haus, Mann und Kind(er) haben, das Leben erklären, das sie führt? Wie soll sie es ihrem Vater beibringen?
Deren Welt ist längst nicht mehr die meine, war es nie, das weiß sie.


*


Tage später - sie ist relativ erholt und stabilisiert und auch schon wieder zum Essen draußen gewesen - denkt sie an Flucht. Weg aus dieser Stadt will sie ... aufs Meer will sie, endlich auf die Inseln, sie mag die Stadt Athen, ihre Straßen und Plätze, nicht besonders. Sie hat schon mit dem Avvocato telefoniert, wird ihm nur noch den Wohnungsschlüssel zurückbringen. Da geschieht etwas ziemlich Sonderbares:

*


TREFFEN MIT CHRISTINA

Das Telefon läutet. Unglaublich. Am Apparat ist Christina, Nikos Tochter aus einer seiner geschiedenen Ehen, die bei der Mutter in Athen lebt. Im vorletzten Jahr war sie in Sizilien bei ihrem Vater zu Besuch gewesen. Sie und Minou hatten sich kennengelernt. Christina, die Literaturwissenschaften und Anglistik studiert und Minou, die nichts tut, haben im Sommer mehrere Monate neben- und sogar miteinander verlebt. Sie haben gemeinsam im Meer gebadet, antike Ausgrabungsstätten und griechische Tragödienspiele in Taormina, und Opernaufführungen in Catania besucht, haben zusammen eingekauft, Abendgesellschaften und Dinnereinladungen durchgestanden ... alles unter dem Schutz und der Fürsorge des Mannes, der die beiden Mädchen mit gleicher Zuwendung umgab.
Christi – so nennt Nikos seine Tochter zärtlich- hat ein bisschen auf die gleichaltrige Minou herabgesehen. Wie alle ausländischen Gespielinnen ihres Vaters kam auch sie höchstens optisch gut herüber, aber sonst? Diesmal war eben eine Deutsche sein Betthäschen ... na und? Es störte Christina nicht. Ohne weibliche Begleitung hatte sie den Papa noch nie erlebt, wenn sie jedes Jahr einmal im Sommer ihre Ferien bei ihm in Sizilien verbrachte. Seine Gespielinnen waren alle Elsas ... So hieß jene oberflächliche Unperson, jenes Flittchen aus dem Bestseller ‚Bonjour tristesse‘ von Francoise Sagan, . Die Elsas ihres Vaters kamen auch und gingen. Kaum eine tanzte länger als einen Sommer. Christina stand hoch über diesen simplen Dingern, die sich von ihrem alternden Erzeuger aushalten ließen. Christina las und studierte, dachte viel nach und litt am Leben, während diese wie aufgetakelte Segelbote auf dem leichten Strom des Lebens dahintrieben. Wirklich ... einige von ihnen führten sich schrill auf und man konnte sich über sie amüsieren. Christina wusste: sie war sehr verschieden von diesen oberflächlichen Sommergefährtinnen, die ihr Vater genauso gut behandelte, wie sie, die eigene Tochter. Sie war nicht eifersüchtig. Dafür liebe ich Papa nicht genug, hatte sie gedacht.#

In Christinas Augen hatte Minou im Leben ihres Vaters nicht sehr viel gezählt. Christina hatte sie in Kauf genommen, notgedrungen, wie eine Hauskatze, die man irgendwann zu mögen anfängt. Am Ende hatte sie die unbedarfte, aber bescheidene Deutsche akzeptiert.
Erstaunt hatte sie eines Tages an einer Hotelrezeption aufgeblickt, als es auf einem gemeinsamen Trip um das Anmieten von Zimmern ging und sie feststellen musste, dass ihr Vater und Minou getrennte Räume haben würden.
Ihr Vater hatte lachend mit den Schultern gezuckt. Minou hatte erleichtert ausgesehen, dass Nikos Tochter es endlich wusste. Sie hätte sich sehr vor Christina geschämt, wenn sie die ausgehaltene Maitresse ihres Vaters gewesen wäre. Na ja, sie wurde ohnehin von ihm ausgehalten, aber es war doch ... anders.
"O Padre!" Ironisch, fast vorwurfvoll war die Tochterstimme gewesen. So als wolle sie sagen: "Wie du zahlst für diese Nutzlose und schläfst nicht einmal mit ihr?"
"Sie ist verliebt"; hatte Nikos gekontert, "aber nicht in mich!"
"Ach so," hatte Christina ironisch geantwortet, "dann nehme ich alles zurück! Mit der Liebe ist nicht zu spaßen!"
Dass die Sache irgendwann doch alltäglich und banal geendet und die komische Deutsche mit dem Vater zu guter Letzt dennoch im Bett gelandet war, das hatte Christina nicht mehr mitbekommen. Das war erst nach ihrer Abreise geschehen.
Christina ist frisch, herb, geradeheraus. Sie hat eine kräftige, stämmige Figur und den dunkelsten Teint, den eine Europäerin haben kann, dazu stracke, schwarze, kurzgeschnittene Strubbelborsten auf dem Kopf und schattigen, schwarzen Haarflaum an den kräftigen Beinen. Unten in Sizilien, weil ihr Vater es wollte, war sie dem Unterschenkel-Gekräusel durch großzügiges Auftragen von heißgemachtem Wachs und ruckartigem Abziehen desselben zu Leibe gerückt, denn ihr Vater wollte partout eine stromlinienförmige Badeschönheit aus ihr machen. Beim Enthaaren hatte Christina auf griechisch geflucht, weil es weh tat. Minou muss im Nachhinein lächeln. Christi ging damals sogar zum Friseur und ließ sich helle Strähnen in die Haare färben und sie hoch toupieren Das alles machte sie ihrem Vater zuliebe, der sich eine seidenglatte Modeprinzessin als Tochter so sehr wünschte.
‚Ja, klug und witzig ist Christina, robust, gesund, voller Temperament, aber hübsch ist sie nicht, da beißt die Maus keinen Faden ab, denkt Minou.
"Ich mag nicht um den heißen Brei herumreden", sagt Christina zu der Deutschen, "also ich rufe dich hauptsächlich an, weil mein Väterchen das will ... Der Avvocato hat mir deine Telefonnummer gegeben."
Aha ... es ist also Nikos, der sich noch immer aus der Ferne um sie kümmert.
Die beiden Mädchen vereinbaren ein Treffen.

Minou wartet vor einem Straßencafé auf die Griechin. Christina rast in ihrem kleinen, roten Wagen herbei, springt heraus. Sie macht schon im Herankommen wilde Gesten, grinst über das ganze Gesicht, als sie Minou sieht. Dann Wangenküsse.
"Komm, ins Auto, ich darf hier nicht stehen!"
"Du brauchst mir nichts zu erzählen", sagt sie während der Fahrt und lacht, "ich weiß, was du dir unten in Sizilien geleistet hast. Auch zu mir ist die Geschichte von meinem Vater und der tedesca pazza gedrungen. Das hat natürlich das Herzensbrecherimage deines Ernando Sascala noch aufgewertet. DICH hat man bedauert, mio padre aber ziemlich schadenfroh begrinst. Sag mal, warst du betrunken?" fügt sie lachend hinzu. "Dabei bist du die erste überhaupt seit seiner letzten Scheidung, die er hat HEIRATEN wollen. Die Großmutter war vielleicht vor den Kopf gestoßen! Dir hätte sie solch ein Benehmen nicht zugetraut.

Dass du so blöd bist, Weib ... du bist so etwas von blöd ..." , sagt Christina, zieht die Luft tief ein und küsst Minou auf die Wange.
"Wie geht es deinem Vater?", fragt Minou verwirrt.
"Mach dir um meinen alten Daddy keine Sorgen, der ist schon wieder obenauf."
Nikosdaughter schlägt Minou vor - vielleicht um der unbeschwerten gemeinsam erlebten sizilianischen Urlaubswochen willen oder weil Papa es angeordnet hat - dass sie ab und zu Zeit miteinander verbringen sollten.
"Warum fangen wir nicht mit einem gemeinsamen Ausflug an? Die Fahrt hatte ich ohnehin geplant. Du fährst einfach mit."
So machen sie sich zwei Tage später mit Christinas Karman Ghia und einem ihrer Kommilitonen namens Taki auf in Richtung Norden. Bis nach Chalkidiki hinauf und zu den Halbinseln Kassandra und Sithonia. In Sithonia lassen sie das Auto stehen und fahren mit einem Touristendampfer übers Meer, wo sie dann ein paar Stunden vor der Küste mit Sicht auf den Berg Athos kreuzen – die Männer sind derweil von Bord gegangen, um die Mönchsrepublik zu besuchen. Der Berg Athos, auf einer Halbinsel gelegen, ist heilig. Später sagt Taki , dass schon seit tausend Jahren kein weibliches Menschlein mehr seinen Fuß habe in diese Welt setzen dürfen, und dass da auch nur männliche Tiere erlaubt seien, damit die gottgefälligen Brüder, der Frauenliebe längst entwöhnt, beim Anblick einer wohlgebauten Ziege oder attraktiven Eselin nicht auf schlimme Gedanken ... !
Minou starrt ihn mit offenem Mund an.
Taki und Christi lachen sich verschwörerisch zu ...

Sie besuchen auch die Meteorakloster. Unzählige, eng aneinanderklebende, fantasiereiche und teils sehr hohe Bauten sind auf engstem, steilstem Felsgrund zusammengeballt. Ihre vielhundert Zinnen und Türmchen leuchten im Abendrot. Sie besuchen auf ihrer Rückfahrt Delphi, den Orakelort, aber das zu schildern würde hier in eine pure Sightseeing- Beschreibung ausarten.

*

Minou fühlt sich gut in Christinas und Takis Nähe. Christina redet während der Reise viel von ihrem Vater. Sie spricht von dem gerade einmal Fünfzigjährigen wie von einem nicht unsympathischen, alten Narren, auf den sie, die Kluge, Abgeklärte, kopfschüttelnd, doch mit Rührung herunterblickt, von dessen Launen und seniler Unberechenbarkeit sie in Zukunft noch allerhand Knabenstreiche erwartet.
"Na, ja ich müsste eigentlich froh sein, dass er dich nicht geheiratet hat", sagt sie und verzieht das Gesicht. "Da wären die beiden richtigen Kindsköpfe beisammen gewesen!"
Christina ist für Minou ein rauer, aber ruhender Pol und macht ihr den Aufenthalt in Athen, in diesem Appartement recht gut erträglich. Zumindest lernt Minou die In-Lokale, Museen und die Atmosphäre dieser Stadt recht gut kennen. Zwei Monate lang verkauft sie auch Andenken in einem Souvenirladen im Herzen der Plaka ( Christina hat ihr beim Jobfinden geholfen ) Minou spricht, wie wir wissen, außer Deutsch und Italienisch leidlich Englisch. Sogar ein irgendwie verständliches Französisch. Sie kann mit Kunden umgehen und wäre eine gute Verkaufskraft geworden, wenn ihr nicht jenes Quentchen Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit gefehlt hätte.
Mitte Februar kommt Christina von einem Kurzbesuch bei ihrem Vater in Catania zurück. Er habe eine neue Frau gefunden, verkündet sie als erstes. Eine Norditalienerin diesmal. Blond. Ob er sie heiraten wolle, stehe noch dahin. Aber es sähe ganz danach aus. "Sie ist süße achtzehn und kann nicht bis drei zählen", sagt Christina. "Wo er sich die aufgegabelt hat ... kein Mensch weiß es. Er hat sie in neue Kleider gesteckt. Du kennst ja die Prozedur. Aus ihr macht er jetzt seine fair Lady. Die neue Pygmalion. Und ich glaube, sie ist schon von ihm geschwängert. Das ist nicht normal. Mein alter Daddy dreht durch!" Christi scheint mehr irrittiert, als sie zugeben will.
Minou staunt nur. Dass er SIE so SCHNELL vergessen hat!
"Der arme Padre! Er steckt tatsächlich in einer schlimmen Midlife Crisis. Ich meine, du warst schon die Härte mit deiner Ernando-Manie. Aber die kriegt nicht einmal den Mund auf. Ich habe sie kein einziges brauchbares Wort reden hören. Una bovina ragazza. Dumpf. Dagegen bist DU- entschuldige - eine Geistesleuchte gewesen ..."
Na ja, Christina muss immer kleine Bosheiten verteilen, das weiß Minou.

Minou hat inzwischen auch einen kleinen Bekanntenkreis. Keine wahren Freunde, denkt sie. Sexpartner auch nicht. Sie lebt keusch. Die Gesellschaft dieser Zufallsfreunde ist kein Trostpflaster auf die klaffende Wunde Ernando. Aber ein Versuch, weiter zu existieren und Athen wie auch immer ... zu erleben.

Minou wollte eigentlich von Anfang an zu den Ägäischen Inseln fahren. Als der Frühling kommt, bricht sie auf.

*




04
PIRÄUS UND ZWEI NEUE MÄNNER


In der Menschenschlange beim Schalter, als Minou ihr Ticket für die Inselfähre kauft, wird sie von einem Mann angesprochen. Tomas heißt er ... den Familiennamen sagt er nicht. Warum auch?
"Und dort drüben steht mein Freund: Jerry."

Dieser Jerry hebt die Hand, sieht herüber. Sie hat es längst bemerkt: die beiden haben sie die ganze Zeit beobachtet - vielleicht verfolgt ?

Sie sind hochgewachsen ... Außergewöhnlich schöne Männer wie sie im Buche stehen ... ihr Körperbau UND die Gesichter. Jerry: Haar von schwärzestem Schwarz, die Hautfarbe tief getönt, wie Kupfer, wie rotes Gold. Tomas hat braune Locken und einen sehr viel helleren Teint. Selbstbewusst wirken sie. Überlegen.

Minou ist ziemlich beeindruckt. Im Grunde packt sie aber ein eher dumpfes Gefühl ... der Schatten einer gefährlichen Männlichkeit irritiert sie, sie schaut augenblicklich betont lässig zur Seite. Annäherungsversuche berühren sie normalerweise nicht. Zu sehr ist Ihr Herz ausgefüllt mit Ernandos - wundersamem - Bild.

Die zwei Männer bleiben in ihrer Nähe, stören sich nicht an ihrer fehlenden Kontaktfreudigkeit. Der Dunkle, Jerry, lächelt ihr hin und wieder von der Seite her zu, bietet sich an, ihre Reisetasche zu tragen.
"Nein. Das mache ich selbst!"

"Ich muss Sie schon irgendwo in Athen gesehen haben. In der Nationalgalerie oder auf der Akropolis? Könnte das sein?", fragt Tomas ... "and I admired your beauty."
Gelaber und ein halberlogenes Kompliment. Klar, er hält sie für reichlich ... anspruchslos.

"O no, you have NEVER seen me before", kontert sie auch nicht gerade schlagfertig und lacht unsicher.

Die beiden Männer geben sich ein Augenzeichen.

Und sie nehmen tatsächlich das gleiche Schiff wie sie. Was für ein Zufall! Minou ist das, trotz der banalen Art des Kennenlernens, nicht unangenehm! So lange sie höflich bleiben! Und sie SIND höflich, behandeln sie gentlemanlike, treten ihr nicht zu nahe. Sie seien Griechen aus Alexandria, erklären sie. Aus Alexandria! Man verständigt sich mühsam. Kann doch alles Nötige sagen. In English.

Das kleine Schiff heißt Pindos. Minou hat keine Ahnung von der griechischen Sprache. Heißt das vielleicht Pinscher? Es ist ein mickriger, komischer Köter von Boot. Uralt. Nur außen ist es ( frisch?) weiß gestrichen. Dieser Kahn ist binnen Minuten vollgestopft mit menschlicher Fracht.
.
Ein Foto existiert. Jerry muss es gemacht haben ... Da hat man sich gerade einmal eine halbe Stunde gekannt. An der Reling sind Tomas und eine kindliche Minou zu sehen. Und sie grinst wie auf allen Fotos. Tatsächlich, da ist nicht eine Spur vom Ernando-Kummer in ihrem Gesicht.

Hauptsächlich hat es der Fotografierende aber auf eine ganz andere Schönheit abgesehen, nämlich die Königin aller chaotischen Seehäfen im Hintergrund. Der Anblick muss einfach festgehalten werden: Piräus 1960: verludert, grandios, betäubend, von Bewegungen und Geschäftigkeit strotzend ... mit seinem Gewirr von Schiffen, die vor Anker liegen oder gerade ein- und auslaufen. Flaggen wehen im Wind. Masten, Takelwerke ragen zum Himmel, ein Tohuwabohu von heruntergekommenen Frachtern, von schönen Jachten - frischgebauten, schneeweißen, von Ausflugsbooten, Passagierlinern, Fischereikuttern, die hier ziemlich derangiert herumtuckern, Supertankern, ziemlich neuen und schrottreifen, von Seefahrzeugen aller Art mit Namen wie aus Märchen: Alaska Sunrise, Delta Queen, Karina of Norway. Sissi ( Heimathafen Duisburg-Ruhrort ), Scheherazade (Kairo), die Wladiwostok, die Blue Hawaii ...

Schönheit, Vielfalt, Niedergang, Verfall, die Wechselhaftigkeit des Daseins spürt Minou in diesem lebendigen Wirrwarr und das fasziniert sie, weil sie es zum erstenmal so hautnah vor sich hat. Das ist das Hafenbecken des Piräus, eine nach Kerosin, Algen, faulem Fisch stinkende Kloake von Bucht, angefüllt mit schwarzer, öligschillernder Brühe, ein Panorama von Schiffsbäuchen, Aufbauten, Schornsteinen, Masten und Getakel, soweit das Auge reicht.

Minou sieht in der Morgensonne auf einem Segelschulschiff Matrosen in weißen Uniformen schneidig zum Appell antreten. Sie sieht bärtige, lumpige Männergestalten. Wie Piraten lungern sie einsam, höchstens zu zweit auf fußballfeldgroßen Decks von Supertankern herum oder kleben hoch oben irgendwo an den Aufbauten riesiger Ölkähne, die, wie Jerry behauptet, allesamt dem Aristotele Onassis gehören.

Die steilragenden, rostfleckigen Flanken eiserner Schiffskolosse von der Höhe vielstöckiger Wohnhäuser ziehen rechts und links an ihnen vorbei, als die kleine Pindos sich ihren Weg bahnt. Unten in der Schlucht zwischen den Riesentankern gleitet sie dahin wie ein Schlauchboot, das durch ein Canyon fährt. Zwergenhaft.

Ungläubig schauen Minou und ihre Mitpassagiere zu den Giganten empor.


Die Pindos ist in Wirklichkeit ein mittelgroßes Fährschiff. Hier scheint sie winzig, hier ist sie ein Nichts. Jetzt schlängelt sie sich tuckernd heraus aus all dem Gewirr und Gewusel der eng beieinanderliegenden Wasserfahrzeuge. Gewinnt endlich die Weite des offenen Meeres. Noch immer kreuzen Lastkähne oder Touristendampfer vereinzelt ihren Weg, begrüßen sie mit dumpfem Sirenenton. Später, auf offener See trifft man auf kein Schiff mehr. Nur, dort, wo sie herkamen, weit hinten beim Piräus gleiten am Horizont die dunstblauen Silhouetten der großen Tanker vorbei.

Die Pindos aber nimmt Kurs nach Süden. Bald sind sie mit Meer und Himmel allein.


Es ist ein sonniger Morgen. Anfang Mai. Vor ihnen liegt, grün wie Türkis, die ägäische See. Dazu der unendlich hohe Himmel. Jerry hat Minou einen guten Platz auf dem mit Passagieren überfüllten Außendeck besorgt. Minou sitzt auf einer Holzbank im vorderen Schiffsteil.Direkt neben der Bordwand. Ein paar auffordernde Blicke von Jerry, rasche Worte auf Griechisch, dann sind die Leute zusammengerückt. Jetzt ist Minou ganz nah bei den sanften Wellen, den Geruch des Meeres in der Nase, den Fahrtwind im Gesicht.

Riesenquallen, groß wie aufgespannte Schirme - man nennt sie hier Medusas - rosa, oder seltsam blau-silbrig ... aber immer durchscheinend und unwirklich, treiben dicht unter der Wasseroberfläche dahin in levantinischer Fülle und pastellhafter Farbenpracht. Bunt davon schillert die See. Das driftende Heer der Medusen, giftige Blüten der Meere? Nein eher eitle Königínnen in wehenden Schleiern ...

Traumbilder. Trugbilder! Minou weiß: an Land gezogen sind sie ein Nichts, zerfließen zu gallertigem Schleim. Hier im Ozean aber schweben sie jetzt zu Tausenden, stolz wie schöne Chimären.

Herrlich ist der Wind. Morgenkühl. Die zwei Männer versorgen Minou mit Knabbersachen und einer Flasche Limonade, die sie vor Beginn der Reise den Bauchladenhändlern am Kai noch in letzter Minute abgejagt haben.

Minou trägt die Adresse eines deutschen Jungen bei sich, Klaus. Er ist ein guter Bekannter in Mare Luce gewesen. Das ist über zwei Jahre her, jetzt.

Klaus hatte manchmal auf sie gewartet, wenn sie abends oder eher nachts ihr kleines Büro am Campingeingang endlich hatte zusperren dürfen. Dann waren sie am Meer entlanggelaufen, hatten geredet ... Das heißt, sie redete und er hörte zu. Er war einer der wenigen Jungen, nein der einzige, mit dem sie über ihren Ernando-Kummer hatte sprechen können. Er war verständnisvoll, wollte nichts von ihr, ganz im Gegensatz zu anderen, die sie betatschen oder küssen wollten und die sie deshalb mied. Klaus konnte Minou tröstend zuhören, wenn sie von ihrer Liebe zu Ernando sprach, die so einmalig war, sie fast um den Verstand brachte, vielleicht sogar töten würde ... oder ähnlich Schreckliches ...

Dass er selbst mindestens ebenso schlimme Probleme mit sich herumschleppte, ging ihr lange nicht auf. Niemand hatte eine Ahnung. Er war schwul. Als seine Hingezogenheit zu einem jungen Mann namens Karsten bekannt wurde - ein in Klaus verknalltes Mädchen hatte die beiden nämlich in flagranti erwischt und war schreiend davongerast - da behandelten ihn die angewiderten deutschen Reisegefährten erst wie eine Ratte, waren danach eher sprachlos und gingen ihm ganz aus dem Weg. Minou stellte sich auch nicht schützend vor Klaus und redete den Bekannten nicht ins Gewissen. Sie hatte ohnehin nur Ernando, Ernando im Kopf ... wie immer.

Eines Morgens, als sie mit Salvatore auf dem Motorrad übers Gelände fuhr, waren Klaus und Karstens Zelte nicht mehr da. Monate später bekam sie ein Briefchen ins Büro, in dem stand, dass Klaus und sein neuer Geliebter, Friedhelm, sich ihren Traum von einer eigenen Kneipe verwirklicht hätten.

Sie hätten ein Haus gekauft, schrieb er, in Souvala auf Ägina. Häuser seien dort spottbillig zu haben. Ein Restaurant hätten sie eröffnet, fleischlose Küche, mit vegetarischer Kost - und Meeresfrüchten . Seine Idee komme bei den Leuten gut an. Klaus lud Minou ein, bei ihnen vorbeizuschauen, wenn sie vielleicht einmal zufällig ...

Also, sie wird sich nicht lange bei Klaus aufhalten, dann gleich morgen oder übermorgen weiterfahren nach ... Santorin. Der Name klingt magisch. So wie alle diese Inseln die Namen ihrer Mädchensehnsüchte tragen: Andros, Mikonos, Paros, Iraklia, Milos, Ios. Aber: Santorin! Dort möchte sie sein. Es gibt die Legende von Atlantis. Santorin, das IST Atlantis, das versunkene Traumland unter dem Meer. Da ist mythischer Grund. Voller Traurigkeit, doch längst nicht hoffnungslos, zieht es Minou stark in die geheimnisvolle Welt der Ägäis hinein. Ein Sog ...

*



DIE BLAUE WITWE VON ÄGINA

Minou wundert sich ziemlich, als die beiden Männer sich jetzt fertigmachen, um mit ihr auf Ägina von Bord zu gehen. Hatten sie nicht am Anfang gesagt, dass sie tiefer nach Süden wollten?

Kaum läuft das Schiff am Kai ein, da reißt man dort Transparente mit kyrillischen Buchstaben in die Höhe. Eine Menschenmenge bricht in wilde Jubelrufe aus. Kommen Stars? Kehrt eine siegreiche Fußballmannschaft heim? Doch nur normale Leute passieren die Gangway. Ein Mann trägt auf seinen Schultern ein schwarzlockiges Bübchen. Das drückt sein kleines Gesicht in seines Vaters Kringelhaar, blinzelt scheu mit einem Auge hervor. Andere männliche Aussteigende haben Frauen und halberwachsene Kinder im Schlepptau, alle auf Hochglanz poliert, wundersam elegant eingekleidet. Die Menge stürzt sich den Ankömmlingen entgegen, kaum dass sie den Boden der Insel betreten.

"Americanos sind es. Emigranten, die heimkehren", sagt Tomas.
Die Männer bringen der Sippe stolz, manche mit feuchten Augen, ihre Söhne und Töchter dar, die auf der anderen Seite des Atlantiks geboren, jetzt zurückgekehrt sind in den Schoß der Familie, wenn auch nur für die Dauer eines kurzen Besuches.

Schwarz eingemummte alte Frauen und verwitterte Babbos umarmen ihre Söhne, ihre Enkel unter Wangenküssen, Tränenausbrüchen, Ausrufen der Verzückung. Die Menge hat die Angekommenen aufgesogen und im Triumph in die Mitte genommen.

"Eine Feier scheint sich anzubahnen. Patriarchenbegräbnis oder Hochzeit? Da kommen sie sogar aus Übersee", sagt Tom und: "Nichts wie weg. Los, dort hinüber, bevor der große Run auf die Droschken losgeht!"

Er zieht Minou am Ellenbogen heraus aus dem Trubel. Drüben stehen offene Pferdekutschen. Die werden bald belegt sein. Es sind die einzigen Transportmittel auf Ägina. Es gibt keine motorisierten Fahrzeuge hier.

Minou fühlt sich eingekeilt, als sie zwischen den beiden neuen Bekannten im Fuhrwerk sitzt. Denn da sind noch andere, fremde Leute. Sie spürt die Schenkel in kurzen Shorts, die muskulösen, behaarten Waden der beiden Männer, die an ihre ebenfalls nackten Beine anklatschen, wenn der Karren über Unebenheiten im Weg holpert. Der Weg ist voller Schlaglöcher. Sie spürt, wie sich Gesäß an Gesäß reibt, jedesmal wenn sie in dem Gefährt hin- und hergeworfen werden. Das Anrempeln ist peinlich. Für Minou. Jerry lächelt verlegen: "Sorry, Lady."

Auf der Sitzbank gegenüber mampfen Griechenkinder Brot und Feta. Die Kutsche rattert am Meer entlang. Sonnenheißes, schwitzendes, fremdes Muskelfleisch hautnah gegen ihres gedrückt, das ist zuviel. Das kann sie nicht so gut verkraften. In der offenen Kutsche riecht es nach Schweiß, nach Knoblauch und Käse, nach dem Aftershave ihrer beiden Begleiter. Vom Meer weht der algige Ozeanwind.

Jetzt kommen sie nach Souvala, wo sich die drei Ankömmlinge gleich nach Zimmern umsehen. Minou findet das Restaurant von Klaus an diesem Tag nicht, sucht auch nicht lange herum. Sie mietet einen billigen, kargen Raum in einem einfachen Haus, eher einer Steinhütte, die kaum höher ist, als sie selbst. Je mehr Geld sie spart, desto länger kann sie mit dem verbliebenen Rest unterwegs sein. Die Männer wollen sich ein Hotelzimmer suchen. Sie scheinen auf Komfort Wert zu legen. Minou braucht das nicht.

Dass man sich in einer Stunde etwa, in dem Lokal dort drüben treffen wolle, ruft Tom Minou beim Weggehen zu und zeigt mit der Hand hinüber.

Das schlichte Kafenion, wo sie nachher zu dritt beisammen sitzen, scheint die Domäne der Kartenspielerinnen zu sein. Hier und draußen an Tischen vor der Tür sieht man Frauen ohne Männer, Grüppchen von Frauen ... ein rarer Anblick in griechischen Schänken. Sie spielen Bridge und Canasta. Die gleichen Spiele wie auf La Serena in Sizilien. Es sind dies Damen aus Athen, die auf der Insel ihre Zweithäuser haben und mit den kleinen Kindern den Sommer hier verbringen - wegen der ungefährlichen, seichten Badestrände. Die brotverdienenden Familienväter bleiben im höllisch aufgeheizten Athen, kommen nur an Wochenenden herüber.

Das erfährt Minou von einer Frau, die im Waschraum neben ihr am Spiegel sich das Make- up richtet. Sie kauderwelschen in Englisch. "Ach", sagt die Dame, "wir tun von morgens bis abends nichts anderes als Kartenspielen. Man langweilt sich zu Tode ... immer die gleichen Gesichter ... Thats bad. It can be deadly", seufzt sie, "aber es ist ‚paradise for the children."

Dann will sie von Minou wissen, ob sie Lust hätte, zu einem kleinen, späten Snack zu ihr zu kommen ... gegen acht Uhr am Abend? Ihre beiden Begleiter solle sie doch auch mitbringen. Nicht weit von hier wohne sie. Das große Haus mit den blauen Fensterläden dort am Hang. Ob sie es sehen könne?

*

Später im Wohnzimmer der Frau sitzt man auf hellen Couchpolstern. Ein Dienstmädchen, ziemlich jung, in Servierschwarz gekleidet, ein weißes Spitzenschürzchen eng um die hübschen Hüften gezurrt, mit weißem Häubchen auf zurückgebundenem nachtdunklem Glatthaar, stellt Schalen mit Knabbergebäck und Nüssen auf den großen Glastisch vor sie hin, bietet den Besuchern Wein an, Selterswasser. "Oder lieber Metaxa?", arrangiert dann auf einer Anrichte ein improvisiertes, reichliches Buffet mit allerhand gedünstetem Fleisch und Fisch, mit Salaten, Brot, Pasteten.

Die Hausfrau mache einen ‚unternehmungslustigen Eindruck‘ und sei nicht zu verachten, flüstert Tom Jerry auf Englisch zu. Aber Vorsicht mit der Magd. Die lasse man lieber außen vor. Man dürfe die Hausdame doch nicht verärgern. Solche und ähnliche muntere Sprüche lassen die beiden los mit einem Zwinkern im Blick und hauptsächlich zu Minou hin und tun so, als ob sie alles im Spaß meinten, aber sie sagen es im Ernst ... "Na ja, mal sehen, was der Abend so bringt."

Die Gastgeberin kann sie schwerlich hören. Sie ist zu weit entfernt, gibt am Buffet dem Dienstmädchen Anweisungen.

Die griechische Dame, kurzfristig unbemannt - auch ihr Göttergatte hält in Athen die Stellung - ist mit ihrer Sonnenbräune, dem bordeauxrot gefärbten, gut geschnittenen Haar, gepflegt und gewiss keine graue Maus.

Eine, die noch irgendwie attraktiv ist ... wenn man beide Augen zudrückt, denkt Minou, plötzlich hochmütig geworden. Aber sie hat auch ein bisschen Mitleid mit der Armen: Eine beinahe alte Frau! Sie sieht aus, als ob sie schon vierzig wäre.

Am Gespräch kann Minou nach einer Weile nicht mehr teilnehmen. Die Unterhaltung, zuerst in gequältem Englisch, wechselt bald zu lebhaftem, lautstarkem Griechisch über. Die Dame lässt die Deutsche, was die Konversation betrifft, auf dem Trockenen sitzen und belegt die beiden orientalischen Männer temperamentvoll mit Beschlag. Warum soll sie sich weiter mit einer ihr ziemlich fremden Sprache herumquälen, wo die Gäste, die für sie am meisten zählen, die ihrige so perfekt beherrschen? Die beiden Glücksjäger grinsen sich ab und zu schafsnaiv an.

Minou nickt immer wieder, wenn die Magd herbeikommt und durch bescheidene Gesten anfragt, ob sie ihr noch etwas nachlegen dürfe. Die füllt dann ihren Teller mit wohlschmeckenden Happen. So futtert Minou in der nächsten Stunde viel Zeug in sich hinein, trinkt reichlich Wein dazu. Die üppig gefüllten Platten auf dem Büffet leeren sich rasch. Auch Tom und Jerry scheinen hungrig wie Wölfe.

Minou ist nicht ganz draußen aus dem Gespräch. Hin und wieder wenden sie sich doch an sie. In Englisch. Ansonsten dolmetscht Tom ihr in groben Zügen. So weiß sie ungefähr, was sie reden und kommt sich nur ein bisschen verloren vor. Tom zwinkert ihr zu, als wolle er ihr zu verstehen geben, wie souverän er über der Sache stehe, wie ihn das Geschehen in diesem Haus bestenfalls amüsiere.

Die Gastgeberin spielt immer nervöser an ihrer vorteilhaften Frisur herum, wird ständig munterer. Jerry lächelt viel. Redet kaum ein Wort.

Jerry sieht unglaublich attraktiv aus.
Er passt nicht hierher, denkt Minou, so schön, rätselhaft, schweigsam, wie einer, der eigentlich in die Einsamkeit gehört, die Einsamkeit von Sanddünen, Wüstenhimmel. Jerry ist Araber, das hat Tom ihr gesagt. Beduine!? Davon zeugt sein stolzes, wunderbares Gesicht. Etwas Unbändiges ist in seinem Wesen. Hochfahrendes. UND etwas sehr Ruhevolles. Lauter Widersprüche!

Mehr als sie alle raucht Jerry von den amerikanischen Zigaretten, die in einem zylindrischen Chrombehälter auf dem Tisch stehen. Er raucht Kette. Das hat er schon auf der Fähre getan. Jerry fühlt sich hier bei der Griechin offensichtlich wohl. Toms Gesicht aber, während auch er Qualmringe in die Luft bläst, behält einen recht gelangweilten Ausdruck.

*


Es ist elf Uhr. Die Angestellte wurde bereits ins Bett geschickt. Sie trinken weiter reichlich Wein, alle vier.

Die Dame wird zunehmend lockerer. Plaudert, lacht. SINGT. Längst hat sie Schallplatten aufgelegt. Klatscht laut den Takt mit.
Weil es heiß ist, zieht die Frau ihre Bluse aus. Trägt immerhin ein kleines Büstenoberteil aus weißer Seide darunter.

Minou hat gewusst, dass diese Gastgeberin es von Beginn an auf die Männer abgesehen hat, auf Zuwendung. Sie schreit geradezu nach Angepacktwerden. Und nach mehr. Ihre Lippen spitzt sie zu einem Herzmündchen. Verdreht verzückt die Augen. Drückt einmal Jerry, einmal Tom Küsschen ins Gesicht. Jetzt hat sie ein Mittel gefunden, sich Hautkontakt mit den beiden zu sichern. Sie tanzt mit ihnen. Abwechselnd. Fest angepresst. Schwingt ihren Hintern. Schwenkt die Hüften. Tiriliert ... Sie glüht.

"Ich kann auf diese Art Musik nicht tanzen", sagt Minou, als Tom sie bei den Handgelenken von der Couch hochziehen will. Sie kuschelt sich tiefer in die Kissen.

Am Ende ist die Frau aufgelöst, als komme sie aus der Sauna. Lässt plötzlich ihre obere Hülle fallen. Da springt ihr Busen ins Freie. Nackt: Blopp ...

"Schaut her, wie toll ich noch bin!" Das sagt sie natürlich nicht, strahlt aber vor Frivolität und Stolz. Ihre Brüste sind ... sehenswert.

Trotzdem, Minou tut die Frau leid. Arme Alte. Es ist peinlich, wie sie sich gehenlässt, wie sie nach Zuwendung lechzt.

Da merkt Klein-Minchen erstaunt, dass die Männer überhaupt nicht so abgeneigt sind, wie sie es eigentlich beim Anblick dieser Schamlosen hätten sein müssen. Im Gegenteil ... sie scheinen sich beide als Erfüller ihrer Matronen-Sehnsüchte geradezu anzupreisen.

Am Schluss tanzt Jerry mit der beschwipsten Gastgeberin zu seltsamer Schallplattenmusik. Griechische Folklore scheint es, urrgh, oder Türkisch-Orientalisches, was da jetzt laut durch den Raum leiert. Wie Bauchtanzmusik aus dem Harem eines Scheichs. Jerry hat den massigen Körper der Frau fest im Griff, hält sie an sich gedrückt, hauteng, zupackend. Nicht einmal ein amüsiertes Grinsen ist auf seinem Gesicht, als er an Minou vorbeitanzt. Das zumindest hätte sie erwartet. Statt dessen die reinste Andacht. Hingegeben scheint er an die Musik. An die Frau. Seine Augen geschlossen, die Lider gesenkt, schiebt er seine aufgelöste Lady an Minous Couchplatz vorbei. Er nimmt die außer Fassung Geratene, sich langsam von Make-up und Kleiderhüllen Verabschiedende tatsächlich todernst. Das kann doch nicht wahr sein! Einer wie er und dann eine solche ... aufdringliche ...

Irgendwann später zieht Tom Minou, ruck, zuck, von der Couch hoch. Sie war bei Musik und Wein schon fast eingenickt. Es ist halb zwei Uhr nachts.

"Come on, sleepy, we must go!"

Er verabschiedet sich korrekt von der an Jerrys Arm hängenden, nicht mehr ganz standfesten aber fröhlich vor sich hinträllernden Hausfrau. Tom dankt der beschwipsten Gastgeberin wie ein Gentleman for a "very lovely evening."

Und Jerry? Der macht eine leichte Kopfbewegung in Richtung Dame, als Tom ihn fragend ansieht und nach draußen zeigt. Nein, Jerry bleibt da. Dass er bei einer solchen Frau ... na ja, das überrascht Minou schon sehr.

Nachher an der Tür ihrer Pension hält Tom Minous Hand fest, will wissen, ob er für ein paar Minuten mit hinaufkommen solle. Für eine Zigarettenlänge oder so...
"Nein", sagt sie.
"Ach komm, Mädchen, sei locker!" Er packt sie ganz schön fest, versucht sie zu küssen.
"Lass mich, lass mich, sonst ist alles aus!"
"O, schon gut ... ok. in Ordnung ... es war reine Höflichkeit, Madam," meint er grinsend, "andere Frauen sind beleidigt, wenn man KEIN solches Angebot macht!" Sein Mund lacht. Er ist nicht böse. Er geht.

"Treffen wir uns morgen früh im Kafenion zum Breakfast?" ruft er, schon an der Straßenbiegung, "wer zuerst da ist, wartet."


Im Bett, in dem spartanischen Zimmer, überfällt Minou wieder die Einsamkeit. Ernando, Ernando ... Er hat ihr ja nie wirklich gehört, nicht einmal in den allerengsten Momenten, das hatte sie gespürt, nur ... den Traum von ihm, den wollte sie immer weiterträumen. An sein Bild, seine Worte, seine Berührungen denkt sie. Das Wissen, dass sie ihm nahe gewesen ist und er sie, wenn auch nicht geliebt, so – zumindest - leidenschaftlich begehrt hat, gibt ihr so etwas wie einen dunklen Stolz.

Minou liegt schlaflos auf dem Bett. Angezogen mit dem weißgrundigen, knöchellangen Kleid, auf das lauter bunte Sommerblumen gedruckt sind. Es ist zwei Uhr in der Nacht. Sie fühlt sich schmutzig, verschwitzt. Sie hat Alkohol getrunken und geraucht. Sie ist ‚tipsy‘. Das Kleid ist aus hauchdünnem Stoff und knittert nie. Sie macht sich nicht mehr die Mühe, es auszuziehen.

Und dann das Übliche: Ernando, Ernando. Schauer jagen ihr übers Rückgrat. Sie ist krank. Die Begierde nach ihm tut im ganzen Körper weh. Vor Sehnsucht und Verlassenheit fängt sie auf einmal an, wild zu schluchzen. Wie ein Kind. Das Allerschlimmste: Mit keinem, den sie jetzt kennt oder der je kommen wird, kann sie sich die Liebe vorstellen. Nie wieder wird sie sich einem Mann hingeben. Das ist klar.

*

Den nächsten Tag verbringt sie mit Tom und Jerry am belebten Touristenstrand und immer wieder im Wasser. Minou hat ihren weißen Lieblingsbikini angezogen. Es ist ohnehin der einzige, den sie noch besitzt. Darauf sind lauter ballspielende Kätzchen aufgestickt. Das Bikinihöschen reicht nur knapp über den Nabel und das Oberteil lässt fast ein Stück vom Brustansatz sehen. Die beiden Teile sind also sehr winzig. Doch viele junge Frauen tragen ähnlich gewagte Badeanzüge in diesen Jahren.

Was für ein Tag! Die Trauer der Nacht hat sich verflüchtigt. Nach der Morgenwäsche mit Wasser aus einem großen Steingutkrug riecht sie jetzt frisch und aufregend. Denn sie hat auch einen Tropfen ihres besonderen Parfums an sich gerieben.

Alle Leute, mit denen Minou es heute zu tun hat, behandeln sie besonders freundlich. Nicht nur die, die sie im Bikini sehen. Schon der Kellner im Kafenion beim Frühstück, als sie noch vollständig angezogen war, ließ sie keinen Augenblick aus den Augen. Oder der Kioskbesitzer. Und jetzt fremde Leute am Strand! Sie scheint allen zu gefallen. Man zeigt ihr, dass man sie für ein schönes Mädchen hält. Na ja, Minou ist zu unbeholfen, zu linkisch, auch zu wechselhaft in ihrem körperlichen und seelischen Befinden, um eine wirklich schöne Frau zu sein. Obwohl sie bei den Urlaubern in Sizilien, auch bei ihren Mitarbeitern im Campeggio als so eine ... na ja ... Von jungen Deutschen hatte sie Briefe oder Karten bekommen, verliebte, anhimmelnde, wenn diese schon wieder zuhause im Norden waren. Unbeholfene Versuche, den Kontakt zu halten. Obwohl sie stets kühl gewesen war und bei ihr von Flirterei nicht die Rede hatte sein können. Sie hatte die guten Schwingungen vage gespürt, die ihr manche Männer entgegengebracht hatten. Sie konnte sie nicht aufnehmen, denn sie dachte ja nur an E., den Herrlichen, und so weiter ... Das offensichtliche Begehrtsein im Campeggio hatte ihr Selbstbewusstsein kaum stärken können. Auch jetzt glaubt sie nicht an ihre Attraktivität. Weiß sie doch, dass sie anscheinend manchmal hübsch ‚wirkt‘, die meiste Zeit über aber sieht sie ‚schlecht‘ aus ... das heißt: elend, müd, viel zu dürr im Gesicht.

Jerry und Tom in ihren knappen, dunklen Badeslips stellen die übrigen Männer am Strand von Ägina in den Schatten. Es ist ihre auffallende Größe, ihr Körperbau, es ist ihr selbstbewusstes Benehmen ... E i n einziges, so herausragendes Exemplar von Mann würde alle Blicke anziehen. Aber gleich zwei beisammen! Minou ist schon etwas stolz, Tom und Jerry um sich zu haben. Hat die Beiden ganz für sich allein. Am nächsten Tag wird das schon anders sein.

An diesem Abend essen sie zu dritt in einer kleinen Taverna im älteren Teil des Ortes. Nein, nein, den Hangout der Kartenspielerinnen, die anscheinend wie die Sirenen aus Homers Odyssee auf zufällig vorbeireisende Männer lauern, will besonders Jerry jetzt meiden.

Tom ist gereizt, als Minou ihr Mahl am Ende selbst bezahlt.
"Ich habe dich eingeladen, ich übernehme das!" ruft er.
"Nein!" sagt sie.

Er lässt sich den Schein vom Patron zurückgeben, den das Mädchen diesem schon gereicht hat, schiebt ihn heftig wieder vor Minou hin und zahlt die Gesamtrechnung aus seiner Tasche.
Er zahlt auch für Jerry mit. Der scheint das gewohnt zu sein.
Später entlocken die beiden Männer Minou das Versprechen, den nächsten Tag wieder mit ihnen am Strand zu verbringen.
So geschieht es.

Am folgenden Mittag dann reißt sich Tom eine junge Amerikanerin auf, Anne aus Oregon. Irgendwie hat er nämlich doch langsam festgestellt, dass die Deutsche nicht so recht zum Sich-Verführen-Lassen aufgelegt ist.

Tom und Anne fackeln beide nicht lange. Die zwei verbindet nach ein paar Stunden bereits mehr miteinander als ein Freundschaftskuss. Sie haben es sichtlich eilig mit dem ‚Kennenlernen‘ ...

Anne ist mit einer Jugendreisegruppe unterwegs. Sie löst sich, Tom zuliebe, von ihren Leuten. Nun sind sie in den nächsten Tagen immer zu viert am Strand und bei den Mahlzeiten.

*

Merkwürdig. Nach zwei Tagen wohnen Tom und Jerry schon in Minous Pension. Ein Doppelzimmer ist frei geworden, das die Männer gleich belegt haben. Auf diese Weise sei es weniger weit zum Strand, sagen sie.

Am Abend klopft Tom an Minous Tür, fragt, ob sie nicht doch ein bisschen zu ihnen herüberkommen möchte. Wein hätten sie, Sandwiches, Radiomusik. Anne sei auch da. Minou schüttelt den Kopf.
"Nichts zu machen? Schade."

"Nichts zu machen!"

*





ELENA TAUCHT AUF


Minou versteigt sich immer mehr in ihre wehmütige Liebe zu Ernando, beschäftigt sich unaufhörlich damit. O mein Gott! In ihrer Erinnerung wird diese Geschichte von Tag zu Tag bedeutender, wenn das überhaupt noch möglich ist, bis sie ihren ganzen Lebenshorizont ausfüllt. Ihre Grundstimmung ... Traurigkeit!


Die beiden Männer glauben zu spüren, dass die Kleine gern mit ihnen zusammen ist. Aber sobald sich ihr einer anders als kumpelhaft nähert, zieht sie sich augenblicklich in ihr Schneckenhaus zurück.
Sie scheint niemals wirklich frei und gelöst zu sein.
"Was für ein komisches Ding. Die ist doch total verklemmt!"
"Lass sie!"

"Kind" wird sie von den beiden genannt, wenn sie untereinander über sie reden ... the child.

Am nächsten Morgen klopfen sie schon wieder an ihre Tür. Sie wollen, dass sie herüberkomme, mit ihnen auf der Terrasse frühstücke.
"Nein, nein", wehrt Minou ab.
"Chickenchild!" necken sie.

Die Geschichte mit Tomas und der amerikanischen Studentin ist bald zu Ende. Weil Elena auftaucht. Die gefällt ihm noch besser als Anne. Da wird die Amerikanerin eiskalt ausgeschaltet. Minou gegenüber aber sind die beiden Männer gleichbleibend freundlich. Minou ist froh, dass sie so kühl war, sich nichts vergeben hat. Die Stiefmutter, hat recht. Sie hat es Minou ja auch immer wieder gesagt: Wahre Männer verachten 'leichtlebige' Frauen.

Elena, die Athenerin, ist zu einem Kurzurlaub vom Festland herübergekommen und wohnt bei ihrer Schwester, die auf Ägina verheiratet ist.

Bei den Mahlzeiten und am Strand, ist die Griechin nun den ganzen Tag mit den beiden Männern und Minou beisammen.

Elena weiß, was sie will. Es gibt ein Ziel, weswegen sie auf die Insel gekommen ist und sie geht von Anfang an geradewegs auf dieses Ziel los. Sie ist lustig. Wie die kartenspielende Strohwitwe, so packt auch diese Griechin das, worauf sie aus ist, nicht zimperlich an, nimmt gleich die Stiere bei den Hörnern, sozusagen. Offensichtlich hat sie die beiden Machos in der Tasche, kaum dass man sich einen Tag lang kennt.

Elena sichert sich auf ihre Art ein gutes Stück vom hochmütigen Tom, vielleicht das beste und brauchbarste. Auch Jerry kommt nicht ungeschoren davon. Sie packt die zwei bei ihrer Mannesehre. Im wahrsten Sinn des Wortes.

Kaum am Strand aus dem Wasser gestiegen, jagt Elena beide durch die Gegend: lachend, kreischend, grabschend. Sie macht kein Hehl daraus: hinter den schönen Sächelchen ist sie her, die die zwei so lässig in ihren Badehosen tragen. Sie spielt ein bisschen herb die Clownin. Mit blitzschnellen, klitzekleinen Attacken erwischt sie ab und zu durch den Stoff das, was sie eigentlich nicht erwischen dürfte. Dann heult sie triumphierend auf ...

Jerry und Tomas kontern Elenas derbe Angriffe unter die Gürtellinie mit lautstarkem Gequieke, Gelächter und dramatisch inszenierten Fluchten über den heißen Sand.

Die umliegenden Sonnenanbeter starren. Wenn die Verfolgerin einen der Männer einholt, packt sie lüstern zu. Dann springt der so Angemachte wie von der Tarantel gestochen davon, prustend, sich die edlen Teile haltend und zetert wie eine attackierte Jungfer.

Die Leute am belebten Lido staunen, stieren ... Familienmütter schütteln die Köpfe. Kinder kichern.

Jerry und Tom, die baumlangen Kerle, rennen vor dem eher klein gewachsenen Temperamentbündel weg, dem es aber immer wieder gelingt, einen von ihnen bei seiner männlichsten Stelle zu packen. Jerry, auf einem Fuß, sich den anderen haltend, hüpft wie Rumpelstilzchen im Kreis herum, fleht Elena lachend, prustend an, ihn doch bitte zu verschonen.

Selbst locker gesinnte Touristen können es nicht glauben: die morallosen Geschöpfe treiben es wirklich bunt. Minou versinkt vor Scham fast in den Boden. Eine Lady springt von der Liege, marschiert auf Elena zu, bleibt wie angewurzelt auf halbem Weg stehen, verzieht nur stumm ihr Mündchen. Da ist Hopfen und Malz verloren, denkt sie wahrscheinlich und kehrt um.

*


JERRYS LIEBESANGEBOT


"Let's have FUN", sagt Elena später in der Pension mit einem Augenzwinkern: "Let's have a party tonight!" Sie kaufen Wurst, Brot, Tomaten, Käse ... Sie richten im Zimmer der Männer Sandwiches und kleine Häppchen her. Tom besorgt Wein, Metaxa, Cola. Ein Grammophon hat Elena sich bei ihrer Schwester ausgeborgt. Sie legt gleich die Anna-Mambo-Platte auf aus dem Film 'Bitterer Reis'. Danach südamerikanische Weisen: 'Cha-cha-cha. Erico cha cha cha ... '

Die Griechin und die Männer sind gute Tänzer. Voller Rhythmus. Voller Kraft. Da kann Minou nicht mithalten. So wie diese drei könnte SIE niemals aus sich herausgehen.

Sie tanzen auf der Terrasse:

"Arrivederci Roma ... "

Es glänzen die Sterne. Der Himmel FUNKELT vor lauter Sternen. Und die Musik: "Arrivederci Roma ... come say good-bye to Rome ... " Tom und Elena sind bald im Innern des Zimmers verschwunden.

Am Ende tanzen nur Jerry und Minou. Jerry hat sich vorgenommen, dieses halsstarrige Ding heute in sein Bett zu bekommen. Er ist noch draußen mit ihr. In der Mondacht. Da drängt er sie langsam in den Raum hinein. Allmählich.

Im Zimmer tun sie dann keinen Schritt mehr. Bewegen sich doch. Er wiegt sie im Rhythmus der Musik hin und her, während aus dem Grammophon das 'Only you' der Platters tönt. Das ist in jener Zeit Minous MELODIE. Der Sound trifft sie mit voller Wucht. Tief innen. Traurigkeit, die die ganze Zeit in ihr gewesen ist, brodelt auf wie ein dunkler Schwall. "Only you" ... die Weise, die sie mit Ernando verbindet und mit dem, was war. Da hat Jerry keine Chance. In seinen Armen denkt sie an Ernando. Warum müssen sie das Lied gerade jetzt spielen, wo sie durch Wein und Mondschein innen geradezu aufgeweicht ist vor Sehnsucht. Wo sie schon wieder heult?

Das Lied hat Minou zuletzt in Taormina gehört: "Only you and you alone, can thrill me like you do.." Es ist noch nicht lange her. Es war vor einer Ewigkeit.

*

Als der Song aus dem Grammophon dringt, da ist es Minou für einen Augenblick, als ob sie wieder in Sizilien sei und in SEINEN Armen .

Es ist aber der Mann aus Alexandria, der sie eng an sich gepresst hält. Da laufen ihr lautlos die Tränen übers Gesicht. Jerry nimmt ihr Gesicht in die Hände. Saugt ihr die Feuchtigkeit von den Wangen. Drückt mit seiner Zunge ihre Lippen auseinander. Hart. Minou sträubt sich. Sagt "nein", stammelt, das dürfe er nicht tun. Kein solcher Kuss. Alles, was sie nötig brauche, sei ein Freund, ein großer Bruder oder so etwas. Wenn er das für sie sein wolle, dann wäre es gut oder so ...

Jerry und Minou sind jetzt im Zimmer.
Die Terrassentür und das gegenüberliegende Fenster des Raumes stehen weit offen. Starker Wind, der über die Ägäis kommt, fegt durch den Raum. Wie ein volles, gelbes Segel bläht sich der Vorhang nach draußen. Irgendwo auf dem Meer muss ein Unwetter toben. Wenn die Grammophon-Musik einen Augenblick aussetzt, hört man die Brandungswellen heftig aufs Ufer schlagen.

Minou weint.
"Warum geht es dir so schlecht, Kleine?", fragt Jerry.
"Ach, lass!"

Elena und Tom ringeln und rangeln sich auf der Schlafstatt. Eine Kerze in einem roten Glas wirft flammend roten Schein über ihre verschlungenen Leiber.

Jerry und Minou im Zimmer bewegen ihre Füße kaum mehr und tanzen doch. Wiegen ihre Körper zum Klang der Musik. Küssen lässt sie sich auch jetzt nicht. Ihre fest zusammengepressten Lippen fangen seine Küsse auf. Aber seine Zärtlichkeiten machen, dass sie taumelig wird. Er berührt mit seinen Lippen ihren Scheitel leicht. Berührt mit seinen Lippen ihre geschlossenen Lider. Sanft. So, als streife sie der Flügel eines Schmetterlings. Seine Arme halten sie aber fest. Sie spürt seine Hüften. Schmal. Knochig. Spürt seinen Schwanz, wie er hart ist und sich gegen sie presst. Seine Augen sieht sie aber glitzern in fremdem Feuer, als sie unerwartet seinen Blick kreuzt. Er ist ertappt: Seine Erregung gilt nicht wirklich mir, denkt sie. Es ist die Lust des Jägers bei jedweder Art von Beute. Nackt und blank springt ihr die Jagdlust aus seinen Augen entgegen. Aus gelbgesprenkelten Tigeraugen. Aus dem Land der großen Raubkatzen kommt sein Blick. Jerry. Auf Überrumpelung ist er aus. Nicht aufs Lieben. Seine Augen haben ihn verraten.
Sie blicken durch mich hindurch, spürt sie.

Sie ist die ganze Zeit über vor ihm auf der Hut gewesen. Er hat sie einlullen wollen mit gut gespielter Zärtlichkeit.

Am Schluss öffnet sie doch ihren Mund für ihn. Denn er zwingt sie dazu. Sie kann ihm nichts mehr entgegensetzen. Er küsst sie wild, sie küsst ihn nicht, lässt sich küssen ... passiv, passiv ... Wortlos drängt er sie zu dem freien Bett. Sie widersetzt sich. Er versucht es mit sanfter Gewalt. Sie sträubt sich. Dann übt er mehr Gewalt aus. Da reißt sie sich los. Sekundenrasch. Das hat er nicht erwartet, dass so eine plötzlich hochschnellt. Blitzartig rast die Kleine über den Flur zu ihrem Zimmer. Er hinter ihr her. Sie dreht den Schlüssel von innen um. Im letzten Moment. Er ist schon bei der Tür.

Von draußen schlägt er gegen die Füllung. Wütend. Mit den Fäusten. Tritt auch dagegen. Zwei- oder dreimal: "Mach sofort auf, Minou."

Sie ist froh, dass sie hat entkommen können. Er hört sie drinnen vor Zufriedenheit kichern. Die kleine Irre.

Jerry lockt jetzt durch die geschlossene Tür. Brav, wie der Wolf, der Kreide gefressen hat. " Lass mich herein, bitte! Für eine Minute nur! Nur so zum Reden. "I won't touch you. Word of honour!"

Endlich muss er lachen. Na, ja, meint er, sie sei SCHON ziemlich ... kindisch. Er tut, als mache es ihm nichts aus. Geht leise pfeifend davon. Da muss sie grinsen, als sie sich vorstellt, dass er kaum zurückgehen kann in sein Zimmer, wo die beiden anderen gerade bei ihrer besonderen Tätigkeit sind.

Es ist ihr leicht gefallen, zu widerstehen. Obwohl sie sehr verwirrt ist und nachher wieder anfängt, leise zu heulen, als sie allein auf ihrem Bett liegt. Vielleicht sind es auch die Drinks, die Musik-Schlager von eben, die sie so sehnsüchtig gemacht haben. Es ist aber nicht Jerry, von dem sie geliebt werden will.
Ach, er ist auch nur hinter Abenteuern her, denkt Minou. Dabei hatten es die beiden Männer bisher verstanden, ihr das Gefühl zu geben, sie sei anders, sei etwas Besonderes.

Ist es nicht das, was sie ohnehin von sich denken WILL , dass sie besonders ist, ernster, vielleicht besser als ‚diese‘ Frauen. - Nein, sie wird NICHT zu haben sein!

*


Elena schläft seit der "Party" jede Nacht im Zimmer der Männer, wo zwei schmale Betten an entgegengesetzten Wänden stehen. Minou hätte gern gewusst, wie sie das abends anstellen, wenn sie zu dritt sind in diesem Raum. Es scheint ein geheimes Einverständnis zu geben zwischen den zwei Freunden und der Frau, eine körperliche Nähe, von der sich Minou selbst ausgeschlossen hat. Am Strand und bei den Mahlzeiten in Restaurants sind sie jedoch stets alle vier beisammen.

Langsam fängt Minou jetzt an, sich, wenn auch nur tagsüber, manchmal im Zimmer der Männer aufzuhalten. Im Zimmer – es riecht nach Zigarettenrauch, Körperdunst, Kaffee - herrscht eine lockere, heimische Atmosphäre. Auch gibt es viel zu lachen bei den dreien. Seit Elena da ist, fühlt sich Minou wohl, wie in einer großen Familie. Sie wäre froh, wenn das lange so weitergehen und sie immer gute Freunde sein könnten. Oder Brüder und Schwestern. Elena ist eine quirlige, laute Frau. Eine sehr rührige. Sie braut gleich nach dem Aufstehen auf einem Kerosinkocher türkischen Kaffee. Wenn der Kaffee fertig ist, wenn einer der Männer Brot und Feta im kleinen Lebensmittelladen um die Ecke geholt hat, klopfen sie an Minous Tür und rufen sie herüber. Sie frühstücken dann alle vier gemeinsam auf der Terrasse. In der Morgensonne. Danach schlendern sie, mit ihren Badesachen bepackt, gemächlich hinunter zum Strand.


Am Abend nach dem Essen sitzen sie lange beisammen in oder vor den Kneipen am Meer. Gern gesellen sich Touristen und Einheimische zu ihnen, kaum dass sie sich niedergelassen haben. Jerry und Elena scheinen "everybodys Darlinge" zu sein. Sie ziehen Menschen magisch an. Tom ist viel zu hochmütig und snobistisch. Und Minou ... na ja ...

*

Die Athenerin geht im Zimmer der Männer ein und aus. Einfach so. Wann immer sie will. Sie haben ihr einen Schlüssel gegeben.

Minou macht sich Gedanken:
Natürlich schläft Elena nur mit Tom, redet sie sich ein. Sie will es nicht wahrhaben, dass auch Jerry ... ‚Doch nicht Jerry! Der hat ja MICH im Sinn!

Aber genau weiß man nie, was die drei da wirklich treiben. Man braucht sie nur anzusehen: Wie sind sie lässig! Wie nehmen sie das Leben und die Liebe leicht!

Einmal kommt Elena zu Minou ins Zimmer, setzt sich aufs Bett. Sie weiß von der Geschichte mit Ernando.
"Das ist doch schon so lange her. Vergiss es! Hab doch ein bisschen Spaß! Jerry mag dich gern, warum läufst du immer davon? Er ist ein guter Mann. Es würde dir bestimmt gefallen ... mit ihm!" Sie lacht, errötet.

"Ach Elena."

Allein die Erwähnung irgend eines Mannes, der nicht Ernando ist, macht dass Minou sich vor Verzweiflung krümmt. Und die erotischen Talente Jerrys könnten ihr nicht gleichgültiger sein ...
"Du schläfst also mit IHM auch!", fragt sie trotzdem voller Neugier.
Die Griechin sagt nichts, lächelt aber.
"Wen magst du am liebsten ? Tom oder Jerry? Bitte, ich bin neugierig!" sagt Minou.
Elena reißt die großen Augen auf, grinst, zuckt die Schultern..
"Och, sags doch!"
"Keinen".
"Glaub' ich nicht. Glaub' ich nicht!!" schreit Minou .
Sie lachen beide.

"Ach, diese Typen werden dich doch nie wirklich gernhaben, nicht einmal achten!"
Da antwortet Elena, dass es zuhause bereits Menschen gäbe, die sie liebten und achteten und dass sie keinesfalls darauf angewiesen sei, von diesen beiden wahnsinnig GEMOCHT zu werden. Solang sie ihren Spaß miteinander hätten.

"Tom und Jerry sind natürlich Abenteurer ... heute hier, morgen dort. Nichts im Leben ist aber für die Ewigkeit ...!", sagt sie.

"Ich will das nicht ... ich will Dauer", murmelt Minou.

"I want to have fun. Ja, die Dinge zwischen Mann und Frau sollen einfach Spaß machen", sagt Elena. "FUN ... das ist es doch. Was sonst?"

Fun. Fun. Da windet sich Minou innen vor Abscheu. Das dreht ihr den Magen um. Es ist, als schlüge ihr Elena mit diesen Worten einen nassen Lappen ins Gesicht. ‚Fun‘ soll die Liebe sein, FUN! Wie kann man das Höchste, Aufwühlendste, das es auf Erden gibt, in die seichten Niederungen bloßen Vergnügens herabziehen! Sie begreift das nicht. Für sie ist die Liebe kein Spaß. Für sie ist sie das Größte, das Heiligste auch. Das Allergewaltigste im Leben. So gewaltig wie der Tod. Das einzige, das zählt. Das Wunder.


"Elena, wie schaffst du es‚ nachts mit einem Mann zu schlafen und dich am nächsten Tag so normal und locker ihm gegenüber zu verhalten, als sei nichts gewesen?"
"Vergiss nicht ... ich schlafe mit zweien", grinst Elena.
Ich versteh’s nicht, denkt Minou, ich kann mich keinem Mann hingeben, bei dessen Anblick mir nicht der Herzschlag bis in den Hals hinaufjagt, der Atem stockt und ich fast in den Knien zusammenbreche vor lauter Aufgewühltsein.

"Wenn ICH einen nicht mit jeder Faser liebe und begehre, wie soll ich da bei seiner Berührung Ekstase empfinden?", sagt Minou.
"Ach, Ekstase! Ein guter climax' ist für mich alle Ekstase, die ich brauche." Elena lacht. "Du siehst, ich habe keine Probleme ..."
Dass die zwei Typen viel von IHR, Minou, redeten, erzählt sie dem Mädchen auch.
"Jerry ist VERRÜCKT nach dir. Sei doch einfach mutig und schau, was daraus wird. Oder gefällt dir Tom besser? Sie sind beide 'gute' Männer. Am besten solltest du alle zwei ausprobieren. Wenn du aber keinen von ihnen haben willst, ist das auch okay. Sind sie dir zu eingebildet? Denkst du, dass sie Sex zu leicht nehmen. Allen Frauen gefällt so etwas ja nicht. Tom und Jerry. Es muss ja keiner von denen sein. Es gibt so viele attraktive Männer. Nur ... solltest du doch endlich einmal ein Risiko eingehen. Über deinen Schatten springen. Dich auf das Leben einlassen. Dann wirst du glücklicher sein."

"Ach, Elena! Ich kann nicht!"

*

In ihrem Zimmer auf Ägina, an diesem Abend, angetan mit nichts als ihrem Blumenkleid, findet Minou sich schön. Sie liegt, noch kühl und frisch vom Bad im Meer, auf einem frisch überzogenen Bett, nach ihrem besonderen Parfum duftend. Ruhig und gelassen. So sieht sie sich am liebsten. Da ist alles an ihrer Person und an ihrer Umgebung in Ordnung. Wenn jetzt Jerry hereinkäme oder Tom, würde sie ihnen bestimmt gefallen. Aber sie hat die Tür von innen verriegelt.

Sie blättert in einem kleinen, dünnen Büchlein, das sie immer bei sich trägt. Es ist ihr einziger Lesestoff, nimmt in der Reisetasche wenig Platz ein. Sie hat es vor Jahren zuhause in Marienstock gefunden. Auf dem Speicher. Damals, als Lisa entrümpelte. Alle Gedichte sind sorgfältig in Handschrift geschrieben und es trägt auf der ersten Seite Papas Name: Oskar Kern.

Papas Schrift sieht makellos schön aus. Fast wie gedruckt. Ein Kunstwerk. Jeder Buchstabe mit fantasievoll geschlungenen Ansätzen, leicht schnörkeligen, kühnen Bögen. Schwungvoll, aber nicht überladen. Weder krakelig noch krumm. Eine in den Mittellinien exakt gerade, stolze Schrift. Wie aus einem Guss. Und verspielter als männliche Handschriften für gewöhnlich sind ...

Papas Schrift hat Minou schon immer gefallen. Kaum in der Schule, hat sie auf der Schiefertafel versucht, genauso schön zu schreiben wie er. Das ist ihr nie gelungen.


Dass er sich Gedichte notiert hat, ist deshalb komisch, denkt sie, weil man ihn außer seinen zwei abonnierten Zeitungen nie etwas hat lesen sehen. Doch was weiß ich schon von ihm?

Es ist keinesfalls so, als ob Minou das Bändchen nun hoch und heilig schätzte, weil es von Papa ist. Sie vermisst weder ihn noch sonst jemanden aus Marienstock. Denkt überhaupt nicht an sie. Nein ... sie liebt ganz einfach die Gedichte in dem Heft. Sie sind von den berühmtesten deutschen Lyrikern.

Sie liest jetzt leise, aber mit hörbarer Stimme sich selbst etwas vor. Die Verse klingen so besonders. Sie helfen ihr, wenn sie allein und traurig ist. Sie kennt sie eigentlich schon auswendig:



Du bist Orplid, mein Land!
Das ferne leuchtet;
Vom Meere dampfet dein besonnter Strand
Die Nebel, so der Götter Wange feuchtet.

Uralte Wasser steigen
Verjüngt um deine Hüften, Kind!
Vor deiner Gottheit beugen
Sich Könige, die deine Wärter sind ... ...

*

Manche freilich

Manche freilich müssen drunten sterben
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andere wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Manche liegen immer mit schweren Gliedern
Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
Andern sind die Stühle gerichtet
Bei den Sybillen, den Königinnen,
Und da sitzen sie wie zu Hause
Leichten Hauptes und leichter Hände.

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
In die anderen Leben hinüber,
Und die leichten sind an die schweren
Wie an Luft und Erde gebunden:

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
Noch weghalten von der erschrockenen Seele
Stummes Niederfallen ferner Sterne.

Viele Geschicke weben neben dem meinen,
Durcheinander spielt sie alle das Dasein,
Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
Schlanke Flamme oder schmale Leier


Oder das:

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.

Und Straßen laufen durch das Gras und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende und totenhaft verdorrte..

Wozu sind diese aufgebaut? Und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?

Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?

Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der "Abend" sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt

Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

Minou empfindet die Verse tief und glaubt sie zu verstehen. Vom düsteren, unausweichlichen Schicksal sprechen sie.
Und da ist das mit den magischen Worten, das Schönste von allen, ein Gesang von Wehmut und Vergänglichkeit:

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

*
Dann das letzte

Ihr wandelt droben im Licht,
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahrelang ins Ungewisse hinab.



*

Minou fühlt sich manchmal in schlimmen Augenblicken, als stürze auch sie ‚ins Ungewisse hinab‘. Sie ist allein, wo sie sich doch so sehr nach einer verwandten Seele sehnt und nicht weiß, wie sie es anpacken soll, so eine zu finden. Sie sehnt sich sehr nach Männerliebe, nach bergenden Armen, aber es genügt ihr hier keiner. Meine kleine Möse ist verwaist, jammert sie wortlos in sich hinein, verwaist, seit Ernando sie nicht länger hat haben wollen ...

Schon wieder laufen ihr Tränen übers Gesicht, als sie diese Gedichte liest. Weil sie so schön sind. Weil sie so schön sind!!

*

Im Nachbarzimmer treiben es Tom, Elena und Jerry. Wie immer seit einigen Nächten. Minou geht es schlecht. Das, was da nebenan geschieht, stößt sie ganz und gar ab. So will sie die Liebe nicht. Wie einen Zeitvertreib will sie die Liebe nicht. Wo Liebe 'action' ist und man alles gierig mitnimmt, was sich bietet, da will sie nicht dazugehören.

Und doch ... würde Jerry jetzt zu ihr hereinkommen, ihr erklären, dass er nur sie begehre und keine andere oder ihr sagen, dass er sie liebe für immer, für ewig, dann würde sie sich wahrscheinlich von ihm wegtragen lassen.


Von nebenan tönt Elenas Stöhnen wie das matte Aufbegehren eines kleinen Mädchens. Zuerst leise, steigert es sich zu wilderen, weiberhafteren Tönen. Unaufhörlich aber drängt sich dazwischen das laute Quarren und Knarren einer heftig beanspruchten, durchgerüttelten Bettstatt. In jenem bestimmten Rhythmus, der keine Fantasie erfordert, um die Ursache zu wissen. Überdehnte Sprungfedern quietschen, squieken, das Bett wackelt, dass sogar in Minous Zimmer der Fußboden vibriert. Minou will sich nicht vorstellen, aber stellt sich dann doch vor, was da hinter der Wand ... Mitten in der Nacht. Das MUSS man ja im ganzen Haus hören. Minou schämt sich, als ob sie selbst an dem Treiben beteiligt wäre.

Komisch, als Kind faszinierten sie die brünstigen Laute großer Tiere. Damals in der Evakuierung auf dem Bauernhof in Bayern. Das tiefdumpfe Gebrüll der Stiere, das wilde "Ihihihi"- der Hengste, wenn sie auf den Weiden ihre Stute besprangen. Das kleine Mädchen schlich immer wieder heimlich hin, konnte nicht genug kriegen von ihrem Treiben und von jenen Lauten.

Aber wildes Sexgestöhne vor allen Leuten! Das ist etwas anderes. Das kann man doch nicht machen ...

Tom und Jerry lassen, Gott sei Dank, kaum etwas hören. Offensichtlich stößt keiner der beiden jene viehischen Laute aus, die Minou beim Liebemachen der Männer so widerlich sind. Kerle, die ächzen, röhren, wiehern oder wie Wildschweine am Futtertrog grunzen - denn das sind die Laute der Männer, die Minou öfter durch die Wände von Nachbarzimmern in Hotelpensionen hören musste - verursachen ihr Abscheu. Sie weiß, wenn einer das je bei ihr tun würde, jeder Funke Begehren und Achtung würde augenblicklich in ihr erlöschen.

Nein, tierische Geräusche hört sie von Tom und Jerry nicht. Ein paar gemurmelte, dunkle Sätze. Aber keinen obszönen Ton. Das versöhnt die Zuhörerin halbwegs mit den beiden. Denn, wenn sie nun auch noch jene widerlichen, unartikulierten Schweinegeräusche gemacht hätten, dann wäre es mit ihrer Sympathie für diese zwei Don Juans schlagartig zu Ende gewesen.

Aber von neuem spitze, kurze Schreie der Athenerin. Dazu das grellmetallische Squieken der stark strapazierten Bettstatt.

Später Elenas glucksendes Lachen.
Dann im Nebenzimmer unterdrücktes Stimmgemurmel. Das Radio wird aufgedreht. Griechische Folklore. Herz-Schmerz. I so i ... mächtig ... schallt es um zwei Uhr nachts durch die Pension. Da stellen sie es schlagartig ab. Schluss.

Minou hört aus dem Nachbarzimmer bis ins Einschlafen hinein noch Elenas melodisches Lachen, das laut ist, aber nicht unangenehm, das beruhigend zu ihr herüberdringt und ab und zu in der Stille die tiefen Stimmen der Männer. Am Morgen weiß sie nicht mehr, was davon Traum und was Wirklichkeit war.

Die nächtlichen Geräusche zu hören, wird für Minou zur guten Gewohnheit. Sollen die drei sich ruhig vergnügen. Sie ist ja froh, dass sie die beiden Männer zu Freunden hat. Und Elena ist ihr ohnehin lieb und wird ihr mit jedem Tag lieber.

Ach, Minou hätte es gern immer weiter so gehabt wie jetzt. Es geht alles gut, seit die Frau aus Athen in ihrer Mitte ist. Sie schafft Harmonie. Beschützt Minou wie eine Schwester und macht den Männern klar - aber davon weiß die Deutsche nichts - dass sie so locker wie mit anderen Frauen, mit dieser Kleinen keineswegs umspringen dürfen. "Vorsicht ... sie ist verletzbar. Bedrängt sie nicht. Was auch immer mit ihr los ist, ihr müsst es respektieren", hatte Elena gesagt ... Ja, Elena hält stets loyal zu Minou.

*

Es geschieht jetzt immer öfter, dass diese inmitten eines schönen Bade- und Strandtages plötzlich von großer Mattigkeit befallen wird. Ernandos Wunderbild ist stets vor ihrem inneren Auge. Sie kann sich seinen Körper genau vorstellen. Mit allen Einzelheiten. Mit jeder Pore. Aber sein Gesicht nicht. Es schwimmt wie im Nebel davon.

Mit ihrem Herzen ist sie ständig bei ihm. Sodass sie oft nur einen Bruchteil der Dinge wahrnimmt, die um sie herum vor sich gehen. In eine aussichtslose Liebe scheint sie sich verrannt zu haben. Liebe, wie sie so stark auf der ganzen Welt noch nie eine Frau für einen Mann empfunden hat. Denkt sie im Ernst. Niemandes Arme werden ihr Halt geben können, nachdem er sie aus den seinen gestoßen hat. Denkt sie. Sie versetzt sich von Tag zu Tag mehr in ihre Erinnerungen zurück, bis das wahre Leben anfängt, ihr große Schwierigkeiten zu machen.

*




Was vorherging:

Anfang Mai 1960. Minou, aufgewachsen mit Vater, Geschwistern und der Stiefmutter Lisa in einem kleinen Ort in Deutschland, ist 21 Jahre alt. Nach einem denkwürdigen, in Sizilien verbrachten Urlaub, der ihr Leben änderte, einer 'verhängnisvollen' Affäre mit Ernando Sascala und der geplatzten Hochzeit mit Nikos Sakatis, einem griechischen Geschäftsmann, ist sie jetzt - von ‚ihren‘ Männern verlassen - nach Athen, dann auf die griechischen Inseln geraten.
Auf der Insel Ägina lernt sie die beiden jungen Abenteurer, Tom und Jerry und die Griechin Elena kennen. Sie verleben schöne, gemeinsame Tage.



05
OZEAN UND MONDSCHEIN


Einmal geht Minou mit Elena und den beiden Reisegefährten bei einer einsamen, verborgenen Bucht zum Baden. In der Dunkelheit. Die Nacht ist keine unschuldige Zeit. Die Männer und die Griechin lassen alle Hüllen fallen, kaum dass man das Meer erreicht hat. Für die drei ist das offensichtlich die natürlichste Sache der Welt.

Für Minou NICHT. Sie zieht ihr Kleid viel zaghafter aus als sonst am Strand und behält natürlich den Bikini an, den sie schon in der Pension daruntergezogen hat. Vom Splitternacktbaden wurde übrigens vorher kein Wort erwähnt. Nicht dass die beiden kleinen Textilteile wirklich viel bedeuten ... sie sind eher symbolisch. Aber in dem Augenblick, in dem sie diesen Männern nackt entgegentritt, ist sie ihnen ausgeliefert, das ist doch klar.

Es kann sich ohnehin kaum um ein harmloses Kindervergnügen handeln, wenn junge Frauen und Männer nachts allein an einer verlassenen Bucht zum Baden gehen. Sie hat das von Anfang an gewusst, sie ist ja nicht ganz blöd. Dennoch ist sie klopfenden Herzens mitgetrottet. Was ist eigentlich los mit ihr?

Und was soll SIE jetzt machen? Wenn sie sich sperrt, werden die anderen sie für prüde halten. Vielleicht wird Elena sogar glauben, sie ziere sich nur, um für Tom und Jerry interessanter zu sein.

Da läuft sie erst einmal ein Stück von den anderen weg und zu einem hohen schwarzen Felsblock, der wie eine Klippe über den Strand ragt. Er war ihr am Tag schon aufgefallen. Da klettert sie hinauf.

Unter ihr liegt der Meeressaum im Mondlicht. Silbrig glänzt das Ufer.

In einer Kuhle hat Elena ihre Decke ausgebreitet und ist dabei, die durcheinandergeworfenen Klamotten, auch die Toms und Jerrys, sorgfältig zu falten. Häuft sie an den Rändern der Kuhle auf, als wolle sie drinnen ein kuscheliges Nest bauen.

Die Griechin sieht winzig aus neben den beiden Männern, irgendwie drollig in dieser Nacht. Wie ein Tierweibchen, warm und prall, mit ihrem dunklen Haar, das ihr üppig wie ein dichtes Fell bis hinunter auf die Hüften hängt. Das schwarze Dreieck ihrer Scham fällt Minou ins Auge, dunkel auf dem helleren, leuchtenden Grund ihres Leibes. Dem steinigen Boden am Strand scheint sie verhaftet, als zöge die Schwere der weiblichen Brüste, die Rundheit ihres breiten Hintern sie zur Erde hinunter.

Tom und Jerry joggen ein Stück am Meer entlang. Hoch ragen ihre Silhouetten aus der sprühenden Gischt. Sie sind keine muskelüberpackten Kolosse, doch hochgewachsene, geschmeidige Gestalten, schön und kraftvoll gebaut. Ihretwegen hat Minou sich auf den Felsen geflüchtet. Aus Verwirrung oder?

Aber sie kann nicht immer da oben bleiben. Klettert endlich auf Jerrys Rufen hin, herab und setzt sich zu Elena auf die Decke.

"Los, du Kleine", lacht Jerry, "du wirst dich jetzt von diesen beiden mickrigen Fetzen trennen. Sie verbergen nichts. " Seine Hand langt nach dem Verschluss ihres Behas.
"O, no," ruft sie in sein schmunzelndes Gesicht hinein und wehrt ihn heftig ab.

Elena sieht, wie sie dahockt: ein mageres Wölfchen mit gefletschten Zähnen. Ein Wölfchen auf dem Sprung.
Jerry packt Minou jetzt fester beim Arm. Doch sie schlägt seine Hand weg.
"Ach, komm her", sagt er.
"Nein", hört Elena das deutsche Mädchen zetern und sieht, wie es sich sperrt.
Da zuckt Jerry die Schultern, zwinkert ihr, Elena, komplizenhaft zu und weg ist er, läuft ins Meer. Schwimmt mit kräftigen Stößen davon.
So naiv kann keine sein, denkt sie, um nicht zu wissen, warum diese Machos uns heute Nacht zum Baden eingeladen haben ... Aber sie nimmt der Kleinen ihre Zickigkeit nicht übel. Durch Kratzbürstigkeit will das dünne Ding also bei den Männern Eindruck schinden! Sie lächelt und überlegt, wie sie selbst vor zehn Jahren in dieser Lage gehandelt hätte ...

*

Während Elena jetzt mit dem herbeigekommenen Tomas herumflirtet, wendet Minou keinen Blick vom offenen Meer, wo weit draußen in den glitzernden Wogen Jerrys Kopf auf- und niederzuckt wie ein kleiner, schwarzer Gummiball. Manchmal ist er nicht mehr zu sehen, ist unter Wasser verschwunden.

Sie hat in letzter Zeit viel an Jerry gedacht. Mit Erotikgedanken? Nein ... ja! Sie mag ihn. Sehr. Aber er wird nie Ernandos verwaisten Platz ausfüllen. Doch sie ist gern mit ihm zusammen. Tom zum Beispiel, den hat sie nie in Betracht gezogen. Jerry ist es, der ihr von den beiden - selten natürlich nur - diese GEFÜHLE auslöst. Sie denkt: ‚Ich mag ihn auf andere Art: In seine Fremdheit, seine Geheimnisse würde ich gern eindringen. Über das Leben in seiner Heimat Ägypten möchte ich alles wissen. Wie er aufgewachsen ist am Rand der Wüste. Ob es dort eine Frau gibt, die er liebt? Ich möchte wissen, was für ein Bild ein so schweigsamer Mann wie er sich von Gott und der Welt macht. Er ist oft entrückt. Rätselhaft.
Minou wäre gern Jerrys Vertraute, die Freundin seines Herzens. Aber keineswegs würde sie mit ihm schlafen. Das ... um Himmels Willen ... NEIN . Denn sie weiß genau: er ist von Ernandos Art ... einer, der in der Liebe nur das sieht, was Männer ihres Schlages eben in der Liebe sehen. Und für die Frauen austauschbare Objekte sind! So ist es doch ... oder nicht? Wie furchtbar wäre es, wenn Jerry sie DANACH mit Gleichgültigkeit behandelte, sie am Schluss eiskalt und schulterzuckend verließe? Ihm würde eine wie SIE bestimmt nicht genügen!

Gut, dass zwischen uns nichts gewesen ist. Da bleibt alles in der Schwebe. Er nennt mich 'child'. Das sagt er zu keiner anderen. Es hört sich zärtlich an. So nach Beschütztsein, Geborgenheit, denkt sie. Das gefällt ihr. Aber sie weiß: hinter der Zuwendung, dem amüsierten Lächeln des Freundes, der sie "Kind" nennt, lauert in solchen Augenblicken auch nur der Jäger. Auch er zum Sprung bereit, auch er auf Beute aus in Nächten wie dieser. Nicht dass sie ihm das verübelte ...

An den bekleideten Jerry, den des hellen Tages, den unkomplizierten, leicht Zugänglichen würde sie sich gern anlehnen. Oft hätte sie ihm am liebsten die kühlen Augenlider geküsst, sein kurzes, afrikanisches Haar gestreichelt, das mit tausend winzigen Kräusellöckchen seinen schmalen Kopf umgibt. Aber sie kann sich beherrschen. Da, weit draußen im Meer schwimmt er jetzt und sie spürt, dass sie ‚etwas‘ für ihn empfindet.

Elena und Tom machen sich inzwischen auf der Decke aneinander zu schaffen.

Minou geht ins Wasser. Dort wo es seicht ist. Wo vorgelagerte Felsbrocken den Anprall der See abfangen. Hier kann man, vor allzu hohen Wellen geschützt, auf Basaltfelsen in den Wellen sitzen und das nächtliche Meer staunend beobachten. Und fürchten.

Gischt sprüht über Minou hin. Die abgekühlte Luft verursacht ihr Gänsehaut. Es ist gleich Mitternacht. Sie sitzt auf ihrem Stein und bewacht Jerry mit den Augen ... bewacht jede seiner Bewegungen. Unter den funkelnden Sternen des südlichen Himmels zieht er dahin. Mit regelmäßig aus dem Wasser herausstoßenden und wieder eintauchenden Armen durchpflügt er die Wellen. Kraftvoll. Er lässt sich, wenn eine große Woge kommt, von ihr schultern, schnellt in die Höhe, stürzt dann hinunter, verschwindet in einem strudelnden Mahlstrom in der Tiefe. Erst nach einer Minute ungefähr taucht er auf. Sie weiß nicht, ob das Meer mit ihm oder ER mit dem Meer spielt. Sie hat Angst um ihn, manchmal stockt ihr der Atem.

Im Hintergrund auf der Decke tollen Tomas und Elena lachend, raufend, rangelnd herum. Später rennen auch sie ins Wasser, wirbeln sich perlende Fontänen in die Gesichter, jagen schwimmend hintereinander her. Minou hört ihre Rufe, Elenas schrilles Geschrei, bis sie fern sind, bis die Brandung alles übertönt. Nachher sieht sie auch ihre Köpfe klein, eng beisammen wie Zwillingskorken auf den silbern schimmernden Wogen schaukeln. Da sind sie weit draußen.

Minou schwimmt jetzt auch im Tiefen. Die Meeresoberfläche funkelt im Mondschein. Doch unter ihr ist es schwarz wie Tintenfischsud. Ihr graut vor dieser bodenlosen Schwärze. Sie wünscht, die anderen wären bei ihr ... allen voran Elena. Mit den Männern möchte sie nicht allein sein. Die würden sie womöglich tauchen. Sie hat eine riesige Angst davor. Was, wenn man nicht mehr hochkommt? Am liebsten wäre ihr, dass Elena UND Jerry jetzt da wären. Aber die sind weit draußen ...
Keiner schert sich um mich, denkt sie.

Kalt und weiß ist das Mondlicht. Die Brandung schäumt tosend am Grund der Felsen. Bei Nacht erscheint ihr das Meer wilder, sind die Wellen höher als am Tag. Jetzt schwimmt sie ängstlich vorwärts, ihrem Unbehagen zum Trotz. Um sich in Furchtlosigkeit zu üben.

Irgendwann kehrt Jerry aus der Weite des Ozeans zurück. Mit gewaltigen Stößen, schnell wie ein Amphibienmann gleitet er heran zu ihr, als sei das Wasser sein eigentliches Element.

"Komm, child" sagt er, "häng dich an meinen Rücken, wir schwimmen ein Stück!"
"O, nein" ruft sie, "das ist mir viel zu 'ghostly' da draußen."

Ernst legt er seine Hände auf ihre Schultern, leicht ... während sie, doch ziemlich weit entfernt vom Ufer ‚Wasser treten‘. in den Wellen schaukeln sie auf und nieder. Jerry ist mit seinem Gesicht, von dem funkelnde Perlen rinnen, nah bei dem ihren. Er küsst plötzlich ihre Nasenspitze, als sie oben auf dem Kamm einer Woge sind. Dann packt er Minou und wirft sie in die Höhe. Das geht sekundenschnell. Er lässt sie wie einen Stein ins Wasser plumpsen. Er TAUCHT sie! Sie schluckt eine gewaltige Ladung Salzbrühe, schlägt um sich, fürchtet, zu ertrinken. Als sie wieder atmen kann, hustet sie. Minutenlang. Japst nach Luft. Es dauert eine Weile, bis sie ‚den Schock' überwunden hat.

"O mein Gott, kleine Mimose", sagt er, "Okay, ich werde dich nicht mehr tauchen. Halt dich an mir fest! Dort draußen bei den Felsen ist eine untiefe Stelle und man kann stehen. Komm, wir schwimmen hin!"

Da ist sie schon in seinem Bann. Wie Magnetismus geht es von Jerrys Körper aus. Sie hängt sich an seinen Rücken. Sein brauner Rücken ist das einzig Greifbare in dieser nächtlichen Wasserwelt, ist überhaupt das Eine und Einzige, an das sie sich halten kann. Halten möchte. Sie legt ihre Arme um seinen Nacken. Sie hängt an Jerrys Rücken. Der ist breit, flößt ihr Vertrauen ein. Nun machen sie beide die Schwimmbewegungen mit den Beinen gleichzeitig.

Nach einer Weile stoppt er, sagt, sie solle nichts tun, auch die Beine nicht bewegen und alles ihm überlassen. So ginge es besser. Sie solle sich einfach an seinen Rücken anhängen. Auf diese Weise kommen sie wirklich schneller voran. Es ist schön, wie er sie mit sich fortzieht durch die Fluten.

Sie schließt die Augen, spürt nur IHN, seine gleichmäßigen, kraftvollen Bewegungen. Sie denkt an gar nichts. Gleitet wie in Trance mit Jerry dahin. Als sei sie ein Teil von ihm. In einem Zustand vollkommenen, gedankenlosen Glückes. Getragen durch die Wasser und mitgezogen von dem Mann, der mächtig ist, unverwundbar ... Dass er sie durch die tiefe See immer weiter hinausträgt, wird ihr kaum bewusst.

Die 'seichte Stelle' weit draußen entpuppt sich dann als Grund, auf dem er, der einmeterfünfundneunzig große Mann gerade zur Not stehen kann, sie aber nicht. Da schwimmt sie um ihn herum wie um einen Leuchtturm ... um ihn, den einzigen festen Pol ... ihren Zenith. Sie hält sich nah bei ihm.

Mond und Sterne leuchten über ihren Köpfen. Manchmal fasst der Mann sie leicht bei den Schultern und dreht sie zu sich. Küsst sie zärtlich auf Wangen und Nase.

Weder taucht er mich aus Übermut, noch berührt er mich auf zudringliche Art, denkt sie. Er nutzt die Situation nicht aus, obwohl er sie jetzt hier schön in der Falle hätte.
Sie hängt sich wieder an seinen Rücken. Vertrauensvoll. Sie schwimmen weiter.

Doch die Wellen werden mächtiger. Sie kommen so hoch daher, dass man sogar Mond und Sterne nicht mehr sieht. Brecher. Als aber gleich zwei aufeinander folgen und höher sind, als die vorherigen und sie mit einer Wasserwand überspülen, bricht Minous glückseliges Gefühl zusammen. Schlagartig stößt durch ihr Hirn die Panik. Wie ein Eisguss. Sie sind weit draußen.

Sie denkt: Lieber Gott, lass keine solchen Wellen mehr kommen, die wären mein Ende! Denkt: ich darf mich nicht so stark um Jerrys Hals festkrallen. Der beste Schwimmer wird machtlos, wenn jemand sich so hysterisch an ihn klammert. Bei zu lockerem Festhalten aber werde ich von ihm abgleiten.

"Jerry, Hilfe".
Die Wogen rollen schnell auf sie zu. Als sie mehrmals Wasser geschluckt, hinter den Atem gekommen und sich wieder berappelt hat, da krächzt sie ihm ins Ohr, dass es genug sei, er solle bitte umkehren. Er hält sofort an und dreht um. Jetzt ist sie aber ganz aus dem Häuschen ... wo ist das Ufer? Sie sieht kein Ufer!! Zenith der Panik.. Minous Arme erschlaffen, rutschen von Jerrys Nacken ab.

Da überrollt sie ein großer Brecher. Entreißt ihr Jerry. Als Minou hochkommt, ist er verschwunden. Weg! Brüllen will sie seinen Namen, doch sie kriegt keinen Ton heraus. Minou, bleischwer, total erstaunt, ist dabei, abzusacken wie ein Stein. Alles ein böser Traum ... Eben noch sicher am Ufer. Jetzt tief im Ozean.
Und es kommt wieder eine Sturmwelle!

O Gott! Da wird Minou zum x-ten Mal überspült. Taucht auf. "Hilfe!" Weiter. Schwimmen.

Nun bricht die nächste Woge über sie herein. Eine Sturzflut zuviel. Sie schluckt eine gewaltige Portion Salzbrühe. Bekommt vor Husten keine Luft. Ich sterbe, denkt sie ...

Plötzlich ragt Jerrys Kopf in die Höhe. Nur zwei Meter von ihr entfernt. Jerrys Gesicht mit weit aufgerissenem Mund. Seine Augen groß, rund, in den Höhlen gedunsen, fischig, starr, wasserleichenhaft ... o Drecksangst. Das kann doch nicht wahr sein, er der Herr der Meere ringt nach Luft! Spuckt eine Fontäne von sich wie ein Wal. Sein Bild, kurz an der Oberfläche, ist weg. Von der Woge überrollt. Oder war es nie da? ... Halluzin ...
O Minou!
Schwimm, schwimm, schreit es in ihr. Gesundes Herz, mach jetzt bloß nicht schlapp!

Da taucht Jerry auf. Für Sekunden nur.
Nun kommt eine neue Riesenwelle. Jerry wird wieder abgetrieben. Aber sie hat seinen Nacken gesehen und wie seine mächtigen Schultern die See besiegten. So wie es sein soll. Dann ist er fort.

Er hätte sicher alles getan, um zu ihr zu gelangen. Weil sie jetzt nicht mehr weitermachen kann. Weil gleich die Ohnmacht kommt. Unter ihr die Tiefe, der Tod. Sie spürt den Tod. Er ist da. Alles geht weg von ihr. Sie schluckt Salzbrühe. Sie kriegt keine Luft mehr. Jerrys Stimme ist fern, die ihr Silben zubrüllt, unverständliche, von jenseits der Wasserwand. Er, der abdriftet, als sie die Arme nach ihm ausstreckt! Es ist die Schwäche, die sie fällen wird. Es ist die Panik, die sie auf den Meeresboden zieht. Die Todespanik ... Doch das kann er ja nicht wissen!

Sie treibt mit fahrigen Bewegungen, rasend klopfendem Herzen richtungslos auf den Wellen. Aber immerhin noch oben und macht weiter in ihren halben Bewegungen. Ein bisschen tapfer schon ...

Sie ist verrückt vor Furcht, blind vor Furcht. Wird gleich die Besinnung verlieren!

"Schwimm! Vorwärts", hört sie ihn brüllen über die Wogen, als ob er ihre Lähmung spüre und seine Stimme sie halten könne, "weiter, weiter, dort ist das Ufer, du packst es!"

Er ruft ihr immer wieder zu. Sie kämpft wie wild. Wie sie dann dichter am Ufer ist, wird ihre Furcht kleiner, die Zuversicht größer.


Als sie endlich wieder Boden unter den Füßen spürt, sind ihre Beine zentnerschwer. Nein ... gelähmt. Da staunt sie. Bevor sie den Strand ganz erreicht, sacken ihr die Knie weg wie durchgeweichte Zuckersäcke. Sie liegt im seichten Wasser, hilflos, doch außer Gefahr. Kommt nicht hoch. Da ist dann Jerry. Jetzt ist er da, er, der sie zu weit hinausgezogen, sozusagen den Elementen zum Fraß vorgeworfen hat. Jetzt nimmt er sie in die Arme. Trägt sie das letzte Stück zum Ufer. Zu Elenas Decke ... und sie ist ihm dankbar! Er trocknet sie ab. Auch ihre Haare. Danach trocknet er sich. Dann wieder sie.

Sie fühlt sich so klein, so geborgen, wie er sie jetzt mit dem großen Badetuch warm rubbelt. Auf den Bauch hat er sie gedreht, frottiert ihr Kreuz und Schultern.. Das verursacht Kuschelgefühle. Tiefe Müdigkeit.

Sie rührt sich nicht, als er sich dann über sie breitet, sie mit seinem nackten Körper bedeckt. Da spürt sie das Etwas, das sich zwischen ihre Schenkel drückt, das Lange, Harte presst sich an ihren Rücken, heftig. Drängend. So als ob ein Tiermännchen sein stillhaltendes Weibchen bespringt. Sie hält tatsächlich still, notgedrungen. Für die ersten Sekunden zumindest. Weil ihr zum großen Aufmucken die Kraft fehlt.

Jerry muss grinsen: sie hat sich blitzschnell zur Seite gedreht, eingeigelt. Zusammengerollt wie ein Embryo. Hält mit zwei Händen ihre kostbare Stelle eisern bedeckt. Eisern. Dass er große Gewalt anwenden müsste, um in sie zu dringen. So brutal ist er nicht. Er hört sie wimmern, maunzen wie ein Kätzchen in der Nacht. Leicht ist es ihm gelungen, ihr das Höschen herunterzuziehen. Das B.H-Teil schon längst. Er küsst sie überall da, wo er sie erwischt, während seine Arme sie eisern festhalten:


Minou ist sich der Laute nicht bewusst. Sie brechen wohl ohne ihr Zutun hervor. So ganz ausgeliefert ist sie ihm, so sehr in seiner Macht. In Wirklichkeit bereit für ihn
"Agapimou", hört sie ihn flüstern. Das klingt süß.
"Agapi, Glykamou"
Dann leise auf Englisch:
"Ich werde dir bestimmt nicht wehtun,
hab keine Angst,
ich werde es dir ganz sanft und vorsichtig machen, soft and tender,
und wenn es dir nicht gefällt,
werde ich sofort aufhören,
augenblicklich,
I swear it,
I swear by God
word of honour."

Sie spürt, wie sie keinen Willen mehr hat. Sie ist matt und möchte es ja eigentlich auch ... gibt fast nach. Beinahe. Es wäre so einfach. Sich fallenlassen. Aber da ist ihr Stolz. Sie kämpft weiter. Ihr Sträuben lässt ihn nur dunkel und zärtlich auflachen. Mit ihren Händen drängt sie seinen Schwanz weg, der sich dennoch hart und unbeirrbar gegen sein Ziel presst.

Gleich wird alles zu spät sein. In der nächsten Sekunden wird er in sie hineinstoßen, endgültig. Unwiederrufbar. Und dann wird sie es bereuen ... er wird sie wegwerfen wie ein schmutziges Handtuch ... wie er es mit den anderen auch macht ... Nein, sie will das nicht, sie will das nicht!

Jetzt sind Tom und Elena in der Nähe. Minou ruft schrill nach der Gefährtin. Elena ist ihre Rettung, denn sonst hätte sie dem Mann nicht mehr widerstehen können.

Die Griechin kommt herbei wie eine Bärenmutter, die ihr Junges verteidigt, während Minou absichtlich gottserbärmlich schreit. Elena in ihrer stämmigen Weiblichkeit rüttelt, schüttelt Jerry gewaltig bei den Schultern ... traktiert ihn mit Fäusten und einer Kanonade furioser, griechischer Worte, dass der verdutzt den Kopf einzieht, aber auch von Minou ablässt und zu Elena hinschaut. Nackt steht sie vor ihm ... mit ihrem breiten Becken und biegsam in der schmalen Mitte. Im Mondlicht leuchten ihre Brüste wie aus Stein gemeißelt. Da lässt Jerry sie, Minou, los und steht auf. Elena zieht ihn ganz zu sich hin. Plötzlich fangen beide zu lachen an. Er geht doch tatsächlich mit ihr. Einfach so ... einfach so.

Minou liegt allein da. Der Sternenhimmel spannt sich noch immer über Meer und Land. Sie denkt auf einmal schon wieder an Ernando, aber auch an Jerry, der gerade eben bei ihr gelegen hat und sie sehnt sich auf einmal wild, ihn in sich zu spüren, jetzt wo er weg ist und sie schämt sich im gleichen Augenblick. Sie ist so ... verwirrt.

Jetzt hat Minou Zeit, das Höschen anzuziehen, ins Kleid zu schlüpfen. Sie wird zurücklaufen zur Pension. Möchte allein sein. Ach, sie hat keine Ahnung, was sie überhaupt will.

Tomas kommt, fragt, ob sie okay sei. Sie sagt, ja, ja, sie sei okay. Ob sie denn den Jerry nicht leiden könne, will er wissen. Da muss sie plötzlich heulen. Glaubt, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen. Aber es ist im Augenblick verschwunden.

Tom legt Minou seine Hand auf die Schulter. Die Hand ist schwer und klamm von der Kälte des Wassers. Minou fährt schaudernd zusammen ..
"Ich möchte dir doch nur helfen!", sagt Tom die klassischen Worte!
Als ob ER das könnte!
Minou muss noch mehr heulen.

Jerry und Elena kommen herbei, in Badetücher gewickelt.
"Leave this child alone, and don't you hurt her, don’t you see she is lovesick", schreit Elena, diesmal an Toms Adresse gerichtet.

Sie sagt es in englisch, nicht griechisch, damit Minou es verstehen und wissen soll: "Ich bin auf deiner Seite ..."

Minou fühlt sich aber fehl am Platz. Eine Spielverderberin.
"Ich geh' schlafen", murmelt sie, packt die paar Sachen zusammen.

Tom sagt: "Ich bringe dich zurück", doch sie darauf: nein, nein, sie fände den kurzen Weg allein. Tom zuckt mit den Schultern, gibt damit zu verstehen: "Sie ist zickig. Lasst sie in Ruhe!"

Auch Elenas Begleitung lehnt Minou ab. Macht sich allein auf den Heimweg. Sie ist noch immer durcheinander, während sie da über mondbeschienene Pfade durch macchiaähnliches Kraut und Gebüsch marschiert.

Nichts anderes hatte Jerry von ihr gewollt, als was er sich dann locker bei Elena holte. Dabei habe ich fast angefangen, ihn zu lieben, stellt sie verwundert fest. Sie hatte soviel mehr von ihm gewollt, soviel Süßes in ihn hineingesehen, heimlich gehofft, dass auch sie für ihn etwas Besonderes sei ... Wie schnell hatte er aber ihren Körperkontakt für den Elenas eingetauscht. Und nur, weil die im Augenblick leichter zu haben war.



In ihrer Pension legt Minou sich gleich ins Bett. Sie spürt es schon ... sie ist krank in dieser kühlen Sommernacht. Denkt mehr denn je an Ernando.

Eines Tages, wenn ich richtig schön bin und selbstbewusst und es mir gutgeht, werde ich nach Sizilien zurückkehren, zu dir, mein einzig Geliebter. Da gehöre ich hin. Einmal werde ich dich wiedersehen.

Nach Stunden, schon im Morgengrauen, hört sie wie Elena und die beiden Männer heimkommen. Lachend, plaudernd ...
Sie vermissen mich nicht, denkt sie.


*




Minous Lieblingsgedichte:

Du bist Orplid ... von Eduard Mörike
Manche freilich ... Hugo von Hoffmannsthal
Ballade des äußeren Lebens ( Und Kinder wachsen auf ...) H. von Hoffmannsthal
Hälfte des Lebens ( Mit gelben Birnen ...) Friedrich Hölderlin
Hyperions Schicksalslied ( Ihr wandelt droben ... ) Friedrich Hölderlin*



06
ELENAS ABREISE ( ÄGINA )


Eines Morgens gegen acht Uhr klopft Elena an Minous Tür. Bei sich hat sie ihre hochbepackte Reisetasche. "Du bist schon wach ... wie gut ... I come to say good-bye! I have to go."
"O nein! Das hast du doch gestern nicht erwähnt!"
"Ich wollte uns den Abend nicht verderben!"
Minou ist vor den Kopf gestoßen.
"Und Tom und Jerry? Was haben die gesagt?"
"Die wissen es noch nicht. Die schlafen noch. Ich mag keine peinlichen Abschiedsszenen. It is life. Easy come, easy go ... Weißt du, ich bin alle paar Monate hier. Offiziell besuche ich meine Schwester, but this is MY ISLAND IN THE SUN! I come here to grap me a man!"
"Or two ( oder zwei )", wäre es Minou beinahe herausgerutscht. Aber sie hält den Mund. Sie grinst.
"Vielleicht auch drei und vier", gickst die Griechin, als könne sie Minous Gedanken lesen.
Da prusten sie beide los.

Minou spürt: sie mag Elena sehr gern.
Dann zeigt Elena Minou ihre Hand. Am Finger steckt ein Goldring, der die ganze Zeit über nicht dagewesen ist. Sie erzählt, dass in Athen ein Ehemann auf sie warte, ein kleiner Sohn, ihre Mutter und ein Job als ... Englischlehrerin.
"Und in vier Monaten kommt hoffentlich eine Tochter", sagt sie, während sie stolz auf ihren Leib tippt. Minou fällt ein, wie sie sich immer heimlich über Elenas Bäuchlein gewundert hat. Das ist also des Pudels Kern!
"Ich muss gleich vom Piräus aus mit einer Taxe zur Schule rasen, denn ich unterrichte heute. Eigentlich hatte ich schon vorgestern abreisen wollen, aber ..."

Dann gibt Elena Minou ihre Adresse. Adressen tauscht man immer. Oft hält man dann doch keine Verbindung.
Minou hat nicht einmal eine Anschrift, die sie Elena aufschreiben könnte.
Dann begleitet sie Elena zur Fähre. Vor der Gangway nimmt Elena einen dünnen Armreif aus ihrem Brustbeutel, will ihn der Deutschen ums Handgelenk legen. Minou kennt dieses Stück. Sie haben es vor ein paar Tagen zusammen in einem Laden gekauft.

Welches von den silbernen Schmuckstücken, die nebeneinander im Fenster aufgereiht waren, denn am schönsten sei, hatte Elena gefragt, sie wolle nämlich ihrer Schwester etwas zum Geburtstag schenken.
"Das hier," hatte Minou erklärt und auf eines mit kleinen Blüteneinlagen aus Türkis gezeigt. Elena hatte gesagt, ja, das würde SIE auch am besten finden und hatte es einpacken lassen.
Nun will sie es Minou geben. Aber die kann so etwas ja nicht annehmen, weil sie nichts bei sich hat, das sie zurückschenken kann. Und so würde es sich doch gehören. Sie selbst trägt heute nur ein einziges Schmuckstück, ein Halskettchen mit glitzerndem Stein.
Das müsste ich Elena eigentlich als Gegengabe bieten, denkt sie, es ist das einzige Ding von Wert, das ich bei mir habe.
Doch sie hängt daran. Es stammt von Ernando und bedeutet ihr viel. Das erklärt sie auf ihre linkische, umständliche Art, und dass sie es jetzt bedauere, aber ... "
Elena lacht recht ironisch, wie man sie im Zimmer der Männer manchmal hat lachen hören und meint, dieses Armband sei von Anfang an für sie bestimmt gewesen und sie würde ein Gegengeschenk sowieso nicht akzeptieren.
"Du denkst zuviel, du sollst die Dinge weniger kompliziert sehen!", sagt die Griechin und legt Minou das Armband ums Handgelenk. Küsst sie auf die Wange. Minou küsst Elena auf beide Wangen, die gut duften, wie nach Pfirsich. Was sie vorher niemals bemerkt hat. Weil sie ihr nie so nahegekommen war.
Sie küssen sich also "good-bye."

Minou bewundert Elena und die Art, wie sie ihr Leben trotz allem so gut meistert ... und genießt. Sie findet sie toll, so wie sie ist, auch wenn sie selbst nie so sein kann. Ach, wäre sie froh, Elena zur Freundin zu haben!
Sie sagt: "You are a nice woman and I will miss you very much!"

*

Things will never be the same!
In den wenigen Tagen, seit Elena nicht mehr da ist, ändert sich etwas in der Beziehung Minous zu Tom und Jerry oder in deren Beziehung zu ihr ... Mit der relativen Ungezwungenheit ist es vorbei. Elena war das Band zwischen ihnen gewesen, auch so etwas wie der Puffer. Sie hatte sich bemüht, Minou vor den Wünschen der Männer zu schützen, nachdem Minou ihr von Ernando erzählt hatte und davon, dass sie keine Lust habe, sich in Abenteuer einzulassen.
Das dürften die beiden Don Juans inzwischen recht gut wissen.
Geht es darum nun langsam auch zu Ende mit ihrer Freundlichkeit, Aufmerksamkeit? Minou glaubt, die entstehende Fremdheit schon zu spüren ... Sie halten nach Sexpartnerinnen Ausschau. ‚Das, was sie bei Frauen einzig suchen und was sie von Elena bekamen, bekommen sie von mir nicht, denkt sie, klar, dass deshalb ihr Interesse erlischt.

*

Erst nachdem Elena abgereist ist, hat Minou die von Klaus betriebene Taverna gesucht und gefunden. Er und sein neuer Freund haben auch Pensionszimmer eingerichtet, die sie an Touristen vermieten. Minou hilft ihnen in ihrer Kneipe und wohnt kostenlos bei ihnen.
Seit sie sich in Klaus Pension aufhält, sind Tom und Jerry nicht nur räumlich von ihr getrennt. Sie sieht die beiden wenig. Einmal sind sie zum Essen dagewesen. Nicht allein. Wieder Frauen im Schlepptau. Wie immer. Nein ... sie sind keine Felsen in der Brandung, keine Freunde, mit denen man durch dick und dünn gehen kann, wie sie es sich so sehr gewünscht hätte ... sie sind so unglaublich ... wechselhaft. Nein, eigentlich ist sie nicht wirklich warm mit ihnen geworden.
Für diese Männer war ich auch nicht wichtiger als irgendeine andere ihrer Zufallsbekanntschaften, denkt sie.
Eigentlich möchte sie weg von hier ... es ist schön, übers Meer zu fahren, zu einem neuen ( Insel )Ziel. Sie hat auch schon ein Pensionszimmer auf Hydra gebucht. Christina hat es von Athen aus für sie besorgt.
Um aber dorthin zu gelangen, muss sie erst wieder zurück zum Piräus. Anders geht das nicht mit den Schiffsrouten. Nur von dort aus bekommt sie eine Fähre nach Hydra.
Ihren kurzen Athen-Aufenthalt verbindet sie mit einem Besuch beim Avvocato - um noch ein bisschen Geld zu holen - und einem Abendessen mit Christina. Sie übernachtet in der Garconniere.

*




07
HYDRA. UND WIEDER TOM UND JERRY
( Mai 1960 )


Früh am nächsten Morgen am Piräus wartet Minou auf die Fähre.
Plötzlich sieht sie die BEIDEN. Ist das real? Wieder kommt erst Tomas, dann Jerry auf sie zu. Genau wie beim ersten Treffen vor fast vier Wochen. Dejà vue? Genau das Gleiche hat sich hier – fast an der gleichen Stelle schon einmal abgespielt!! Bis in die Einzelheiten ... Dejà vue! Die beiden Männer steuern also wieder auf sie zu ... gleiches Gepäck wie damals, ihr Anblick wie damals, bis hin zu Kleidung und Schuhen. Sie lachen. Minous Herz rast. Dann Umarmung.
Sie steigen mit ihr auf das Boot und in Hydra gehen sie mit ihr an Land. Einfach so. Wie selbstverständlich. Feste Pläne hätten sie ohnehin nicht und diese Insel sei so gut zum Baden und Herumstreifen wie irgend eine andere, meint Jerry und greift sich Minous Reisetasche.
"O, it is heavy! What have you in there? Goldbars?" ( Goldbarren )
"Hahaha."
Die beiden folgen ihr über weiße, bröckelige Treppenstiegen, durch verwitterte Sträßchen bis hinauf auf die Kuppe des Hügels. Sie haben lange suchen und herumfragen müssen. Dann endlich das Haus mit einem Innenhof und Räumlichkeiten, die Marmorkühle und Sauberkeit ausstrahlen! Die Fremdenpension der Witwe Maria Danopoulos. Gleich oberhalb des Hauses endet das verwinkelte Gassenlabyrinth in einem schmalen Pfad, der in die Berge führt.
Die Männer, die natürlich nicht vorangemeldet sind, lassen sich durch ablehnende Worte und Gebärden der Wirtin nicht verscheuchen, auch nicht, als die Frau betont, dass alles belegt sei ... auf Wochen hin ausgebucht. Am Ende händigt ihnen die Besitzerin achselzuckend und noch immer moderat schimpfend, aber schon wohlwollender - offensichtlich von Jerrys unwiderstehlichem Charme überwältigt - seufzend einen Schlüssel aus. Nun wohnen die Männer nur zwei Zimmer neben dem Minous.

Minous Pensionszimmer hat eine kleine Sonnenterrasse und als sie hinaustritt, liegen zu ihren Füßen die kubischen Häuser mit den flachen Dächern. Treppenstiegen, Mäuerchen ziehen sich den Hang hinunter und enge, verworrene Gassen. Das abgetretene Pflaster von unzähligen Menschenfüßen in langer Zeit gehöhlt. Weiß, weiß ... alles gleißt in der Sonne. In verschwiegene Innenhöfe sieht sie hinein, sieht Palmen, Zitronen-,Oliven- sogar einen Feigenbaum. In großen Holzkübeln Aloen. Hundertjährige. Rote und violette Bogainvillea leuchten an Treppen.

Auf ihrer Terrasse in Tontöpfen wächst eine eher moderate Blumenpracht. Zwergenhafte Geranien blühen bescheiden. Weiter oben, dort, wo der Eselspfad in die Unwirtlichkeit der Berge hineinführt, gibt es nur noch Ginsterbüsche, Salbei, krüppelige Kiefern. Aber der Blick hinunter zum Hafen von Hydra ist wunderbar: Das Felsengestein, die weißen Häuser haben die Sonnenstrahlen aufgesogen und bündeln, bewahren sie. Am Tag von Minous Ankunft flirrt die Insel vor Licht, dass es wehtut in den Augen. Und tief unten vor des Mädchens überwältigten Sinnen breitet sich das Juwel ... blau ... die kristallklare, griechische See.

Minous Zimmer ist kühl. Die Wände sind in leichtem Ockerbraun getüncht. Das Innere zeigt Klarheit und Ordnung. Es gibt nur: Bett, Kleiderschrank, Stuhl. Und an der Wand über einem Waschtisch einen großen Blechbehälter. Wasser holt ein Neffe der Wirtin mit einem Eimer aus der Zisterne im Hof und füllt es in diesen Behälter. Man lässt es dann durch Aufdrehen eines Messinghahns in eine darunterstehende steinerne Schüssel fließen. Oder zum Trinken in einen erdfarbenen Krug aus Ton. Also fließendes Wasser ... immerhin!

Das Gebäude ist ein altes Herrenhaus. Minous Zimmer ist groß und hoch Es hat drei hohe, schlanke Fenster vom Boden bis zur Decke. Die Fenster gehen nach drei verschiedenen Richtungen. Von dem einen sieht man fast senkrecht hinunter zum felsigen Fuß der Insel, von dort weit übers Meer. Vom mittleren Fenster fällt der Blick hinein ins Gewusel von Markt und Hafen. Vom dritten Fenster sieht man nichts als karge Ginsterlandschaft und den steinigen Pfad, der in die Berge führt ... auch zu den Klöstern, hat die Wirtin gesagt.

Der Raum wird Minou von Tag zu Tag lieber. Ordnung zu halten ist leicht, wo so große Einfachheit herrscht. Wo nichts vorhanden ist, als die zum Leben notwendigsten Dinge.

Über das Bett ist eine kostbare Decke gebreitet, hineingewebt geometrische Muster wie auf alten, griechischen Vasen: beige, siena, braun.
Die blankgebohnerten Dielen riechen nach Bienenwachs. Darauf liegen ein paar kleine Flokati-Teppiche als besonderer Luxus.

Der Raum bildet am Tag bei heruntergelassenen Holzjalousien eine Ruhehöhle voller Schatten. Doch in der Nacht fluten bei geöffneten Fenstern die Mittelmeerwinde herein. In Minous Träume brechen sie ein. Bringen in ihren Schlaf maritime Erinnerungen vom leichten Gleiten unter Wasser in kristallblauem Licht. Amphibien-Memories.
Oder unter ihr auf dem Grund des warmen Ozeans sind Bäume, sind Sträucher aus lauter Korallen. Die schnellen die Arme aus. Halb Tier, halb Pflanze. Es recken sich ihr tänzelnd hundert Tentakel entgegen. Berühren sie mit ihren Fühlern.

Auch von freundlichen Delphinen hat sie hier schon geträumt. Die lachen, stippen sie an mit den Schnauzen, während sie selbst schwerelos die Fluten durchteilt. Rollen sie wie einen Ball, aber vorsichtig, auf den Wellen hin und her.

Einmal träumt sie von vielfarbigen, durchsichtigen Blütenwesen. Die wogen am Meeresboden. Pulsieren mit der Strömung. Wiegen sich von einer Seite zur anderen zum Klang einer rätselhaften, magischen Musik. Wechseln ständig die leuchtenden Farben. Sie haben Kindergesichter und lächeln ihr zu.

Doch am Morgen sind die schönen Träume nichts mehr wert. Im Augenblick, in dem ihr Hirn den Schlaf abwirft, stürzt die Wirklichkeit auf sie ein. Angst und Wirrnis ...
Die Panikattacken bedrohen sie wieder stark, die zu Nikos Zeit, in seiner Gesellschaft, unter seiner Obhut, fast verschwunden waren.

Nikos ist trotz allem ein Fels gewesen. Er hatte ihr das Gefühl absoluter Sicherheit gegeben. Tom und Jerry tun das nicht. Sie sind vieles für Minou, nur kein Bollwerk gegen die Angst.

*

Ob ihr Zusammentreffen wirklich Zufall gewesen ist? Nun ja ... so viele Touristen sind zu jener Zeit kaum unterwegs auf den Inseln und es gibt wahrscheinlich am Piräus nur einen Abfahrtsplatz der Fähren, sodass man sich notgedrungen da in die Arme laufen muss. Das ist nichts Ungewöhnliches. Tom und Jerry scheinen ebenso wie sie Meister im ziellosen Sich-Treiben-Lassen zu sein. Reisende ohne festes Ziel.

Was Jerry betrifft ... der behandelt Minou diesmal vorsichtiger als auf Ägina. Keine Überrumpelungsversuche mehr.
Es hängt immer vom Benehmen der Frau ab, wie Männer reagieren, denkt sie. Und den beiden ist längst klar: mit mir können sie ihre Spielchen nicht treiben. Sie respektieren mich, ich bin für sie eine zwar ziemlich prüde, aber ernstzunehmende Person.

Die Beiden scheinen sie wirklich zu mögen. Ich brauche ihnen keinen Sex in Aussicht zu stellen, ich gefalle ihnen als Mensch, denkt Minou. Jetzt sehen sie anscheinend in ihr wirklich das unberührbare Geschöpf, für das sie sich hält. Toms erotischem Geschmack scheint sie ohnehin nicht zu entsprechen. Und Jerry? Er hat seine Verführungsversuche aufgegeben. Statt dessen ist er wie ein Bruder zu ihr. Genauso will sie das haben. Denn ... all ihre Liebe, all ihre Sehnsucht konzentriert sich auf den EINEN.
Es ist nur ER, der jemals zählen wird und so weiter ... immer ihre gleichen Gedanken ... wie Hamster im Rad.

O Gott, ich habe ihn verloren! Jeden Morgen, wenn sie zu sich kommt, scheint sie das für eine Sekunde vergessen zu haben. Fühlt sich frisch und munter. Dann bricht es los. Wie Messerstiche. Scharfe, körperliche Pein fährt ihr durch den Leib. Danach kriecht die Trauer als zähe Lähmung über sie hin. Er wird nie mehr da sein. Das nimmt jedem aufsteigenden Tag seinen Sinn.

Minou kann Tom und Jerry für sich überhaupt nicht mit Sex in Verbindung bringen. Obwohl das zum Beispiel Elena ganz anders empfunden hat. Nein, Minou kann sich keinen Mann auf der Welt als Liebhaber vorstellen. Nicht nach Ernando ... und so weiter ... wir wissen es schon ...

Aber sie findet die beiden attraktiv, sie hat ja fast jeden Tag die Kraft, die Lässigkeit dieser Männer vor Augen. Minou ist schwer beeindruckt. Soweit ein Mädchen von fremden Typen beeindruckt sein kann, wenn das Herz vor Liebeskummer krank ist.
Vor allem Jerry ... der ist etwas Besonderes.

Minou ist krank. Sie spürt es. Es scheint, als habe Ernandos Verlust ihrer Seele den Nährboden entzogen.
In dieser Zeit, wo sie über die Inseln zieht, geschieht es ab und zu, dass sie dort, wo sie gerade geht und steht, beinahe umkippt. Das kommt aus heiterem Himmel. Plötzlich wird ihr schlecht. Es fegt sie fast von den Beinen. Ihr wird so sonderbar. Unbeschreibbar übel. Aber sie kippt nicht um, Gott sei Dank. Im letzten Augenblick kann sie es durch Willenskraft verhindern. Alles das ist nichts Neues. Symptome, an die sie langsam gewöhnt sein müsste. Aber sie sind immer wieder frisch und entsetzlich.
Zum Glück gehen diese panikartigen Zustände immer nach einer Zeit vorbei und sie ist dann später sogar wieder fröhlich und es kommt so etwas wie ein ruhiges Bewusstsein in ihr Herz, dass alles mit ihrem Leben doch noch gut werden wird. Dann kann sie die Schönheiten der Natur um sie herum und auch den Umgang mit Menschen wieder genießen.
Nein, nein, sie muss die Angst fast jeden Tag überwinden ... Nicht nachgeben! Wo sie doch gesund und fit sein soll, so ganz auf sich gestellt!

Manchmal bleibt sie morgens lang im Bett. Oder sie schafft keinen Schritt vor die Tür. Weiß, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Dann hört sie an den Geräuschen aus dem Nachbarzimmer: die beiden beunruhigenden Männer aus Alexandria sind noch da und mit ihnen das Leben in all seinen bunten Facetten. Dann rafft sie sich auf. Es gibt Tage, da sind es nur die zwei, die sie an die Dinge der Welt da draußen noch ketten.
Für Minou bringen sie Obst und Backwerk vom Markt herauf. Hängen es in einem Netz an ihre Tür, wenn sie ausgegangen ist oder nicht aufmacht. Sie lehnen Bezahlung ab. Sie drängt ihnen aber das Geld auf - aus Stolz.

Jerry macht Minou hin und wieder Vorschläge: "Bitte, hör mich doch erst an", meint er, "statt immer gleich bei allem "no" zu schreien ... Wie wäre es, wenn du zu einer Seefahrt mitkämst? Wir werden an der Festlandküste entlangschippern. Griechenland besteht nicht nur aus den Sporaden und Kykladen. Auch das Mutterland hat interessante Strände. Ein paar Tage werden wir bleiben oder eine Woche, egal. Wunderbare Badebuchten gibt es. Panajotis, ein neuer Freund, dem ein brauchbarer Kahn gehört, hat uns eingeladen. Das lässt Abenteuer erwarten und eine Menge Spaß. Zwei Amerikanerinnen werden auch mit dabeisein. Ellen und Laura. Wir wären dann zu sechst. Drei Männner, drei Frauen. Was meinst du?"

"Ich bleibe lieber hier", murmelt Minou. Entschuldigend. Kleinlaut fast.
Sie hat zu kaum etwas Lust. Und schämt sich deswegen. Auf neue Menschen ist sie auch nicht wild. Drunten am Strand, abseits, zwanzig Minuten Fußmarsch vom Anlegeplatz der Fähre, hat sie eine Bucht entdeckt. Zum Schwimmen, zum Schnorcheln. Um mit ihren Erinnerungen an Ernando allein zu sein. Dort, wo von den wenigen Touristen keiner mehr hin kommt. Manchmal ist sie ruhig. Zufrieden. Meistens geht es ihr schlecht. Ihre Gedanken: nur auf den Geliebten gerichtet, auf sonst nichts und niemanden. Er hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, ist ihre schmerzende, irgendwie nicht heilende Wunde geworden.

Da scheint es ihr schon nicht mehr wirklich und wichtig, wie nah sie doch Jerry auf Ägina gekommen war, als er sie in seine Arme gepresst hatte, denn jetzt spürt sie ( wieder einmal! ) die merkwürdige Fremdheit. Trotzdem, das selbstverständliche sie-mit-Einbeziehen, das noch immer nicht erloschene Interesse der zwei Machos, die nur eine Zimmertür entfernt von ihr wohnen, wärmt sie ein wenig.


Tom und Jerry sind viel unterwegs. Sie fahren mit den Fischern hinaus und kommen, nach Meer und Algen riechend, zurück. Sie feilschen in den Läden und auf dem Markt mit den Händlern. Just for fun. Mit den Einheimischen sitzen sie im Kafenion beim Ouzo. Sie sind schnell ein Teil des Lebens hier geworden. Man kennt sie am Markt und am Hafen. Sie passen perfekt in das Inselbild. Man hat gern mit ihnen zu tun.
Sie sprechen griechisch mit den Griechen, englisch mit den Touristinnen. Sie sind Könige im ‚Weiber-Abschleppen‘.
Frauenbekanntschaften enden auf dem Zimmer der beiden. Manchmal hört Minou, aus dem Schlaf hochfahrend, DIE Geräusche.
Wenn die Musik und die weiblichen Stimmen aus Tom und Jerrys gemeinsamem Zimmer herausdringen, dann denkt sie: so können nur Machos sein, denen in Wirklichkeit an keiner von denen etwas liegt.

Trotzdem fühlt sich Minou ganz und gar zur Seite geschoben und spürt: Die Welt kommt sehr gut ohne ihre komplizierte, kleine Person aus.

*


Sie geht noch manchmal mit den Männern zum Badestrand oder in Restaurants und ist nie lang mit den beiden allein. Schnell sind sie von Leuten umgeben. Es ist nach wie vor Jerry, der die Menschen anzieht. Tomas schert sich wenig um andere. Das fühlt man. Wenn er lacht, lacht nur sein Mund. Aber pflegeleicht ist auch Jerry nicht, beide können aufbrausen, wenn ihnen Dinge nicht in den Kram passen.
Minou kennt verborgene Geheimnisse. Die sich nur offenbaren, wenn die beiden allein in ihrem Zimmer sind. Zum Beispiel wie Jerry sich Zorn von der Seele brüllt. Sie hört seine von Leidenschaft geschüttelte Stimme durch die Wand, dann die leise, beherrschte von Tom, die ihn zu beschwichtigen sucht.
Tom scheint selbst dann noch Kontrolle über sich zu haben, wenn der Freund tobt und schreit. Toms Stimme ist maßvoll, diszipliniert. Es dauert eine Weile, bis Jerry sich auch beruhigt und alles wird wie immer.
Andererseits kann Jerry extrem wortkarg sein. Er gibt nie nach, auch wenn es Tom - der wahrscheinlich der viel Gebildetere von beiden ist - gelingt, ihn mit seinen besseren Argumenten in die Enge zu treiben. Weiß Jerry offensichtlich keine Antwort mehr, dann bekommt er sein echtes Beduinengesicht, hüllt sich in Schweigen, blickt gleichmütig in die Ferne. Entzieht sich ...

*

Minou muss zugeben, sie mag diese Männer. Hauptsächlich ihres Aussehens und Auftretens wegen. Durstig ist sie nach Schönheit und sie hält die beiden für schön. Aber es ist auch die stolze, überlegene Art, es ist die Ausstrahlung. Andererseits: So verhalten sich doch keine ernsthaften Menschen! Das kann nicht alles sein, was diese vom Schöpfer privilegierten, Minous Ansicht nach auch intelligenten Geschöpfe, im Leben suchen: Essen, Trinken, schönes Wetter, Vergnügungstrips and last but not least: women!
Minou vergisst dabei, dass auch sie seit Jahren nicht das geringste macht, das von irgendeiner Bedeutung wäre. Bei sich selbst findet sie das aber ‚normal‘.

*

Die Sommertage kommen, vergehen
Es fällt ihr zwar nicht ein, die beiden Typen aus Alexandria mit dem angebeteten Ernando gleichzusetzen. Aber es ist wahr: sie sind von seinem Schlag.
Wie Männer vom Schlag Ernandos WIRKLICH sind, wahrhaft und tief innen, hätte sie gern gewusst. Und noch nicht herausbekommen.

Seit sie den Sizilianer kennt, kann sie sich auch das Verhalten dieser beiden Machos aus Alexandria erklären, die sich stets das nehmen, was sie wollen und nur tun, worauf sie Lust haben. Keiner kann wie Tomas Leute manipulieren, Zimmervermieter, Kneipenwirte, Händler. Mit Härte, kompromisslos, kühl, zieht er aus allem Vorteil, während Jerry die Menschen beeindruckt mit seiner Zuwendung, seinem Lächeln, seiner Aufmerksamkeit für ihre Probleme. Oder ist es bei ihm nichts als Neugier und der Wunsch, den Dingen auf den Grund zu gehen, weswegen er so sensibel auf das Tun anderer reagiert?

Tom und Jerry, sie berühren Minou und regen ihre Fantasie an. Es gibt Tage, da malt sie sich aus, wie ‚es‘ mit ihnen, mit einem jeden der beiden sein könnte. Wobei ihre Gedanken am Ende immer bei Jerry ankommen.
Aber dagegen steht Ernando als Gedanke, als Gefühl, das sie gefangen hat und von allem frivolen Tun abhält. Langsam aber spannt sich ihr Nervenkostüm bis zur Unerträglichkeit.

*

An einem Abend auf Hydra, als sie wieder die gewissen Laute fremder Frauen aus dem Nachbarzimmer dringen hört, ist sie wütend, wäre am liebsten hinüber gelaufen, hätte sich auch gern heiße Umarmungen und Küsse von Jerry geholt. Sie hätte ja nicht gleich mit ihm schlafen müssen! Aber kuscheln schon und zärtlich sein ...
Einmal nachts glaubt sie sogar, dass Jerry die Tür öffnet und plötzlich an ihr Bett tritt, sich schwer an ihren Körper presst, sie berührt. Am Morgen, als sie aufwacht, weiß sie, es war ein Traum. Gott sei Dank. Ihr Zimmer ist gut von innen verschlossen.

Am nächsten Tag sperrt sie sich noch mehr gegen die beiden. Aus Scham.

Nein, sie wird ihnen keine Gelegenheit geben, Spielchen mit ihr zu treiben. Würde es auch dann nicht tun, wenn ihr Herz nicht für Ernando entflammt wäre. Denn, sich einzulassen, würde in erster Linie 'Trouble' bedeuten. Man muss nur sehen, wie es den Touristinnen geht. Sie müssen für ihren Spaß mit Verlassenwerden und verletztem Stolz büßen.

*

Die Art, wie besonders Tom hochmütigen, wählerischen Blickes umherschweift und sich alles nimmt, was er haben will, aber kurz nach der Erlangung das Interesse verliert, diese Art ist Minou zuwider. Jerry verschleißt nicht so viele Frauen wie sein Freund. Auch geht er mit ihnen fairer um, glaubt sie. Trotzdem ... sie tun was sie wollen und kennen keine Gewissensbisse.

Sie sind, obwohl ein gutes Jahrzehnt jünger als Ernando, ganz von seiner Art, denkt sie, von ebenso selbstverständlicher Männlichkeit, ebenso scharfem, sich überall leicht zurechtfindendem Verstand und im Umgang mit Menschen ebenso geschickt wie er. Welchen Platz die beiden wirklich im Leben einnehmen, ist Minou schleierhaft.
Vom Schlag der kindlichen Weltwanderer, die hier einen Sommer lang von einer Insel zur anderen 'hüpfen', mit ihren Rucksäcken, Anoraks, Gitarren, mit ihren weichen Bärten, träumerischen Augen immer wie verlorene Söhne aussehen, die ihren liebenden Müttern gerade aus den Wohnküchen entsprungen sind, von diesem Schlag scheinen Minous Zufallsbegleiter nicht zu sein. Tom und Jerry aus Alexandria sind die ersten und einzigen, die sie auf ihrer jetzt schon monatelangen Gammlerreise getroffen hat, die sich mit ‚ihrem‘ Ernando vergleichen lassen.
Sie machen den Eindruck, Tom mehr noch als Jerry, dass sie aus einer Sicherheit kommen, auch aus einer finanziellen, in die sie jederzeit wieder eintauchen können. Wenn einer hinschaut, merkt er, dass ihre Kleidung ausgewählt ist. Unauffällig - teuer. Was sie tun, tun sie mit Leichtigkeit. Sie ragen unter allen heraus, scheinen Menschen einer stolzeren Rasse.

Die beiden werden sich überall durchsetzen, werden andere beherrschen ... intelligente, kraftvolle männliche Wesen!
Männer, die so robust sind wie sie und eine solche Ausstrahlung haben, verachten gewöhnlich alles Kleine, schwächliche. Es sei denn, es berühre auf irgend eine Weise ihr Herz, denkt Minou. Je hilfloser und unbedeutender eine Frau aber ist, desto mehr fühlt sie sich zu einem Mann dieser Art hingezogen. Ich zum Beispiel, kann mir kein anderes Leben vorstellen, als von starken Armen aufgehoben und beschützt zu werden.
WIRKLICHE Männer denken meistens nur an eines, fantasiert sie weiter. Ihre Zuneigung messen sie an dem Grad der Befriedigung, den sie sich aus dem Zusammensein mit einer Frau herausholen können. O ja, Minou weiß das genau. Sie, die Erfahrene, die große Kennerin der männlichen Psyche!!

Typen kann es leicht geschehen, spinnt sie aus, dass sie genau DER weiblichen Person verfallen, die auf ihre niedrigsten Instinkte am besten eingeht. Sind sie aber auf der Suche nach einer Ehefrau, der Mutter für ihre Kinder, dann siegt nicht der Bauch, sondern der Verstand. Sie suchen sich handfeste Frauen, praktisch denkende, sicher im Leben stehende mit gesunden Nerven, Frauen, die sich selbst lieben und daher auch für andere liebenswert sind, die von innen heraus heil sind und Wohlbefinden ausstrahlen, keine zu empfindlichen, doch disziplinierte, tatkräftige, nicht unbedingt gebildete, aber kluge. Schluss ... ausatmen ... Minou ... und gut!

Aber es ist doch wahr: von all diesen Eigenschaften ist sie Lichtjahre entfernt.
Ich werde nie für jemanden taugen. Weder als Repräsentantin seines Hauses, wie Nikos mich gern gesehen hätte, noch als schützende, intakte Bewahrerin des heiligen Feuers am Herd. Auch als gute Mutter und Mittelpunkt der Familie werde ich nicht zu gebrauchen sein. Ebensowenig liegt es mir, mit den niederen Trieben und Leidenschaften der Männer schlau umzugehen. Nicht einmal eine ordentliche Hure könnte ich sein, spürt Minou.

*


Was vorherging:

Sommer 1960. Minou, aufgewachsen mit Vater, Geschwistern und der Stiefmutter Lisa in einem kleinen Ort in Deutschland, ist 21 Jahre alt. Nach einem denkwürdigen, in Sizilien verbrachten Urlaub, der ihr Leben änderte, einer 'verhängnisvollen' Affäre mit Ernando Sascala und der geplatzten Hochzeit mit Nikos Sakatis, einem griechischen Geschäftsmann, ist sie jetzt - von ‚ihren‘ Männern verlassen - nach Athen, dann in die griechische Inselnwelt geraten.
Auf der Insel Ägina lernt sie die beiden jungen Abenteurer, Tom und Jerry und die Griechin Elena kennen. Sie verleben schöne, gemeinsame Tage. Als Elena abgereist ist, fahren die beiden Männer mit Minou nach Hydra. Jedoch ... man entfremdet sich.



08
FLUCHT?


Auf Hydra hält Minou es nach einer Weile nicht mehr aus. Ruhelosigkeit treibt sie und Sehnsucht nach neuem, nach noch mehr ‚Welt‘. Oder Einsamkeit? Tom und Jerry, stets auf der Jagd nach bespringbaren Weibchen, verunsichern sie immer mehr.

Zufallsbekanntschaften sind sie, schreibt sie in ihr Notizbuch ... wir haben uns genähert und driften jetzt wieder auseinander. Wie Schiffe, die sich nachts begegnen. – Den grandiosen Satz hat sie einmal irgendwo gelesen. Er hat sie beeindruckt.
Minou wünscht sich aufs Meer hinaus. Tiefer in die Inselwelt hinein. Wie Elena wird sie es machen, wird heimlich verschwinden: Wenn die zwei aufstehen, wird sie fort sein. Nur Maria, die Wirtin, weiß Bescheid.

In grauer Morgenfrühe sitzt Minou mit ihrer Reisetasche unten am Kai draußen beim Kafenion. Im Gedränge von Menschen, Gepäck und Haustieren. Inmitten fremder, zusammengeschnürter Habe. Das Schiff wird diesmal überfüllt sein.

Von hier unten kann sie ein Fenster des Zimmers sehen, in dem sie gewohnt hat. Auf dem Sims steht noch punktklein der halbverblühte und vergessene Rosenstrauß mit den hellrosa Blütenköpfchen, den ihr jemand ( Tom oder Jerry ? wer sonst? ), vor genau einer Woche mitsamt dem Krug heimlich auf ihre Türschwelle gestellt hat. Aber nur ROTE Rosen sind ein Zeichen für Liebe, für Begehren. Diese waren hellrosa. Merkwürdig.

Unter dem Dach der Pergola bringt ihr der noch unrasierte, verschlafene Patrone ihren letzten, dampfend heißen Kaffee auf Hydra.

Da kommt unvermutet Maria, die Wirtin vorbei, bleibt bei Minou stehen: "Ich bin gerade auf dem Weg zum Markt ... o, da kann ich gerade noch ‚good bye‘ sagen!"
Maria hat ihr einmal von ihren Vorfahren erzählt, den Kapitänen auf Hydra. Die alten Fotos und Portraitgemälde zieren überall in ihrem Haus die Zimmer: Abbilder von stolz und starr blickenden, schwarz berockten, mit kostbaren Schmuckgehängen herausgeputzten Männern und Frauen. In ovalen, ebenholzfarbenen Rahmen sind die meisten von ihnen an einer Wand ihrer Witwenschlafstube versammelt. Mit Maria, der Kinderlosen, wird die Familiensaga den Abschluss finden.
Die Griechin hat Minou von ihrem berühmtesten Verwandten erzählt, dem Flottenkapitän und MILLIONÄR, der eine Anzahl von Frachtschiffen besaß und im ganzen Mittelmeer Handel trieb, sogar über den Atlantik bis nach Amerika Beziehungen aufgebaut hatte. Damals als Hydra noch stolz und mächtig war. Er hat auch das große, geräumige Herrenhaus auf dem Hügel gebaut, dessen Schönheit und der Gefallen, den die Touristen daran finden, der Nachkommin jetzt ihren Lebensunterhalt sichert. Denn irgendwann führte 'Hellas' Kriege. Danach muss es zur Bestrafung Gesetze gegeben haben, die den griechischen Inselbewohnern verboten, mit ihren Schiffen weiterhin die Meere zu befahren und Handel zu treiben. Hydra wurde schnell arm. Versank in Bedeutungslosigkeit. Nun leben die Bewohner nur noch vom Fischfang? Alles hat Minou nicht verstanden. Marias Englisch ist eher unklar.

Maria ist alt. In Schwarz gekleidet. Nicht in vornehme Seide, nicht schmuckbehangen wie ihre Ahnfrauen, sondern in Rock und Pullover simpelster Art. Sie trägt schwarze, gestrickte Strümpfe aus Wolle und stets die gleichen, breitgetretenen, aber brilliant polierten Halbschuhe mit den globigen Altweiberabsätzen und den tausend Fältchen im Leder, denen die in ihrem Gesicht jedoch in nichts nachstehen.. Die winzige, magere Frau hat Haar von reinstem Silber und ein ruhiges, trotz der tausend Falten klares, harmonisches Gesicht, dessen Züge edel sind und auf ihre verwitterte Weise schön. Maria, Nachfahrin von Seehelden und Tankerkönigen! Jeden Tag macht sie die fünf Fremdenzimmer selbst sauber. Personal hat sie keines. Nur ein junger Nachbar hilft bei Reparaturen.

Wenn Maria alle zwei Tage morgens an die Zimmertür klopfte und mit Wassereimer, Schrubber, Staubtuch kam, schämte sich Minou, dann wurde sie sich der eigenen Faulheit wieder einmal herzklopfend bewusst und bestand darauf, ihr Zimmer selbst sauber zu machen. Das tat sie auch – aber selten ... Meistens aber hatte sie keine Lust. Es war ja nirgends Schmutz zu sehen und sie sagte, ach ... es sei gut genug. Maria marschierte dann unter mildem Protest, doch nicht unzufrieden, mit ihrem Eimer weiter.

*

Das Schiffssignal hallt über das Hafenbecken. Dumpf. Ein langgezogener, hohler Ton. Die Fähre. Da geht Minou im Gewusel der Passagiere und Tiere an Bord. Maria winkt mit einem großen, weißen Taschentuch. Das Tuch leuchtet. Minou steht an der Reling und winkt zurück mit ihrer weißen Strickjacke ... sonst hat sie nichts zur Hand. Die Jacke leuchtet ebenfalls.
Das muss ja aussehen wie in einem kitschigen Heimatfilm ... Abschiedsschmerz am Bodensee würde genauso aussehen, denkt Minou und winkt so lange, bis Maria verblasst ... erst das Hell ihres Tuches und ihres Gesichtes, dann ihre Gestalt, dann die ganze Insel sich einblendet ins dunstige Blaugrau der morgendlichen See. Da entgleitet Hydra, ihr Paradies.

Minou will nach Santorin. Die Fähre aber wird sie zunächst zurück zum Festland bringen. Eigentlich ein großer Umweg, wenn man sich die Ägäiskarte anschaut. Doch nur vom Piräus aus bekommt man ein Schiff zu den Kykladen. Der Zeitverlust macht ihr nichts aus. Im Gegenteil. Sie muss ohnehin zurück nach Athen, muss den Avvocato aufsuchen ...

Sie bleibt nur kurz in Athen. Wieder ist Piräus für sie das Sprungbrett zur Sehnsucht. Wieder ist sie auf einer neuen Reise.

*





09
STURM


Durch die ruhigen Wasser schraubt sich das kleine Schiff immer tiefer hinein ins tiefe Blau. Wo bald nichts mehr ist, als Himmel, Meer und laue Wärme.
Wieder Medusen, Riesenquallen. Durchsichtig. Gläsern. Wie schillernde Schleier. Wogend. Sie wechseln zu allen Farben des Regenbogens. Die See ist voll davon. Pulsierende Wunderwesen. Dicht unter der Wasseroberfläche treiben sie dahin in tropischer Fülle und Pracht.

Minou hat ihren Platz auf dem Außendeck. Heute geht es ihr gut. Ihr ist leicht und hoffnungsvoll zumute. Ganz und gar gelöst ist sie. Eins mit sich und der sonnenüberfluteten Welt.
Ein Mann schleicht in der Nähe herum. Ein Grieche. Er ist nicht jung. Graue Locken wuchern üppig an seinen Schläfen, schwarz drahtig sind sie am Hinterkopf. Seine Schädeldecke aber ist sonnenbraun glänzend, kahl. Der Mann hat einen schwarzen Vollbart.
Er nimmt Minous Reisetasche vom Boden, wuchtet sie auf die Bank, als sie sich gerade bückt und darin nach einer Orange kramt.
Die Tasche sei da oben besser aufgehoben, sagt er in holprigem Englisch. Lacht. Es macht ihm nichts aus, dass das Behältnis jetzt einen ganzen Sitz einnimmt, während neu zugestiegene Passagiere freie Plätze suchen und keine finden.
Ihre Tasche thront nun da, wo eigentlich ein Mensch sitzen sollte. Das ist peinlich. Minou sagt nichts. Später wird sie das Ding wieder nach unten stellen.

Minou tritt zur Seite, etwas weg aus dem schweißigen Dunstkreis des Mannes. Steht an der Reling, schaut in die Ferne. Der Grieche sagt, dass sie 'a very pretty girl' sei und ER der Kapitän dieses Schiffes. Capitan betont er mehrmals, damit sie endlich begreife, denn sie scheint von seinen Worten nicht genug beeindruckt.

Sein marineblaues Hemd ist durchgeschwitzt, der Bauch fett. Wie ein Sack hängt die Hose. So, ohne Uniform, ohne die geringsten Insignien seiner Macht, hat er keinerlei Ähnlichkeit mit einem smarten Schiffskapitän, wie man ihn sich sonst vorstellt. Eher sieht er aus wie eine Karikatur seines Landsmannes, des listenreichen Odysseus.
Es gibt viele Machos seines Schlages und Typs, die auf ähnlich schrottreifen Kähnen durchs griechische Archipel tuckern.

Dieser harmlose Mensch hat etwas Rührendes an sich, der Kleine, Dicke aus der Ägäis, denkt Minou. So harmlos ist er dann aber doch nicht: Unverständliches raunt er ihr nach drei Minuten zu und tatscht nach ihr: weil das Schiff nämlich beim Anfahren einen Ruck macht. Da mimt er gern den Beschützer. Fasst sie um die Hüfte. Er muss sie doch fürsorglich vom Stolpern abhalten. Obwohl sie gar nicht gestolpert ist. Sie, die ihn um fast zwanzig Zentimeter überragt. Er bekommt einen roten Kopf, lässt sie schnell los. Er hat ihr Starrwerden, ihre Abwehr, gespürt.

Er bietet Minou dann eine seiner starken Zigaretten an. Die nimmt sie und dankt ihm.

"Kommen sie doch mit nach oben", schlägt er vor. Zeigt himmmelwärts. Meint ein höhergelegenes Deck. Da sei es angenehmer. Man habe von dort eine bessere Aussicht.
Sie schüttelt den Kopf. Drückt sich fest und bestimmt auf ihren Platz, Augen aufs Meer gerichtet. Ihr steht der Sinn nicht nach radebrechendem Flirten mit einem undefinierbaren Typen. Sie blickt übers Geländer in die Ferne, wo die Umrisse einer Insel gerade blau am Horizont verschwimmen. Hier hat sie ihren Sitzplatz ergattert. Auf dem lauten, überfüllten Außendeck. Hier wird sie bleiben. Nahe dem Wasser. Sie möchte in Ruhe das Meer betrachten und das Treiben der Passagiere, das um sie herum brandet.

Er gibt nicht auf. Bittet. Lächelt. Packt sie sogar am Arm.
Warum macht der das jetzt mit mir?, denkt sie, es sind doch genug Frauen an Bord.
Innen in ihr drin hat sie dumpf die Antwort: Es ist nicht, weil sie besonders hübsch wäre oder besonders liebenswert, nein ... es ist ... weil ich billig aussehe, BILLIG, flittchenhaft. Dass jeder Mann glaubt, er könne mit mir nach seinem Willen verfahren.
Lisa hat ihr das oft genug gesagt. "Würdest du dich nur sehen, wie du dich herrichtest! Da ist es kein Wunder, wenn Männer ihre dreckigen Hände an dir abwischen wollen. Du forderst sie ja heraus. Guck dich an!"
Dabei hatte die zweite Mutter auf ihre unnachahmliche Weise auf Minou heruntergeblickt: angewidert, erhaben, hochmütig.
"Du bist so, ach ... mir fehlen die Worte", hatte sie gerufen, "ich würde mich vor Scham verkriechen an deiner Stelle. Wie eine Hure siehst du schon wieder aus."

Solche Worte vergisst man nie. Und sollte Minou sich je so hergerichtet haben ... jetzt tut sie das schon längst nicht mehr.

*

Der Kapitän kommt Stunden später zurück. Diesmal in der Hitze des Mittags. Er überreicht Minou eine Flasche Limonade plus Strohhalm. Feierlich. Mit ( gespielter? ) Beflissenheit und hochrotem Kopf. Bietet ihr wiederum an, mit ihm nach oben zu gehen. Da folgt sie ihm dann. Was ist schon dabei? Oben ist es bestimmt wirklich viel besser. Denn inzwischen sind die Decks und inneren Räume der Fähre mit Passagieren zum Bersten vollgestopft. Sie stehen Kopf an Kopf, selbst auf den Gängen. Von einer Insel, die sie in der Zwischenzeit angelaufen haben, sind Familien mit Kind und Kegel zugestiegen. Sogar eine mittlere Schafherde blökt jetzt an Bord.

Minou stakst vor dem Kapitän Eisentreppen hinauf, dann noch einmal über eine Metalleiter ganz nach oben, zur Brücke, in den Navigationsbereich des Schiffes, der sonst höchstwahrscheinlich für Fremde tabu ist. Ein paar junge Burschen, ( Matrosen ohne Uniform ?), grinsen. Kommen herbei. Erst langsam, zögerlich, dann beherzter ... Minou fühlt sich unwohl, so umlagert. Das schafft sie kaum, mit einer zudringlichen Meute fertig zu werden. Sie sagen ihr, wie sie heißen: Jorgos, Takis, Dimitri, Grischa. Will sie das überhaupt wissen?
"Und wie ist dein Name?" fragen sie. Einer rät: "Marilyn!" Da muss sogar Minou lachen. Aber wie sie sie beäugen ... die tun, als hätten sie lang keine Frau mehr gesehen. Einer berührt sie am Busen. Aber eher zufällig, so, dass man nicht weiß ... ist es vielleicht doch Absicht? Da murmelt sie etwas. Unsicheres. Und macht sich los. Zieht sich allein ans Geländer zurück. Das akzeptieren die Matrosen aber keineswegs. Kommen ihr wieder nach. Erst nach einem energischen Zuruf des Capitains, lässt man sie in Frieden.

Der Skipper steht mit einem anderen Mann in einer Art Aufbau oder Steuerhaus, wo die Apparaturen sind. Minou hat sich draußen an der Reling einen Platz gesucht.
Er tritt nach einer Weile zu ihr und fragt, ob sie nicht hinein zu ihnen kommen möchte. Aber das will sie nicht. Er plaudert in einem besonderen Englisch. Sie versteht nur wenig. Dann versucht er, seinen Arm um sie zu legen.

"Do not touch, I do not like it", sagt sie heftig. Genervt aber mit ( noch immer ) einem Bemühen um Höflichkeit. Nein, begrabschen lässt sie sich nicht. Nicht von ihm. Überhaupt von niemandem!
Er bekommt einen roten Kopf. Hält jedoch von da an strikt auf Anstand. Berührt sie nicht mehr. Soviel gestenreiches aneinander-vorbei-Reden, soviel Lachen aus Verlegenheit! Bald geht er wieder auf seinen Posten.

Minou auf ihrem einsamen Platz, schwebt hoch über den Wassern, so als gäbe es kein Schiff, keine quirlige menschliche Fracht auf dem Deck unter ihr. Allein ist sie mit der unendlichen See ...

Irgendwann später kommt der dicke Mann zurück. Sie müsse bestimmt Hunger haben, meint er. Bietet ihr von seiner Mahlzeit an, Schafskäse, Brot, eine Art Fischpastete, Wurst.. Und Ouzo ... ( "Davon lieber nicht, danke!" ) Zur Mahlzeit gelingt es ihm doch, sie aus Bequemlichkeitsgründen ins Steuerhaus zu locken ...

Alles ist äußerst eng in dem Räumchen mit seiner Front aus Glas. Ab und zu steht einer der jungen Matrosen draußen wie ein Kundschafter, schaut herein, grinst übers ganze Gesicht. Der Kapitain benimmt sich gentlemanlike. Kauderwelscht recht höflich. Berührt sie nicht mehr.
"Ach", denkt sie, "alle sind so freundlich, eigentlich sind es nette Leute." Es schmeckt auch gut, was ihr der Captain da zu essen gibt.
Um ihnen, die jetzt vollzählig ums Brückenhäuschen herumlungern und interessiert hereinschauen, etwas Nettes zu sagen, sprudelt sie die paar Worte Griechisch heraus, die sie gelernt hat: "Ine kalo", lacht sie, "ine kalo psomi, tiri, feta, elies, arni, lukumi" Wobei sie bei jedem der für sie noch nicht ganz geläufigen Wörter auf das entsprechende Nahrungsmittel zeigt. Die Beobachter grinsen. Der Kapitän meint auf Englisch, dass sie SEHR GUT Griechisch spräche. Sie kichert kindisch. Die Seeleute lachen mit.


Schwarzen Kaffee in zwei Messingstielkännchen auf einem Messingtablett bringt ein Matrose zum Abschluss der einfachen Mahlzeit ... heißen, starken türkischen Kaffee, der aus winzigen Porzellantässchen getrunken wird und süßes, klebriges Gebäck. Dazu das übliche Glas Wasser.
Bevor sie wieder verschwindet, hin zu ihrem Aussichtsplatz am Geländer, fragt der Kapitän kauderwelschend, ob sie Lust habe, nach ihrer Ankunft auf Paros mit ihm 'richtig' essen zu gehen. Zur Bekräftigung seiner Einladung führt er imaginäre Speisen und Becher zum Mund. Zeigt auf Minou, zeigt auf sich. Beschreibt mit den Fingern einen wirbelnden Kreis, was vielleicht 'tanzen' bedeuten soll, zusammen tanzen gehen oder so ...

Minou lächelt ihr Törinnenlächeln. Der Kapitän reibt sich den runden Bauch, murmelt Worte, die sie nicht ganz versteht, die ungefähr bedeuten, dass man auf Paros königlich speisen könne, in der superguten Taverna, da bei seinem Freund, dem Wirt Panajotis. Kalo, kalo ...

*

Später, nördlich von Siros kommt ein Wetter auf.
Der Kapitän und der andere Mann stehen inmitten ihrer Apparaturen. Waschküchengrau ist plötzlich die Himmel- und Wasserwelt. Der Wind ist heftig geworden.

Minou hält sich am Geländer fest. Es ist kühl. Auf dem unteren Deck verschwinden die Passagiere jetzt aus Minous Wahrnehmung. Der gleichmäßige Geräuschpegel aus Reden, Lachen, Kinderstimmen, Schafsgeblök, der die ganze Zeit so anheimelnd zu ihr heraufdrang, ist nicht mehr. Ist im Brausen des Windes verstummt.

Sie sind in stürmischer See.
Es ist Minou auf einmal, als sei sie allein. Alles ist unwirklich. Wie in einem Schwarzweiß-Film ... Farben ... keine, jetzt.
Eine hohe Welle nach der anderen lässt das Schiff tanzen, wirbeln. Minou, auf ihrem einsamen Ausichtspunkt, sieht, wie die Brecher anrollen und sich hochtürmen, bekrönt von Gischtkappen. Ihr ist schwindelig. Schräge Berge aus Wasser kommen auf sie zu. Wo ist oben, wo ist unten? Eine Woge nach der anderen ergreift das Boot, hebt es auf ihre Schulter. Lässt es sausend in fast senkrechter Sturzfahrt in die Tiefe rasen. Wie in eine Gebirgsschlucht. Nichts Festes ist mehr da und das Mutterschiffchen zu unstabil, zu sehr schnellt es hin und her, um ihr das Gefühl irgendeines Haltes zu geben. Ein Spielball sind sie geworden der Elemente.
Das Boot, die aufgebrachte See, sind eins.

Minou klammert sich mit aller Kraft ans Geländer. Sturzbäche von Meerwasser spülen aufs Deck.
Der Navigator und seine Männer sind vielleicht gute Kämpfer gegen den Sturm, vielleicht schlechte. Das weiß sie ja nicht. Vor einem solchen Unwetter hat Minou immer große Angst gehabt. Nun ist es da. Es würde auch nichts nützen, denkt sie, wenn sie jetzt in dem merkwürdigen Steuerhaus beim dicken Kapitän Schutz suchte.

Die Wellen kommen schneller.
Wüßte sie, wie Wasserfahrzeuge wirklich gebaut sind, so hätte sie wahrscheinlich weniger Angst. Dieses Schiffchen ist offensichtlich ein Nichts, verglichen mit der Urgewalt des Meeres kaum widerstandsfähiger als eines jener Boote, wie Kinder sie aus Zeitungspapier falten.
Sie sind dem Ozean ausgeliefert. Hauchdünn wie Pergament scheinen Minou die Bordwände im Verhältnis zu den gewaltigen Wassern. Nichts kann all die Menschen jetzt noch bewahren vor der schwarzen Tiefe.

Das Meer ist mir bisher eigentlich immer freundlich gesonnen gewesen, denkt Minou. Da hatte man nichts von dunklem Geheimnis gesehen, wenn sie mit Nikos und den Leuten von 'la Serena' auf dem Motoscafo die lichtgleißende Küste vor Taormina entlanggerast war oder sich stundenlang schwimmend, schnorchelnd bei den Cyclopenfelsen vor Aci Trezza herumtrieb, in der heiteren, sizilianischen See.
Das ist nicht mehr der gleiche Ozean, denkt sie, so wie heute habe ich ihn nie im Leben gesehen. Nur einmal GETRÄUMT auf der Queen Frederike in jener schrecklichen Sturm- und Regennacht. Und ... hat sie das denn schon vergessen ... in jener Nacht, als sie mit Jerry schwamm und die Brecher plötzlich so hoch wurden.

Jetzt ist die Angst wieder da. Aber Minou sieht ihr ins Auge. Beobachtet genau, was das Schiff an Drehungen, wilden Schlenkern, Zuckungen auf den Wellen vollführt.
Es erscheint ihr fast wie ein Wunder, dass sie nicht schon UNTERGEGANGEN SIND.
Bei jedem jähen Absturz in die Tiefe, glaubt sie: das ist nun das Ende, das endgültige Zusammenschlagen der Wasser über uns allen. Wie es so in Büchern steht: 'Das Meer verschlang sie mit Mann und Maus.'

Es gibt für diesen Kahn keine Passagierliste. Ihr armer Vater wird nie erfahren, wo sie geblieben ist. Er weiß nicht einmal, in welchem Teil der Welt sie sich gerade herumtreibt. Wenn ich das überlebe, schwört sie, dann werde ich Dir sofort schreiben, Papa!

Meerwasser durchnässt sie. Ihre Knie zittern. Das kümmert sie nicht. Auch der Brechreiz kümmert sie nicht, der ihr von tief unten, vom Bauch hochfährt, jedesmal wenn sie ins Bodenlose stürzen und die Himmel-Wasserlinie sich schräg stellt, was ja den Naturgesetzen widerspricht. Das ist alles halb so schlimm. Die Todesangst in ihrer Seele ist viel schlimmer. Und begründet. Weil sie im nächsten Augenblick für immer hinuntersacken werden ins schwarze Nichts.

Noch rettet sich das Schiff aber weiter, von Welle zu Welle. Nur, wie lange? Der Kapitän und die Männer - ihren Blicken entzogen in der Waschküche aus Dunst, Gischt und Grauschwarz - haben das Geschehen bestimmt nicht mehr unter Kontrolle.
Springfluten brechen über die Reling. Windböen zerren Minou beinahe die Bluse vom Leib. Schlagen ihr die total durchnässte Strickjacke wie einen feuchten Lappen um die Ohren ... Mit beiden Händen krallt sie sich ans Geländer. Spürt das rauhe, scharfkantige Gestänge. Das schneidet ihr ins Fleisch. Nur ihre dünnen Finger, die paar Knochen und Sehnen, die sich ums rostbröckelige Metall klammern, halten sie, dass der Sturm sie nicht wegzerrt.
Aber was, wenn ihr jetzt schlecht wird? Sie sich nicht mehr anklammern kann? Dann reíßt es sie unweigerlich hinunter ins bodenlose Meer! Wie auch alles andere, was nicht niet- und nagelfest ist auf Deck. Dass sie urplötzlich daran denken muss! Zum Brückenhaus, zum Kapitän zu kommen ... unmöglich. Das Schiff schlingert wie wahnsinnig. Glitschig nass ist das Deck. Von Gischt, von Wasser übergossen. Da ist nirgends etwas zum Festhalten. Sie wagt keinen Schritt.

Während die Panik kommt und schon alles anfängt, sich um sie zu drehen, bevor die Angst ganz über ihr zusammenschlagen kann - sie kennt das ja! - und sie - um Gottes Willen! - nicht mehr Herr sein wird ihrer selbst, zurrt sie sich die Wolljacke über den Hüften fest. Verknotet die Ärmel so gut sie kann um die Stäbe des Geländers, macht möglichst viele Knoten. Jetzt ist sie sicher angebunden, nicht mehr auf die eigene Kraft zurückgeworfen, der sie noch nie vertrauen konnte. Doch sie vertraut dem Schiff genau so wenig. Das Geländer ist total wackelig. Es kann jeden Augenblick brechen, hinunterkrachen in die brodelnde See. Und sie mit ihm. Ach was, das ganze Boot wird absacken wie ein Stein. Sie werden alle ersaufen!
Niemals hat sie einen Sturm auf See hautnah erlebt.

Der wird jetzt zum Orkan. Schauerlich ist es, wie der Wind übers Meer heult. Das Boot poppt wie ein Korken ziellos auf den Wellen hin und her.
Sie, festgebunden am Geländer, hat ihr Menschenschicksal mit dem Geschick dieses armseligen Kahnes verknüpft.
Das Meer lässt das Boot tanzen nach uraltem Rhythmus.

Minou denkt: Wenn wir schon untergehen, dann werden wir nicht die ersten sein und nicht die letzten.
Tief in ihrer ängstlichen Seele befällt sie ein großes Erschauern. Sie spürt, dass sie ausgeliefert sind, nicht nur an die See, sondern an jene gewaltige Macht, die hinter allem steht. Da fühlt sie: So ist es immer gewesen. Seit Anbeginn der Welt. Unzählige Menschen haben seit Jahrtausenden diese Kämpfe gekämpft, unzählige haben verloren. Unzählige werden noch gegen das Meer verlieren. Die Dinge zwischen den Menschen und dem Ozean sind heute nicht anders als vor tausend Jahren, werden in tausend Jahren so sein wie heute. Stärker als alles ist die See.

Da spürt sie auf einmal mystisch wie am eigenen Leib das Ringen vieler einzelner Menschen mit den aufgebrachten Wassern und es ist ihr, als sei sie selbst einer dieser Menschen: sie fühlt vage die klugen, doch vergeblichen Rettungsversuche nach, die Todesangst der Betroffenen, bis hin zu ihrem elenden Ertrinken am Ende. Sie spürt plötzlich, was sie nie gekannt hat, eine riesengroße Zuneigung für diese tapfere, so arg gebeutelte Spezies, die Gattung 'Mensch' im Allgemeinen und jeden einzelnen im Besonderen.
Heute gehöre ich zum ersten Mal dazu, denkt sie pathetisch, zu all den Seefahrern, die stolz und selbstverständlich seit grauer Vorzeit auf ihren zerbrechlichen Kähnen die Ozeane der Welt bevölkern. Sie ist wie in einem Sog, spürt, wie sie auf einmal verbunden ist mit ihnen allen, den Lebenden und den Toten und mit jener Kraft, die hinter allem steht: GOTT.
Etwas ist in ihr, stärker als die Angst. Sie reißt den Mund auf, singt darauf los, so laut sie kann. Es ist eine Hymne, ein Kirchenlied, an das sie seit der Kindheit nie mehr gedacht hat. Das feierlichste aller ihr bekannten Kirchenlieder:

Großer Gott, wir loben Dich,
Herr wir preisen Deine Stärke,
vor Dir neigt die Erde sich
und bewundert Deine Werke,
der Du warst vor aller Zeit,
der bist Du in Ewigkeit.


Sie kann genauso wenig den Ton halten und singt genauso falsch wie immer, ist sich auch der Theatralik ihres Tuns voll bewusst, aber sie kann nicht anders. Sie schreit es hinein in den brausenden Orkan.

Alles, was dich preisen kann
Cherubim und Seraphinen
stimmen dir ein Loblied an,
alle Engel, die dir dienen,
rufen dir stets ohne Ruh'
heilig, heilig, heilig zu ...


Sie brüllt ihr Lied hinaus übers Meer bis sie heiser ist. Sie weiß, dass es kein menschliches Ohr wahrnimmt, nur der ferne, der unbekannte ... Gott, der hört es. Vielleicht. Der Sturm reißt ihr die Töne von den Lippen, zerfetzt sie über dem Ozean.
Nachher weint sie und zittert am ganzen Leib. Das Tohuwabohu dieses Orkans hat nicht einmal eine Stunde gedauert und doch ist sie ganz und gar erschöpft.
Dabei hat sie doch nichts getan, nur zugesehen und ausgeharrt.
Als der Höhepunkt des Unwetters vorbei ist, geht sie leise zu den anderen. Die Männer an den Navigationsinstrumenten plaudern lässig, als sei nichts gewesen. Der Captain grinst sie von der Seite her an. Sie haben anscheinend die ganze Zeit über ihre stoische Ruhe bewahrt. Sturmerfahrene Leute sind es, die keinen Augenblick an Scheitern dachten, sondern das taten, was nötig war. Da steigt ihre Achtung für den korpulenten Möchte-gern-Casanova und seine Matrosen.

Das Meer wird langsam ruhiger. Glatter. Irgendwann ist die Gefahr ganz vorbei.
Später wird es schön, als die Wogen noch immer hoch, aber nicht mehr ZU HOCH sind. Da lässt endlich Minous Erregung und Überspanntheit nach. Da fährt jetzt die Calypso lustig Achterbahn. Das verursacht jedesmal, wenn es hinuntergeht ins Wellental, ein riesiges Kribbeln im Bauch. Es macht langsam Spaß. Minous Angst ist irgendwann sogar spurlos verschwunden.
Inzwischen ist es Nacht geworden, eine schöne Sternennacht. Minou hat eine trockene Cordhose und ihren weißen Pulli mit langen Ärmeln aus der Reisetasche angezogen. Der Wind ist kühl, doch nicht so kühl, dass man friert. Es riecht nach aufgewühlten Algen, Meeresgrund.

Der Kapitän steht jetzt neben ihr am Geländer. Das Schiff schlingert noch immer, die Wellen sind immer noch recht hoch. "In einer halben Stunde werden wir in Parikia sein", sagt er, "dort trinken wir Rezinawein und lassen uns von Panajotis etwas Gutes zum Essen bringen!" Sie lässt es geschehen, dass er den Arm um sie legt, sie sogar an sich zieht.

Sie kann es kaum noch nachfühlen, ihr Erlebnis von Gottes Nähe, der Eingebundenheit in die Dinge des Universums, diese hehren Gefühle die sie eben mächtig aus der Bahn geworfen haben. Es ist, als sei es nie gewesen.

Der Mann erklärt ihr, dass sie in einen Meltemia geraten seien. Später wird sie in einem Buch nachlesen, herausfinden, was das ist, Meltemia. Es sind Stürme, die entstehen, wenn die kalten Winde aus Asien, also vom Schwarzen Meer, mit der heißen Luft über der Ägäis zusammenstoßen.
"They mix up the air and make bad weather," sagt der Mann, "it happen sometimes in July, August."

*

In Paros geht Minou an Land, den dicken Kapitän im Schlepptau. Der trägt ihre Reisetasche hinter ihr her. Da spürt sie: ihre Beine halten sie kaum mehr. Sie schwankt wie betrunken. Jetzt merkt sie ... sie ist vollkommen erschöpft. Ich brauche ganz schnell eine Tasse guten starken Kaffee, denkt sie. In ihrem Brustbeutel ist der Zettel mit der Adresse einer Pension am Kastrohügel, den Maria, die Wirtin von Hydra, ihr mitgegeben hat.

*




10
WIEDERSEHEN AUF PAROS

 

Abendgewimmel herrscht auf Paros. Hochbetrieb. An der Uferpromenade lagert viel buntes Volk im Freien. Im Schein von Kerzen und Windlichtern hocken junge Leute beisammen, Rucksacktouristen, Weltwanderer: Amerikaner, Engländer. Auch ein paar wetterfest in graue oder grüne Windjacken gehüllte, deutschsprechende Typen. Die Nacht ist kühl. Die Tische der Kafenions im Freien sind bis auf den letzten Platz besetzt. Auf Quadern, auf den Mauern am Kai sitzen ebenfalls Leute. Gepäck türmt sich. Es wird noch vor Mitternacht ein Schiff abgehen. Wohin?

Minou läuft an der Seite des dicken Captain über die Promenade. Jetzt muss sie sich erst einmal hinsetzen, ausruhen, einen guten Kaffee trinken. Dann wird sie weitersehen. In der vorgebuchten Pension einchecken. Vielleicht wird sie mit dem Mann danach noch essen gehen. Vielleicht!
Drüben spielt ein junger Schwarzer Gitarre. Stimme wie Harry Belafonte: etwas heiser, schmelzend und sehr erotisch. Einfach die Melodie... amerikanische Folklore in einer Nacht am griechischen Meer: Der schwarze Mann singt: Red River Valley:

From that valley they say you are going.
We shall miss your bright eyes and sweet smile.
For they say you are taking the sunshine
that has brightend the backway a while ...


Süßes Aroma von Zigaretten und Pfeifentabak in der Luft, dazu der Geruch des Windes, der von See kommt. Weinflaschen gehen um, Paare sitzen eng aneinandergelehnt. Küssen. Schmusen. Manche summen das Lied mit:

Just remember the Red River Valley.
And the Cowgirl that's loved you so true.


Dann OLD MAN RIVER. Der farbige Amerikaner singt: Old Man River. Seine Zähne blitzen weiß aus der Dunkelheit. Die Amis fallen lautstark ein:

"Every time I hear that song,
Mississippi roll along.
Until the end of time ...
Mi - i - ssi - ssip- pi, always on my mind ... "


Diese Amerikaner. Mitten in der Ägäis haben sie Heimweh nach dem alten Vater der Ströme, von dessen Wassern Minou nicht viel weiß. Aber die Träume sind auch in ihr und das Sehnen.
Es sind die Namen, die einen süchtig machen, denkt Minou, es ist der Klang: "OLD MAN RIVER" ... " DOWN IN LOUISIANA" ... "RED RIVER VALLEY" ... "MISSI-SSI-PPI ALWAYS ON MY MIND"

In dieser Stunde kommt es ihr vor, als warte die große, weite Welt nur auf sie. Der überstandene Sturm und ihr heute um ein Stück gewachsenes Selbstvertrauen versetzen sie in Hochstimmung. Sie weiß, wie ihre Zukunft werden wird: Herrlich. Alles in der Welt will sie sehen, hören, schmecken, erleben ...
Es ist ganz leicht, stellt sie fest, es geschieht wie von selbst ...

Die Wellen schlagen heute Nacht auf Paros lauter, wilder ans Ufer als irgendwo sonst auf der Erde. Eine herbe Brise weht vom Meer her. So, wie sie frischer, reiner nicht sein kann.
"We go and have a good supper now", sagt der Grieche. Minou will aber noch ein bisschen dableiben und mitsingen. Langsam tragen ihre Beine sie auch schon wieder.

Und plötzlich! Wie seltsam das Leben ist! Da landet sie auf einer fremden Insel, hört auf einmal ihren Namen. Aus Erschöpfung bildet sie sich das vielleicht ein.
Jetzt hört sie es wieder: " Minou ... hallo child!"
Dann sieht sie Jerry und Tom an einem der Tische. Kaum zehn Meter entfernt. Es kann nicht wahr sein. Das Blut fährt ihr in den Kopf und ein jäher Aufruhr durch alle Glieder: Überraschung. Freude? Ja, warme Freude ...
Mit welchem Schiff sind die nur gekommen?

Tom reckt beide Arme in die Höhe. Ruft. Er muss Menschenköpfe und vielsprachiges Stimmengewirr überbrüllen. Da ist Jerry schon bei ihr. Legt seine Arme um sie.
"Heh child!" Küsst sie auf die Wangen. Heftig. Und lachend. A Greek welcome. Er packt sie beim Ellenbogen. Zieht sie mit. Der Kapitän läuft verduzt mit Minous Reisetasche hinterher.
Jerry hat schon einen Stuhl vom Nachbartisch gegriffen. "Da, setz dich her zu uns!", sagt er.
"Du brauchst bestimmt zuerst einen Kaffee, wissen wir doch", meint Tom und schnippt mit einer Handbewegung den Kellner heran: "enan elliniko kafe, parakalo!"

Die beiden Ägypter scheinen wirklich froh, sie wiederzusehen.
Der korpulente Seefahrer gehört aber jetzt ebenfalls zu ihr. Sie stellt ihn den Freunden vor. Seinen Namen weiß sie nicht. Sagt: "This is the man, whose ship almost sank today in the ocean!"
Der Kapitän grinst, Jerry auch.
"Es war wirklich ein unglaublich schlimmer Sturm," ruft Minou pathetisch, "an incredibly horrible storm ... und ihr ... hört bitte auf, zu lachen."
Tom stellt Minou und dem Kapitän zwei junge Frauen vor, die bei ihnen sitzen: Edith aus London, Mary: eine Irin.
Dann macht die zusammengewürfelte Schar in englisch ‚conversation‘. Worüber spricht man? Ist auch gleich. Über den Meltemiasturm ganz bestimmt, dessen Ausläufer man sogar hier noch spürt: "Seht euch nur die Wellen an!"

Der Captain ist hinter Minous Stuhl stehen geblieben. Es gibt keine freie Sitzgelegenheit mehr, wo er hätte Platz nehmen können.
Er nickt ihr nach einer Weile wortlos zu. Fordert mit einem Kopfzeichen, dass sie beide nun gehen sollten. Doch Minou hat angefangen, begierig den heißen Kaffee zu schlürfen. Und sie fühlt sich geborgen bei den zwei Männern, die sie jetzt schon so lange kennt. Ihr Tom, ihr Jerry ... ja, Freunde sind sie eigentlich, ihre einzigen Freunde. Sie wolle hier am Tisch bleiben, sagt sie, der Kapitän möge sich doch zu ihnen setzen. Dem Griechen ist sichtlich unwohl in Gesellschaft dieser so viel attraktiveren Männer, die sein sicher geglaubtes Date mit der Kleinen wahrscheinlich gleich zunichte machen werden, Männer, die ihn selbst keinesfalls zum Bleiben einladen.

"Come now, we go", sagt er zu Minou.
Die schüttelt den Kopf. Wird ein bisschen rot. Zuckt abbittend die Schultern. Bleibt aber starr sitzen. Sie hat ihm gar nichts versprochen!
Die Dinge entspannen sich. Laufen ihren Gang. Einheimische Kafeniongäste an entfernteren Tischen, offensichtlich gute Bekannte des dicken Mannes, haben ihn erspäht, rufen ihm "Capitano" und "Costacci" zu. Gläser reckt man ihm entgegen. Winkt ihn lebhaft heran ...
"You come with me now", sagt der Grieche. Nachdem er seinen Wunsch auf so einfache Weise auf den Punkt gebracht hat, packt er sie beim Handgelenk, will sie mit sich fortziehen, wie es vorhin Jerry getan hat..
"Ich bleibe lieber hier", murmelt Minou. "I'm sorry", fügt sie hinzu. Lächelt ihr Törinnenlächeln: "Don't be mad at me, please.."
Aber der Mann ist 'mad'. Sie kann es an seinem Gesicht sehen. Er steht eine Weile trotzig neben ihrem Stuhl, will sie bei den Oberarmen hochziehen. Sie sperrt sich. Er lässt sie endlich los. Was soll er sonst tun? Er macht eine leichte Verbeugung zu ihr hin, zu den anderen vieren. Schreitet stolz davon in Richtung seiner wartenden Bekannten. Minou hört noch, wie sie ihn launisch willkommen heißen.

"Wir dachten, du seist auf dem Weg zurück nach Deutschland", sagt Jerry, "das war vielleicht eine Überraschung, als du am Morgen verschwunden warst. Wir haben dich vermisst. Am Ende hat uns Maria verraten, was du vorhattest und wo wir dich treffen könnten. Sorgen macht sie sich. Sie mochte dich. Hat uns gebeten, auf dich aufzupassen, wenn wir dich fänden."
"Seid ihr wirklich wegen mir nach Paros gekommen?" fragt Minou ungläubig, "only for me?"
Jerry zuckt die Achseln: "Dieser komische Typ hier, der Tomas, hat jedes ankommende Schiff abgepasst in der Hoffnung, dass du auftauchen würdest. Und du siehst ... er hat Erfolg gehabt."
Natürlich ist Minou klar: es ist nicht Tom gewesen, der sie suchte, sondern es muss er gewesen sein, er allein ... Jerry.
Sie staunt, wie heftig er sie eben an sich gerissen hat.

Jetzt aber hänselt er sie wieder: "Kaum bist du allein auf dich gestellt, da stolperst du gleich einem fetten, griechischen Seeungeheuer in die Arme!"
Sie grinst. Eben, als er sie anpackte, glaubte sie gespürt zu haben, dass er sie noch immer liebenswert findet. Nach seinem leidenschaftlichen Begehren sehnt sie sich sehr.

Die beiden jungen Frauen am Tisch reden wenig. Es schlägt Minou leichte Feindseligkeit entgegen.
Inzwischen hat an der Mole, trotz wild bewegter See, das von so vielen erwartete Schiff angelegt. Es wird in einer halben Stunde auslaufen. Der Meltemia hat die Fahrpläne durcheinander gebracht. Die Schar der Rucksacktouristen geht jetzt gemächlich an Bord, mit ihnen auch der farbige Sänger.
Einheimische sitzen da und dort noch im Kafenion, plaudern mit gedämpften Stimmen, während sie ihre Komboloi-Perlenschnüre klickend durch die Finger gleiten lassen. Andere spielen auf abgeschabten Brettern Backgammon für Geld. Es ist wie auf jeder ägäischen Insel, wenn es Nacht wird oder wenn keine Touristen da sind. Plötzlich ist alles ein bisschen schäbig. Am Tisch neben dem ihren hier draußen im Freien hocken junge Franzosen. Mein Gott, sie haben nichts anderes zu tun. Sie klopfen Karten ...

Die Art aber, wie das schwache Glühbirnenlicht der Schankstube zu ihnen herausfällt und die Sachen auf dem Tisch und die Gesichter der Umsitzenden gelb der Dunkelheit entreißt, erinnert Minou an Van Goghs Bild vom Nachtcafè in Arles, das nämliche Gelb und Blau, der Sternenglanz ... nur dass hier noch dazu der Ozean rauscht und Wellen hoch auf die Quadern am Quai schlagen..
Diese Juninacht des Jahres 1960 auf Paros wird sie sich Jahre später ins Gedächtnis zurückrufen: Den seltsam hellen Himmel. Das Geräusch der Brandung. Das große, beleuchtete Schiff am Pier, das im Wellengang schlingert. Touristen stapfen noch immer über die schaukelnde Gangway hinauf. Von Deck klingen Gitarren und Gesang bis zu ihrem Kafenion am Ufer herüber.

Von 'ROLLING HOME' singen sie,‘ACROSS THE SEA‘, 'LA PALOMA, und 'PLENTY OF GOLD, SO I AM TOLD, ON THE BANKS OF SACRAMENTO ... '

Das beleuchtete Schiff hat auf einmal die Anker losgemacht, gleitet in die dunkle Weite des Ozeans. Minou folgt ihm mit den Blicken, bis die Lichter verschwunden sind und der letzte Musikfetzen abreißt.
In dieser Nacht kann Minou die Augen nicht von den beiden Männern aus Alexandria wenden. Der Zeitabstand zwischen jetzt und dem letzten Beisammensein, hat sie wieder zu hochinteressanten Fremden gemacht. Dramatisch wachsen Ihre wuchtigen Schultern, die scharf geschnittenen Profile auf vor dem hellen Himmel. Unbekannte Wesen. Nicht immer freundliche, das weiß sie ...
Wildheit und Kraft geht von ihnen aus. Heute mehr denn je. Obwohl sie gerade nett zu ihr sind. Die Blicke der beiden schweifen umher. Sie halten Ausschau. Wonach? Sind sie gelangweilt? Mit den Engländerinnen scheinen sie sich jetzt nicht mehr wohlzufühlen. Aber auch nicht mit ihr, die Jerry vor einer Stunde noch leidenschaftlich in seine Arme gerissen hat. Die beiden Typen blicken unbestimmt ins Weite. Tomas vor allem. Witternd. Ein Löwe auf dem Sprung. Wer sind sie? Männer aus dem unberechenbaren Geschlecht der Scythen. Der alten Ägypter?
IHN starrt Minou am meisten an, ohne dass er es gewahr wird - ihn - der sich 'Jerry' nennt.

*

Die eine Frau an ihrem Tisch, Edith, trägt eine große Insektenaugen-Sonnenbrille. Die Brille mit den nachtschwarzen Gläsern steht ihr gut. Sie verbirgt ihre Züge. Durch das Unsichtbarsein der Augen rückt ihr kleiner, herber Mund erst recht ins Blickfeld. Er ist dunkel geschminkt, schwärzlich lila. Winzig und weiß sind ihre sägeartigen Zähnchen, die sie selten zeigt und wenn, dann in einem sekundenkurzen, schnell abreißenden Lachen..
Mit ausgeblendeten Augen ist dieses Antlitz starr, beige-weiß. Erinnert an das einer japanischen Geisha.

Die andere, die Irin, heißt Mary. Sie hat ein eher flaches Gesicht: ebenmäßig, bäuerlich, kräftig. Eigentlich altmodisch. Hübsch aber schon. Das robuste, gesunde Aussehen ihrer Wangen spiegelt sich im feuerroten Haar wider, langem, dichtem, strack herabfallendem Haar von der Kraft eines Rossschweifes. Mary hockt auf Toms Schoß, beschmust, beturtelt ihn. Tom schüttelt den Kopf wie ein begossener Pudel, wenn sie zu heftig an ihm herumnagt. Jetzt wickelt sie eine ihrer drahtigen, feuerroten Strähnen um einen Finger. Kichernd kitzelt sie Tom damit im Ohr und an seiner Nase, dass er niesen muss. Er packt sie bei den Hüften, setzt sie auf den Nebenstuhl: "Keep quiet, girl!". Er lacht, drückt ihr einen Kuss auf den Mund. "Why don't you kiss me", hatte sie die ganze Zeit über gemaunzt wie ein Kätzchen.

Jerry trommelte eben noch mit den Fingerknöcheln auf der Tischplatte den Rythmus einer Melodie mit, die von dem auf den Wellen schaukelnden nächtlichen Dampfer herübertönte: AULD LANGSYNE ...

"Faut-il nous quitter sans espoir,
sans espoir de retour",
schmetterten die Franzosen am Nachbartisch,
"ce n'est qu'un au revoir mes frères ... "

Jerry fragt Minou, ob sie noch irgend etwas trinken wolle. "Ja, bitte, noch einen Kaffee!"
Kaffee bestellt sie immer als erstes, wenn sie an einem neuen Ort ankommt, Kaffee morgens, mittags, abends, nachts.
Irgendwo auf der Welt die erste Tasse zu trinken, ist der Beginn eines sich ‚Einrichtens‘ an einem neuen Ort. Überall, wo sie bereits soviel innere Ruhe gefunden hat, dass sie gelassen dasitzen und eine Tasse Kaffee trinken kann, hat ein Stückchen HEIMAT für sie begonnen, denkt sie.

Das ist jetzt die zweite in kurzer Zeit. Hier in dieser Kneipe servieren sie den türkischen, starken mit dunkelbraunem Bodensatz, den man aus dem langstieligen Messingkännchen in ein Tässchen gießt. Er schmeckt am besten, wenn man viel Zucker hineinlöffelt. Jede Art Kaffee ist Minou recht: Kaffee, damit man die Gedanken ordnen kann, dass man immer ganz Herr der Dinge bleibt. Kaffee macht innen drin energisch, macht das Denken nüchtern und klar. Und ausgeglichen.
Die Porzellantasse ist winzig. Am meisten liebt Minou aber die großen, dickwandigen Henkelbecher. Darin kriegt man in Griechenland amerikanischen Pulverkaffee serviert: Nes ... Besonders am Morgen am Meer, wenn Glieder und Kleidung von der Nachtluft klamm sind, ist es schön, die Hände um ein bauchiges, heißes Steingutgefäß zu legen und die im Ton eingefangene Hitze in sich hineinströmen zu lassen.

Costa, der Kapitän, löst sich aus der Gruppe seiner Landsleute und tritt wieder zu Minous Tisch. Dass da die ganze Zeit drei Frauen und nur zwei Männer beisammen sitzen, gibt ihm noch einmal den Mut zu einem letzten Ehrenrettungsversuch. Aber Minou will nicht mit ihm kommen. Sie reicht ihm schließlich die Hand: "Good-bye, then ..." Blickt ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwindet.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht machen sie sich alle fünf auf zu einem Restaurant, wo noch Betrieb herrscht, wo man noch spät speisen kann, Draußen im gepflasterten Innenhof nehmen sie an einer großen Tafel Platz. Weinreben ranken sich eine Pergola entlang, bilden ein dichtes Pflanzendach über ihren Köpfen. Von einer Brüstung sieht man hinunter auf das wildbewegte, glitzernde Meer. Am Himmel leuchten jetzt die Sterne.

Nach viel Beratung hin und her, untereinander und mit dem Patrone, kommt dann das Essen. Eine riesige Gemeinschaftsplatte, die so groß ist, dass sie den Tisch fast ganz bedeckt. Darauf sind aufgehäuft gegrillte Lamm- und Schweinekoteletts, Hackfleischkugeln in Weinblätter gewickelt, weiße Bohnen, Pasteten, mit Reis gefüllte Tomaten und Paprika, Auberginengemüse, Schafs- und Ziegenkäse ... daneben Körbchen mit allerlei Sorten Brot.
Jeder nimmt sich mit einer Gabel direkt von der Platte, was er haben will. Alles schmeckt köstlich. Und Retsina trinken sie.
Es sind nicht die Speisen, die die Mahlzeit für Minou so besonders machen. Die sind nur Zugabe. Es ist aber alles zusammen: die Nähe der Männer und das Meeresrauschen in der Nacht, es ist die Erinnerung an den, wie sie glaubt, tapfer durchstandenen Meltemia. Vielleicht auch die überaus reine Luft jetzt nach dem Sturm, die jede einzelne Körperzelle neu belebt. Es ist der Sternenhimmel des Südens. Alles zusammen löst in Minou Euphorie aus. Etwas wie wunschlose Zufriedenheit. Glück.
Auch die Anwesenheit der beiden Frauen empfindet Minou als Bereicherung. Sie sind beide irgendwie besonders ...
Die schlanke, große Engländerin namens Edith nimmt ihre dunkle Brille nicht ab. Minou denkt, dass sie sich damit interessant machen, den aparten, auffälligen Kleiderstil den sie hat, betonen wolle.

Erst viele Tage später wird sie von Mary erfahren: Ediths einst krankes, rechtes Auge ist durch eines aus Glas ersetzt. Dass für sie, die Kokette und auch Schöne wie für fast alle Frauen die Liebe und Bewunderung der Männer das Wichtigste im Leben gewesen sei, sagt Mary, und Edith bilde sich nun ein, ihres Handicaps wegen nicht mehr begehrt zu werden. Die Arme bringe es nicht fertig, in Gesellschaft anderer auch nur für eine Sekunde die Brille abzunehmen, obwohl die aus Fensterglas sei, weil ihr gesundes Auge perfekt funktioniere. Dass Jerry erst sehr angetan gewesen sei von Ediths Ausstrahlung und sie heftig umworben habe, dann aber in Kühle erstarrte, erzählt Mary. Das müsse geschehen sein, als er ihre Behinderung bemerkt habe, als sie sich nähergekommen seien. Von ihm verschmäht zu werden, habe Edith in ihrem Stolz tief getroffen. Anscheinend sei der Macho vor ihrem Leid zurückgeschreckt.
Kein einziges Mal wird Edith die schwarze Brille vor Minou abnehmen Minou wird sich kein Bild machen können, ob das eingesetzte Glasding gut aussieht oder vielleicht entsetzlich.

Die beiden Engländerinnen haben sich am Flughafen Ellinikon kennengelernt. Die robuste Mary war zuvor in Athen vor ihrem eifersüchtigen hellenischen Ehepascha und dessen Unberechenbarkeiten geflüchtet. Edith hatte die Landsmännin in der Eingangshalle des Airports gesehen: zuerst ihre überdimensionale, uralte, abgeschabte Reisetasche, dahinter in der Ecke kauernd, die auffallend locker und buntbedresste Frau, die so pleite war, dass ihre finanziellen Mittel nicht reichten, sich ein Heimflugticket zu kaufen. Mary saß auf dem Boden, unschlüssig, aber keineswegs ganz geknickt, überlegte sich Rettungs- und Heimkehrmöglichkeiten, ohne zu irgend einem Resultat zu kommen Und sie hatte Angst, weil sie wusste, dass ihr komischer Gatte bald hinter ihr her sein würde.

Da Mary etwas abgerissen, aber eigentlich frisch und lustig anzuschauen war, sahen viele Vorübergehende neugierig zu ihr hin. Hätte sie nicht trotz ihrer Probleme einen Optimismus ausgestrahlt, nicht diese feuerrote Mähne gehabt und diese kleinen, verschmitzten Lachfalten-Augen, wäre Edith bestimmt nie auf die Idee verfallen, die Fremde anzuquatschen und zum Bleiben zu überreden. Bei einem Kaffee, beziehungsweise Whisky beschlossen sie, sich gemeinsam ein paar Mittelmeerländer anzusehen. Da war die Tochter reicher und großzügiger Eltern auf eine mittellose Abenteurerin gestoßen. Sie sollten in der Folgezeit gut miteinander auskommen.

Von Ediths künstlichem Auge und der Vorgeschichte der Begegnung der beiden Frauen hat Minou an diesem Abend keine Ahnung. Auch wenn sie wüsste, dass Edith alles für Mary zahlt, eines würde sie ausschließen: dass die beiden ein lesbisches Paar sind. Sind sie offensichtlich nicht.

Während der Mahlzeit unterhalten sich die Sonnenbrillenfrau und die beiden Wahlägypter lebhaft, wobei es um Sightseeing in Greece und solche Sachen geht. Man gibt sich gegenseitig Ratschläge, welche Museen in Athen die wichtigsten seien, welche Inseln unbedingt noch besucht werden müssten ....
Tom beginnt, Merkmale antiken Baustils und die verschiedenen Arten von Tempelanlagen zu erklären und auf einem Notizzettel für Edith anschaulich aufzuzeichnen. Auch Jerry scheint sich gut auszukennen mit Griechentum, mit antiker Geschichte. Von dieser Seite kennt Minou die beiden noch nicht.
Danach sprechen sie über Gott und die Welt. Über Gospel, Bebop, New Orleans-Jazz und über die berühmten neuen, römischen Filme von de Sica, Antonioni, Fellini: 'Fahrraddiebe', 'La Strada', 'Le noche di Cabiria', "il crido, der Schrei', die ihrer großen Realität und Lebendigkeit wegen in der ganzen Welt Furore machen, die ein jeder junge Mensch gesehen zu haben scheint, nur Minou noch nicht.

Sowohl Edith als auch die beiden Männer scheinen von Kultur zumindest eine gewisse Ahnung zu haben. Und wie klar sie reden können! Gut, sie haben den Vorteil der Muttersprache. Immer vorausgesetzt, dass Tom und Jerry wirklich Amerikaner sind. Bei Tom hat Minou Bildung und Weltgewandtheit vorausgesetzt, doch dass Jerry, sonst stets König der Schweigsamkeit, auf einmal höchst witzig und unterhaltsam ist, hebt ihn in ihren Augen noch ein Stück weiter empor.
Ob Mary vor Intelligenz strotzt oder eher ein dumpfes Blödchen ist, erfährt Minou an diesem Abend nicht. Wenn sie den Mund aufmacht, dann nur, um sich irgendeinen Teil von Toms Anatomie vorzunehmen und daran zu nippeln und zu knabbern. Sie hat auch mehr von dem harzigen Wein getrunken, als die anderen.

Komisch, dass der so belutschte und besaugte Tom noch immer ruhig diskutiert, während ihm die Irin inzwischen höllisch einheizt! vor allem Tomas und Edith scheinen sich an Worten, an ihrem Wissen, zu berauschen. Auch beachten die Plaudernden die Schönheit der Natur und der Nacht überhaupt nicht, denkt Minou, obwohl doch soviel Erotik und Süße in der Luft liegt.
Wie kann man nur über langweilige Weltpolitik (denn das tun sie jetzt ) sprechen angesichts von Sternen und wildbewegter See. Tom wendet sich öfter einmal an die zuhörende Minou. So, als interessiere ihn ihre Meinung. Sie kann zu keinem einzigen Thema wirklich Handfestes sagen. Statt zu gestehen, dass sie null Ahnung hat, redet sie ein bisschen etwas daher, blah, blah. Ist aber beflissen, zu lernen. Tom erklärt ihr manches auf eine Weise, wie man vielleicht mit einem Kind redet.
Minou spürt wieder, dass sie wenig Allgemeinbildung und wohl keinen großen Verstand hat.

In Sizilien war es genauso. Wenn sie abends mit Nikos und seinen Freunden irgendwo beim Essen saßen, war sie immer erstaunt gewesen über die blitzschnelle Auffassungsgabe, das um Zehn-Ecken-Denken, den raschen Witz, den sizilianische Frauen wie Feuerwerke entfachten. Auch solche ohne großartige Hochschulbildung trafen häufig mit scharfen Bemerkungen ins Schwarze. Sie hatten nicht nur eine superrasche Auffassungsgabe, sondern dazu eine bitterböse und sehr anziehende Durchtriebenheit. Da hätte Minou nie mithalten können, auch wenn sie Italienisch perfekt beherrscht hätte. Ihr fehlte bei Unterhaltungen jeder originelle Gedanke, dachte sie. Deshalb war sie gehemmt. Sie kam sich damals in Sizilien als das unbedarfteste Wesen bei jeder Gesellschaft vor. Manche merkten es vielleicht nicht so sehr, sie war Ausländerin, da sah man über manches großzügig hinweg ...es haperte eben an der Sprache. Sie war hübsch, aber auch wieder so schön nicht und auch nicht so sprühend, um den Herrscherinnen dieser Kreise die Aufmerksamkeit zu stehlen und sich deshalb unbewusst verhasst zu machen ... wie es schon dem einen oder anderen hochmütigen, ausländischen Aupair geschehen war ... Minou war bescheiden. Nikos hatte ihr jeden Ehrgeiz abgesprochen. Sie sei anders, als die übrigen jungen Frauen, hatte er gesagt. Die wussten alle, wo sie hin wollten im Leben. Nikos hatte sie manchmal kopfschüttelnd, aber auch gerührt seine ‚pazzerella‘ genannt. Er sah ihr fast alles nach. Es war ihr Glück: er liebte sie. Er liebte sie nicht wahnsinnig, so fand sie später heraus, vielleicht sah er sie gering an, nicht wie eine Gleichwertige, er liebte sie, wie man sein Hündchen liebt, dachte sie, voller zärtlicher Gedanken und Empfindungen, ein bisschen jedoch ohne Respekt ...
Na ja, das legt sie sich jetzt zurecht, das kommt ihr irgendwie in den Kopf, während die nächtlichen Begleiter am Tisch reden und reden und sie schon wieder nicht mithalten kann.


Edith ist in dieser Nacht geistig in Hochform. Sie weiß viel, versteht es, ihr Wissen gut und mit großem Ernst an den Mann zu bringen.
Die Frau aus Manchester weiß, was die griechischen Philosophen lehrten. Über altererbte Weisheiten der Menschheit hat Minou sich noch nie Gedanken gemacht, hat gerade einmal ein paar Namen gehört: Sokrates, Aristoteles, Platon. Sonst nichts. Ihr Hirn ist 'blanc‘.
Und die reden jetzt über alle möglichen Historischen Museen und Bibliotheken.

Für sie sei Natur wichtiger als Bauwerke zu besichtigen, versucht sie den Tischgefährten klarzumachen: das besondere Licht der Ägäis, das Sonnengeflirr über dem Weiß der kubischen Häuser. Das Meeresgrün. Die kargen Hochflächen ... Die Stille. Aroma. Geruch. Dass die Metropole Athen ihr stets Qualen verursache, sagt sie. Trotzdem kenne sie sie sehr gut. Alle Museen und Sehenswürdigkeiten habe sie - weil sich das so gehöre - besucht, sei aber auch oft richtungslos in den Straßen herumgestrolcht.

Delphi müssten sie aber gemeinsam sehen, schlägt Jerry vor. Unbedingt den uralten Orakelort Delphi. Und Cap Sounion bei Sonnenuntergang. Den Zeustempel. Man könne es ja nachholen und eines Tages miteinander hinfahren.

Mary hat sich vollkommen aus dem unergiebigen Gespräch ausgeklinkt. Sie kichert ab und zu vor Weinseligkeit, saugt ständig an Tomas sehnigem Hals, knabbert an seinem Ohrläppchen. Krault unter dem Hemd seine Brust, langt hinunter Richtung Gürtellinie mit wendigen Fingern nach mehr. Da stößt Tom sie von sich. Nicht brutal. Mit einem kleinen, wirkungsvollen Schubs. "Heh, stop it, girl. keep quiet!"
Mary hört auf. Versteinert. Beleidigt?

Jerry sagt später zu Minou, dass die vier für Sonntag einen Trip ins 'Tal der Schmetterlinge' geplant hätten. Jetzt wo sie wieder bei ihnen sei, müsse auch sie mitkommen. Sie würden sich Reittiere mieten, früh vor Sonnenaufgang losziehen, gegen Mittag irgendwo draußen in der Pampa ein Picknick halten. Die nötigen Lebensmittel würden er und Tom besorgen. Das Tal sei tatsächlich berühmt, wie der Name schon sage, für seine unzähligen Falter. Die Luft vibriere geradezu von ihrem Flügelschlag. Er lacht.
Minou, sehr schläfrig inzwischen, aber glücklich, stimmt sofort zu. Wie sie hineinpassen wird ins Liebeskarussell der Männer und der beiden Engländerinnen, ob sie das fünfte Rad am Wagen sein wird oder eine wichtige Person für die anderen, ist ihr heute Nacht gleich. Sie ahnt schon Verwicklungen, die sie nicht haben will. Aber es wird ohnehin alles seinen vorhergesehenen Gang gehen. Dass da mehr ist - oder war - zwischen Tom und Mary, zwischen Jerry und Edith, ist unschwer zu spüren. Doch denkt Minou nicht viel. Sie ist in glücklicher Stimmung. Mary nicht. Mary ist betrunken. Mary schluchzt seit einer Weile.

Minous Glieder werden schwerer und schwerer vor Müdigkeit. Sie verabschiedet sich schnell, geht der Harmonielosigkeit zwischen den Paaren aus dem Weg. Will jetzt nur noch zu der Pension am Kastrohügel, wo sie schon vor Stunden ihre Reisetasche deponiert und den Zimmerschlüssel in Empfang genommen hat.

*




Was vorherging:

Sommer 1960. Das deutsche Mädchen Minou hat einige Jahre in Sizilien verbracht. Nach einer 'verhängnisvollen' Affäre mit dem undurchsichtigen Ernando Sascala und ihrer verhinderten Hochzeit mit Nikos Sakatis, einem griechischen Geschäftsmann, kommt sie nach Athen. Von Anfang an zieht es sie stark in die ägäische Inselwelt hinein. Auf Ägina lernt sie die beiden jungen Abenteurer Tom und Jerry und die Griechin Elena kennen. Sie verleben schöne, gemeinsame Tage.
Als Elena abgereist ist, begleiten die beiden Männer Minou nach Hydra. Dort läuft sie ihnen quasi davon ... vielleicht aber auch nur deswegen, weil die Don Juans sich in immer neue Frauengeschichten einlassen. Auf Paros angekommen, muss Minou aber feststellen, dass Tom und Jerry dort bereits auf sie warten. Wieder sind sie in weiblicher Gesellschaft ... diesmal mit zwei jungen Engländerinnen im Schlepptau. Enthusiastisch begrüßen die beiden Männer das deutsche Mädchen. Man sitzt lange beim Abendessen zusammen und beschließt für die kommende Woche einen gemeinsamen Maultier-Trip ins Inselinnere und ein Picknick.



11
EIN PICKNICK WIE KEIN ANDERES

Paros. Die beiden 'Löwen' kriegt Minou in den nächsten Tagen nicht zu sehen, dafür aber Mary und Edith. Sie gehen gemeinsam in Restaurants oder zum Strand. Tom und Jerry bleiben verschollen. Edith hat gehört, dass sie mit amerikanischen Freunden auf einem Bootstrip unterwegs seien.
Die Mädchen rätseln nun, ob sie rechtzeitig zu ihrem Ausflug zurück sein werden.
"Ich kenne die beiden schon lange", sagt Minou stolz, "ich lege die Hand für sie ins Feuer. Sie halten ihr Versprechen. Bestimmt!"

Minou sitzt mit den Engländerinnen und drei schwedischen Jungen beim Abendessen auf der Terrasse einer Taverna. Gelöst, auch etwas gelangweilt kauderwelscht man herum bis tief in die Nacht und Minou trinkt gerade einmal soviel Wein, dass sie noch einen klaren Kopf behält. Man bleibt sich fremd. Auch Mary und Edith scheinen auf ein neues Abenteuer mit flüchtigen Bekannten keine Lust zu haben. Die drei nordischen Freunde sind am Ende mäßig enttäuscht, hatten sie doch die Mädchen schon hoffnungsvoll untereinander aufgeteilt. Doch sie tragen ihre Frustration mit Würde und so bleibt die ziemlich lässige Ferienstimmung bis zum Ende erhalten.

Danach schläft Minou in ihrer Pension bei weit geöffneten Fenstern bis in den Mittag hinein. Als sie aufsteht, am Spiegel vorbeigeht, findet sie sich hübsch. Wie meistens trägt sie, wenn sie allein ist, bei der Hitze nur den Bikini. Zum erstenmal seit langem gefällt sie sich wieder. Nicht, als ob sie jetzt vor Spannkraft geradezu explodiere ... aber es geht ihr ziemlich gut. Ja, ziemlich gut.

Minou wirft sich das Kleid über und kauft im Lädchen in der Nähe Brot, Feta, Salami, Jaurti (Joghurt) und bereitet sich auf der Terrasse ein spätes Frühstück. Zwischen grellweiß getünchten, hüfthohen Mauern ist sie hier ganz für sich. In Steinkübeln blüht der Oleander. Minou blickt von ihrer Brüstung wie von einem mittelalterlichen Altan hinunter auf Paros–Stadt und das Meer. Die Pension steht an höchster Stelle auf einem Hügel und die Dächer der Nachbarhäuser liegen ihr zu Füßen. Da könnte sie auf der Terrasse nackt in der Sonne baden ... keiner könnte sie sehen. Trotzdem ... den Bikini behält sie auch jetzt an.

Die Meerluft! Das gleißende Licht des Mittags! Durch die erfrischende Brise ist die Hitze kaum spürbar. Wie sie diese Inseln liebt! Sie denkt ... im Inneren bin ich hier in der Ägäis schon immer zuhause. Das liegt nicht an den Menschen. Die freundliche Wirtin, die anderen Pensionsgäste ( Griechen ) begegnen ihr selten. Sie wüsste auch wenig mit ihnen zu reden.
Minous Gedanken sind ständig bei dem kommenden Ausflug. Morgen wird der große Tag sein. Der Ritt zum Kloster 'Christos sto dasos' und ins mysteriöse Tal der Schmetterlinge. Sie glaubt fest, dass die alten Freunde zuverlässig sind. Den leisen Zweifeln, die sie quälen, will sie einfach nicht nachgeben. Und überhaupt ... sie will die beiden, vor allem Jerry, jetzt nicht mehr verlieren. Die Sprunghaften. Doch sie haben ihre Abmachungen bisher stets eingehalten. Der Trip wird interessant werden! Auch sonderbar. Zwei Männer und drei Mädchen! Edith ist unterhaltsam und witzig. Aber Mary ... faszinierender. Zumindest für Minou. Sie mag ihre leidenschaftliche, geradlinige Art, die Ehrlichkeit, der jeder Hintergedanke fehlt.

Dem Zusammensein mit Jerry aber bebt sie jetzt fast entgegen. Er hat diese geheimnisvolle Ausstrahlung. Und ist doch so ‚nahbar.‘ Sie fühlt sich wohl in seiner Nähe.
Aber auch er scheint auf mehreren Hochzeiten zu tanzen. Ebenso Tomas. Wie tief die Beziehung der Männer zu Edith und Mary geht, weiß Minou nicht. Wenig tief, denkt sie.

*

Vor der Kulisse der herrlichen, wohlgeordneten Natur beschließt Minou, endlich auch wieder einmal Ordnung an ihrer Person und in ihren Habseligkeiten zu schaffen.
In der Reisetasche herrscht das Chaos. Sie schüttet sie über den Boden der Terrasse aus. Findet endlich ihr heißvermisstes Garnröllchen, das sich im Futtertuch verkrochen hatte. Das Garnröllchen ist überaus wichtig. Es sind nämlich drei verschiedenen Sorten Faden darauf, die sie ständig braucht: schwarz, weiß, rot. Auch birgt das Röllchen, wenn man es aufschraubt, im Inneren eine Hülse mit Näh- und Sicherheitsnadeln und je einen Ersatzknopf für fast alle ihre Kleidungsstücke.
Minou untersucht ihre Klamotten auf Beschädigungen. Bessert aus. Flickt Zerrissenes. Danach geht es ans Großreinemachen. Wasser ist auch auf dieser Insel rar. Doch aus dem Hahn ihres Zimmers kommt ein mittelkräftiger Strahl. Auch hier dient ein über dem Waschbecken an der Wand befestigter, sehr großer Metallbehälter als Reservoir, das immer wieder von der Wirtin und ihren Leuten in der Cisterne aufgefüllt wird.

Jedes einzelne Kleidungsstück seift Minou ein, rubbelt es lang mit den Händen durch, spült es sorgfältig. Dann hängt sie die Sachen an einen vorhandenen Strick auf die Terrasse in den Schatten der Mauer, damit die Sonne die Farben nicht wegsaugt. Nach einer Stunde wird alles trocken sein. Sie shamponiert ihr Haar. Wäscht sich ... eine Dusche gibt es nicht ... von Kopf bis Fuß gründlich am Becken. Reibt sich mit ihrem duftenden Öl ein. Bleibt in der Sonne. Nur für eine Viertelstunde. Dass ihre Haut die goldene Färbung nicht verliert. Zwei, drei Tage ohne Sonnenbad würden sie sofort wieder blass und krank aussehen lassen ...
Minou blickt von der Terrasse tief hinunter. Wieder ihre anbetende Verwunderung: Im gleißenden Licht der Ägäis herrscht dieser zeitlose Sommer. An den Hängen flimmert die Hitze, die Gassen sind staubtrocken, die grellweißen Kykladenhäuser mit den blauen Fensterläden leuchten. Das Meer, das hellgrau an die weißen Kaimauern schlägt, strahlt weiter draußen in atemberaubenden, satten Farben von Türkis bis Ultramarin. Mit absinthgrünen, fast milchigen Stellen, dort, wo es flach ist, wo der Grund durchschimmert.


*

Später schreibt Minou draußen auf der Mauer ihrer Terrasse sitzend, Block auf den Knien, einen Brief an ihren Vater. Sie möchte ihm sagen, wie schön es auf dieser Insel ist. Wie würzig die kargen Hochebenen duften. Wie gern sie im Gras liegt. Der Himmel über ihr scheint dann weit wie das Universum. Unendlich blau. Immer weht der Wind. Der warme Wind. Die Luft flimmert und gleißt vor lauter Sonnenlicht. Sie möchte dem Papa schreiben, dass sie nichts tut und manchmal glücklich ist. Heute zum Beispiel.
Wie schon oft, kommt sie auch jetzt nicht weit. Fängt viermal hintereinander auf einem neuen, leeren Bogen an ...
Ihr Vater darf das, was in Wirklichkeit los ist, nicht wissen. Obwohl ... manchmal denkt sie, dass er vielleicht sogar alles verstehen könnte. Aber er hat diesen Ernst. Die Prinzipien. Auf ‚korrekte‘ Bewältigung des Lebens ist er fixiert. Er will hören, dass sie, wenn sie schon den ‚reichen Mann‘ nicht geheiratet hat, zumindest einer 'anständigen Arbeit' nachgeht, ordnungsgemäß kranken- und rentenversichert ist. Sie kennt seine Grundsätze. Heute, an diesem Tag, lügt sie sich in Lohn und Brot. Traum-Arbeitgeber aus Palermo erfindet sie: ein Ehepaar mit drei kleinen Kindern. Bei denen sei sie Aupair und jetzt mit der Familie auf Reisen. Sie muss ihm ja plausibel machen, wie sie von Sizilien und aus Nikos treuen Armen mitten in die Kykladenwelt geraten ist.
Dann kann sie die schriftlichen Unwahrheiten, die sie dem Vater auftischt, doch nicht durchhalten. Zerreißt das Geschriebene.
Zuletzt schlüpft sie in ihre frisch gewaschene, ozeanblaue Seidenbluse. Und in die weiße Capri-Hose. Vorher hat sie die Teile mit dem von der Wirtin ausgeborgten Plätteisen sorgfältig gebügelt. Die hochhackigen, taubenblauen Pumps zieht sie an. Dazu die Ohrclips aus echten, getrockneten Seesternen (!)
Dann geht sie wieder einmal die Stadt Parikia inspizieren. Schlendert gemächlich durch die Gassen. Touristen werden erst bei Einbruch der Dunkelheit von ihren diversen Unternehmungen zurück sein. Dann aber wird auf der Promenade längs des Meeres sattes Treiben herrschen. Denn dort sind die angesagten Lokale. Doch jetzt ist noch früher, geruhsamer Nachmittag.

Fünf, sechs barfüßige Griechenkinder, mit schwarzen Locken laufen Minou nach. Heften sich an ihre Seite. Zupfen sie. Reden vielstimmig auf sie ein. Wollen sie da- und dorthin mitziehen. Zu ihren Eltern? Sind die Eltern Andenkenhändler? Minou versteht nichts. Lacht verunsichert. Sie findet irgendwann ein Lädchen. Kauft eine riesengroße Tüte Bonbons in verschiedenen Farben, sowie Kekse, teilt sie gewissenhaft unter den Kindern auf, damit auch die Kleinsten etwas abbekommen.
"Jetzt muss ich aber gehen", macht sie ihnen irgendwann verständlich. Die Zutraulichkeit der Kleinen wird ihr zu heftig. Mit Kindern kam sie noch nie gut zurecht. Irgendwann trottet die quirlige Meute davon.

Minou kauft eine Ansichtskarte. Eine schwarz-weiße. Bunte gibt es hier nicht. Die extra große Karte zeigt einen offenen Glockenturm, eine Kapelle auf dem Hügel, viel Meer und Himmel. Im Vordergrund eine Ziegenherde und zwei amphorentragende leichtbekleidete Hirtinnen. Diese Karte schickt sie ihrem Vater: Hier ist es sehr schön und es geht mir SEHR GUT ...
'Auch der Mama ( wann hat sie Lisa zum letzten Mal 'Mama' genannt?) dem Werner, Tanja und Klaus sende ich die herzlichsten Grüße', fügt sie hinzu.
So schreibt eine Tochter, die sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht hat. Mit solchen Floskeln. Denkt sie sich wirklich nichts dabei?


*

Langsam wird es Abend auf Paros. Da setzt sie sich draußen auf der Uferpromenade an den Tisch vor einem Kafenion. Sie ordert einen türkischen Kaffee. Männer sehen zu ihr hin. Penetrant. Schmeichelt ihr das? Nein ... Sie weicht den Blicken aus ... Es ist nämlich gefährlich. Man wird leicht als Beute gesehen, hier. Ein kleines Lächeln, das ihr in diesen Jahren leicht aus den Mundwinkeln rutscht, und augenblicklich bekäme der Mantel aus Unberührbarkeit, den sie sich selbst umgelegt hat, Risse.
Heute ist sie gut gelaunt und in ihr ist Unruhe und Erwartung. Sie erträgt es sogar, sich anstarren zu lassen. Elegant streckt sie ihre langen Beine mit den taubenblauen Pumps aus. Gibt sich so locker wie möglich. Ist aber in Wirklichkeit auch jetzt aufs Höchste angespannt und verklemmt. Kann fast nie locker sein, außer, wenn sie allein, unbeobachtet, oder mit SEHR vertrauten Menschen zusammen ist. Nur bei Nikos hatte sie lässig sein können, weil er sie durch und durch kannte. Bei Ernando nie.

Sie bestellt noch einen türkischen Kaffee. Und hintereinander zwei Stücke süßes, klebriges Honiggebäck. Das Backwerk löst plötzlich in einem Backenzahn einen so schrillen Schmerz aus, dass er ihren ganzen souveränen Auftritt fast zunichte macht. Die Pein klingt zum Glück nach kurzer Zeit ab.

Zwei junge Kerle scheinen wenig von Minous Unberührbarkeit zu halten. Kaum hatte sie Platz genommen, waren sie auch schon an ihren Tisch gekommen. Nachdem sie vorher höflich gefragt hatten, ob die beiden Stühle neben ihr frei seien. Was hätte sie antworten sollen? Sie hatte genickt, vielleicht (leider!) ein bisschen zu freundlich. Die Typen hätten sich woanders hinsetzen können. Es gab genug Plätze.

Jetzt lassen sie ihr keine Ruhe. Einheimische sind es. Radebrechen mit ihr in Englisch. Sie antwortet brav und kurz auf neugierige Fragen. Aber man kann ja kaum stumm wie ein Fisch dasitzen und Menschen damit vor den Kopf stoßen! Sie schmeißen sich an sie heran, erst zögerlich, dann unverblümt ... sie nerven.

Minou achtet ständig auf das Treiben an der Uferpromenade. Fasst den Strom der Entlangschlendernden genau ins Auge. Damit sie Jerry, Tom oder die beiden Engländerinnen nicht übersieht, wenn sie auftauchen.

Die zwei Burschen scheinen Minou für eine leichtsinnige Person zu halten. Sie rücken ihre Stühle näher an sie heran. Der eine grinst ständig und tut jetzt beim Reden, als ob er eine Fluse oder ein Haar von ihrer Bluse löse ... sie mag das nicht, wehrt seine Hand ab ... zu sanft vielleicht ... zu freundlich. Sie will nicht arrogant sein oder wegrennen, als ob sie Ungeziefer wären. Obwohl ... nervös und verärgert macht sie sich am Ende doch los, begleicht ihre Rechnung schnell beim Kellner im Inneren des Lokals. Geht. Es ist gegen acht Uhr abends. Aber sie hat keine Lust, vielleicht auch keinen Mut mehr, allein herumzusitzen und sich belästigen zu lassen ...

Enttäuscht ist sie, dass Tom und Jerry, auch die britischen Freundinnen noch immer ausgeblieben sind.

Auf der Straße laufen ihre Belagerer hinter ihr her. Sie nehmen sie in ihre Mitte. Einer fasst sie beim Ellbogen. Sie tun, als ob sie zu ihr gehörten. Labern auf sie ein. Sie sagt, dass sie ihre Begleitung nicht wünsche und jetzt gleich dort - sie zeigt zur nächsten Straßenecke - ihren 'husband' treffen werde. Eine hilflose Ausflucht!
"Leave me alone", schreit sie zuletzt.
Da ziehen die beiden endlich Leine. Wohl nur deshalb, weil die Gassen keineswegs menschenleer sind und Leute schon zu ihnen hinschauen. Sie hängen sích jedoch wie Wölfe an Minous Fährte. Verfolgen sie weiter auf ihrem Weg. Bis sie im Hoftor ihrer Pension verschwindet.

Eigentlich war Minou nur wegen der Freunde zur Uferpromenade gekommen. Weil doch morgen in aller Frühe der Aufbruch zum Picknick stattfinden soll. Wo sonst, als im Touristenstrom hier am Hafen hätte man Tom und Jerry finden können. Wenn sie dagewesen wären. Waren sie aber nicht. Anscheinend. Genau so wenig wie Mary und Edith.

Vielleicht sind sie alle abgereist. Dieser Gedanke lässt sie augenblicklich starr werden. Sie hatte sich auf den Ausritt von Stunde zu Stunde mehr gefreut. Und auf die ihr angenehmen Menschen. Sie ist enttäuscht.

*


Am nächsten Tag läutet in aller Herrgottsfrühe die Glocke am äußeren Mauertor ihrer Pension. Sie bimmelt lang und laut. Weckt Minou aus dem Schlaf. Als sie fröstelnd durch den Innenhof zum blauen Holzportal läuft, es mit dem überdimensionalen, eisernen Schlüssel, der im Gang hängt, aufsperrt, stehen Tom und Jerry mit drei Reiteseln da. Tun, als sei ihre plötzliche Anwesenheit die selbstverständlichste Sache von der Welt ...
Sie hat nicht einmal mehr mit halbem Herzen an den Ausflug geglaubt. Und dass sie wirklich vor Sonnenaufgang aufbrechen würden, hatte sie von Anfang an für einen Scherz gehalten.
Jetzt ist sie froh, die Umrisse der zwei Männer im Morgengrauen zu sehen, ihre vertrauten Stimmen zu hören.

Wo Edith und Mary seien, fragt Minou.
"Wir werden gleich bei ihrem Hotel vorbeireiten und sie holen", sagt Tom, "die beiden wollten sich um das Anmieten ihrer Tiere selbst kümmern."

Es dauert eine Weile, bis Minou reisefertig ist. Die Gefährten warten geduldig vor dem Haus.
Dann reiten sie nebeneinander her in den erwachenden Morgen hinein. Minou wundert sich, dass kein Eselstreiber bei ihnen ist, wie das bei Trips auf anderen Inseln so üblich war. Da sagt Tom, der Mann habe ein krankes Bein, sei nicht recht auf dem Damm, sie hätten ihm Geld dagelassen als Pfand für seine Tiere. Er sei zufrieden gewesen..
"Wir brauchen ihn nicht, wir kommen mit diesen störrischen Geschöpfen sehr wohl allein zurecht... Besonders dir, Jerry, sind die kleinen Eselinnen von Jugend auf vertraut ... stimmt‘s?"

Heute Morgen reden sie ziemlich sonderbar! Die beiden Männer wollen von Minou wissen, ob sie gut geschlafen, was sie gestern den ganzen Tag über so getrieben habe. Was die junge Lady sich heute zum Picknick wünsche ... und und ... Sie machen fortwährend Small-talk. Tom meint, dass es ein strahlend schöner Sonnentag würde. Sie reden mit ihr über alles Mögliche, was ihnen beim Vorbeireiten an den Gebäuden, später an der Landschaft ins Auge sticht. Die beiden halten Minou pausenlos mit dahinfließenden Fragen und Antworten beschäftigt. Nur Edith und Mary erwähnen sie mit keiner Silbe ...
Bald passieren sie die äußeren Häuser von Paros-Stadt. Da kann Minou nicht mehr länger an sich halten. Sie will wissen, wann man die beiden denn endlich treffen wird. So ganz nebenbei sagt da Tom, die zwei wären fort. Sie hätten am Vorabend die Fähre nach Athen genommen:
"Edith wurde nach England zurückgerufen. Es gab da ein Telegramm. Ihr Vater ist wohl plötzlich krank geworden. Wir sollen dich von den beiden grüßen!"
"Tom, du hast gesagt, dass sie im Hotel ... "
"Verzeih bitte den kleinen Schwindel. Wir kennen dich inzwischen gut", meint der, "und haben schon unser so toll geplantes Picknick ins Wasser fallen und dich davonlaufen sehen. Das hätte den schönen Tag ruiniert. Deshalb hatten wir uns geeinigt, dir die Neuigkeit erst langsam auf dem Weg beizubringen. Wir wollten nicht gleich bei der Pension mit der Tür ins Haus fallen, denn dann wärst du wahrscheinlich jetzt wieder in deinem Bett ... statt hier bei uns. Sei nicht böse!"

Dass Mary und Edith nicht dabei sind, gibt Minous Unternehmungslust einen großen Dämpfer. Mehr noch ... die Nachricht wirft sie total aus dem Konzept. Sie hat fest mit den beiden gerechnet. Für eine Sekunde blinkt hinten in ihrem Hirn ein Warnlämpchen auf und der Gedanke brennt, die ganze Sache lieber sein zu lassen und zurück zur Pension zu reiten. Aber nein, sie hat sich diesen Tag so sehr herbei gewünscht. So sehr, dass sie die Tatsachen, vor die sie jetzt gestellt wird, notgedrungen akzeptiert. Mit den Engländerinnen zusammen, das weiß sie, wäre für sie der Trip viel lässiger, lockerer gewesen. Sie hätte sich wohler gefühlt. Sie mag nämlich am liebsten schön im Hintergrund bleiben. Wenn ihr jemand zuviel Aufmerksamkeit schenkt, oder etwas von ihr erwartet, und sei es nur die Kleinigkeit ihrer Gesellschaft, dann wird ihr immer unwohl.
Wären Edith und Mary dabei, hätte sie sich zwischen den beiden verstecken können. Das heißt, das Interesse der Männer hätte sich so auf DREI Frauen verteilt. Sie weiß, dass sie nicht gerade das fünfte Rad am Wagen gewesen wäre. Das ist sie eigentlich nie. Doch die Hauptperson will sie auch nicht sein. Aber Tom und Jerry zwingen sie jetzt in genau diese Rolle hinein. Alles, was die Männer sagen und tun, scheint sich nur um IHRE kleine Person zu drehen.
Das Fehlen der Engländerinnen wird dem Trip einen Teil seiner Fröhlichkeit nehmen, weiß sie. Die beiden Frauen sind so unterhaltsam und lebhaft. Mit ihnen gab es stets viel zu diskutieren, zu lachen. Dass Tom nicht gerade leidenschaftlich in Mary verliebt war, hatte Minou beim Abendessen damals gesehen. Aber wann und bei wem war er das schon? Es hatte nichts zu sagen. Mary war trotzdem lustig, sexy, süß ... Sie brachte Leichtigkeit in jede Gesellschaft. Und Edith. Auf deren Intelligenz hielten Tom und Jerry so große Stücke. Auf alle Fälle würde ohne die beiden der Trip für die Männer ziemlich würzlos sein, denkt Minou. Und das bleibt ihre größte Sorge: "Hoffentlich werden sie sich mit mir nicht z u Tode LANGWEILEN, ich bin ja nun einmal keine sprühende, geistreiche Person ... "

Die beiden Begleiter scheinen aber mit Minous wortkarger Anwesenheit vollauf zufrieden..
Minou kennt sie lang genug, um sie für Freunde zu halten. Zumindest für sehr gute Bekannte. Unschuldslämmer sind sie nicht. Das weiß sie. Doch faire, gebildete Männer. Es ist wahr: Tom gegenüber empfindet sie häufig ein unbestimmtes Missbehagen. Weil er herrisch ist, herablassend. Weil sie nie weiß, wie er wirklich zu ihr steht.
Bei Jerrys Anblick spürt sie große Wärme. Zugehörigkeit fast. Es geht ihr gut, wenn sie in seiner Nähe ist. Er muss magische Kräfte besitzen. Es ist schön, zu wissen, dass ein Mann wie er sie begehrt, zumindest begehrt hat. Ob das noch immer so ist, ist unklar. Zwischenzeitlich hat er sich ja heftig um andere Frauen gekümmert.

Minou zweifelt oft an ihrer eigenen Ausstrahlung. Und an ihren Liebesqualitäten erst recht. Natürlich war die Trauer um Ernando der Grund, dass sie sich Jerrys Annäherungen schon zweimal entzogen hat. Aber nicht nur das war schuld, es hatte sie auch die unbewusste Furcht gepackt, Jerry könne sie vielleicht für eine schlechte Sexgefährtin halten, unfähiger als andere Frauen, mit denen er sie nachher vergleichen würde! Bestimmt würde er sie als 'gewogen und zu leicht befunden‘ abtun. Eine zum Nehmen und Wegwerfen. Da lässt sie doch lieber alles schön in der Schwebe.

Um Minous Selbstbewusstsein ist es natürlich nicht immer so schlimm bestellt. Wie hätte sie sonst leben können? In guten Zeiten glaubt sie an sich und die Anziehungskraft ihrer Person. Gerade jetzt glaubt sie wieder daran. .
Denn den beiden Männern scheint ihre Gesellschaft zu gefallen. Den Tom hat sie noch nie derart locker erlebt, derart lebendig und gutgelaunt.

Sie lassen jetzt Parikia hinter sich. Heute morgen scheint das Meer heller als sonst, von dunstigem Weiß. Minou weiß nicht, ob die Sonne unter einem Nebelschleier verborgen oder noch nicht aufgegangen ist. So reiten die beiden Männer und das Mädchen in aller Frühe dahin. Dem anbrechenden Tag entgegen. Minou fröstelt ein wenig. Die Brise, die von See kommt, ist kühl.
Sie plaudern miteinander. In einfachen Sätzen. Sie lachen viel.

Seit Minou aus Deutschland fort ist, hat sie große Schwierigkeiten, sich auszudrücken. Eine üppige, nuancenreiche Sprache gelingt ihr natürlich nicht. Doch sie macht sich immer halbwegs verständlich. Sie kann auf englisch, französisch, auf italienisch nicht ihre Gedanken so ausdrücken, wie sie will. Aber doch das Nötigste sagen. Nur Nikos hat ihre Muttersprache gesprochen. Mit ihm konnte sie aus sich herausgehen. Später sprach sie auch "abbastanza bene l' italiano." Die Sprachen, die sie auf der jetzigen Reise abwechselnd gebraucht, beherrscht sie nur mangelhaft: Französisch, Englisch.
Am Ende gibt es eine Art Primitiv-Verständigung. Jede feine Nuance, jede Differenzierung geht verloren. Aber ... so kommt man auch über die Runden.
Locker und mühelos sind die Unterhaltungen mit Leuten in dieser Zeit für Minou nie. Obwohl die spärlichen Dialoge, wenn man sie jetzt hier liest, einigermaßen flüssig klingen. Beim darüber-Nachdenken, Jahrzehnte später wird die Schreiberin nämlich die Sätze glätten, die damals in Wirklichkeit ziemlich grässlich dahinholperten.
Minou strengt sich auf diesem Trip besonders an, ein halbwegs verständliches Englisch zu sprechen und lieber wenig, als unüberlegtes Zeug zu reden. Damit sie nicht als plapperndes Dummchen vor den beiden Männern dasteht.

Tomas sagt irgendwann, dass es besser sei, den Plan zu ändern und das 'Tal der Schmetterlinge' links liegen zu lassen. In diesem Jahr scheine es die berühmten Falter dort ohnehin nicht zu geben, aber Massen von lärmenden Touristen. Das ganze sei eine Enttäuschung. Von amerikanischen Freunden hätte er es erfahren, die gestern frustriert zurückgekommen seien.
"Und an Klosterbesichtigungen sind wir auch nicht wahnsinnig interessiert", meint er selbstherrlich. "Oder? Also, wir werden jetzt hier abbiegen und nach Lefkes reiten. Das ist eine uralte Stadt. Die schönste überhaupt auf der Insel. So steht es hier im Reiseführer. Lefkes ist hoch auf einer Bergkuppe gelegen. Mit herrlicher Aussicht!"
"Is this okay with you, Childy?" fragt Jerry.
"Klar!" Minou nickt.
"In Lefkes werden wir noch einige Lebensmittel für unser Picknick kaufen", erklärt Tom, "aber ich habe schon das meiste hier in den Seitentaschen."
"Dann werden wir uns irgendwo hoch oben auf dem Berg einen schönen Platz suchen. Einen, von dem aus du weit über die Ägäis blicken kannst. Das gefällt dir doch?" sagt Jerry.
"Und wenn wir es am Abend nicht mehr zurück nach Parikia schaffen oder keine Lust zum Heimreiten haben, dann werden wir uns in Lefkes Zimmer nehmen", sagt Tom lässig.
Während des Rittes ist Minou von den beiden Männern eingerahmt. Rechts und links. Auf schmaleren Pfaden reitet der eine vor, der andere hinter ihr.

Es ist jetzt hell. Weiß und diesig die Umgebung. Bei einem Dorf, zu dem sie bald gelangen und dessen Name Minou vergessen hat, steigen sie von den Tieren. Schlendern in die engen Gassen hinein. Kein Mensch ist zu sehen. Meer, Himmel sind in der Ferne kaum zu unterscheiden. Alles schimmert in wattig dunstigem Weiß. Die Sonne hält sich verborgen. Es gibt aber auf dem kleinen Platz einen Ziehbrunnen, dessen Holzhaube sie abnehmen und an dem sie trinken und die Tiere tränken.
Als Minou schon auf dem Esel sitzt und bevor sie weiterreiten, zieht Jerry etwas aus der Tasche. Einen Strohhut. "Den hab ich für dich mitgebracht". Er drückt ihn ihr lachend auf den Kopf.
"Du siehst schön aus", sagt er, "und du brauchst ihn nachher, wenn die Sonne brennt!"
Der Hut ist aus naturfarbenem Stroh in einem feinen, kunstvoll durchbrochenen Muster geflochten und hat ein breites, sienafarbenes Band. Minou gibt Jerry einen Kuss auf die Wange, einen nur gehauchten, blitzschnellen. Sie mag diesen Mann sehr ...
Nach einer Weile kommen sie zu den berühmten, ( verlassenen? ) Stollen, wo man schon vor zweitausend Jahren Marmor aus der Erde gegraben hat. Den parischen Marmor, der damals ( so steht es im Reiseführer ) in die ganze antike Welt transportiert wurde. Aus dem sogar die Venus von Milo und alle berühmten griechischen Statuen herausgehauen sind. Sonderbar, sie sind allein unterwegs und treffen keinen Menschen.
Sie laufen lange herum und sehen sich die zerfurchte, zerschnittene Steinöde, die sperrig herumstehenden, die Landschaft verschandelnden Geräte und Bagger an. Minou will aber nicht ins Innere der Höhlen hineinsteigen. Da lassen sie es sein ...
Beim Weiterreiten und je näher der Mittag kommt, wird Minou der Hut immer nützlicher. Die Sonne fängt nämlich an, ihre stechende, sengende Macht zu entfalten.
Jerry reicht ihr auch die bunte, gewebte Decke, die über den Rücken seines Esels gebreitet ist. "Leg sie um die Schultern und um die nackten Arme. Damit deine Haut nicht verbrennt!"
"Jetzt bist du eine Indiofrau", sagt Tomas.

Das Grün der Vegetation wird weiter oben in den Hügeln immer matter bis hin zu Gelb. Felsenhart ist der Boden, über den sie nun reiten. Mit Steinen besät. An den Hängen haben Menschen in früherer Zeit zwischen grobgetürmten Mäuerchen Terrassen angelegt. Ein Teil davon ist mit niedrigem Kraut bedeckt, verwildert ... Immer aber, wo sie auch gerade sind, ist das Meer hinter den Wegbiegungen sichtbar. Es leuchtet dann tief unten zu ihren Füßen.
Irgendwann begegnet ihnen eine Schar Bauern auf ihren Maultieren. Die schaukelnden Reiter sind kaum sichtbar, so hoch türmen sich Körbe voller Gemüse und Früchte um sie herum auf. Man ruft sich ein paar Worte zu. Ohne groß anzuhalten, drückt einer der Männer Jerry im Vorbeistreifen eine reife Wassermelone in die Hände. Der reicht ihm, auch ohne abzusteigen - ein paar Münzen hinüber.

*

Es war Wochen zuvor auf Hydra, wo Minou zum erstenmal auf einem Esel saß. Oder war es ein Mulo? ( Wie kann man die bloß auseinanderhalten! ) In Begleitung einiger Mittouristen und eines einheimischen Treibers machte sie einen Ausflug zu einem berühmten Kloster.
An sonnenheißen, steinigen Abhängen kamen sie vorbei, jähen Böschungen, Felsstürzen ... Sie ritten auf dünnen Pfaden. Minou betrachtete ihr störrisches Tier skeptisch ... wusste, dass ihre Sicherheit nur auf dessen Instinkt beruhte. Vier Beine mussten doch viel schwerer zu koordinieren sein, als zwei. Und der Weg längs der Berglehne war gefährlich. Und schmal ... Sollte sie vertrauen und ihr Schicksal dem eines Geschöpfes anvertrauen, mit dem es keine Verständigung gab? Das fiel Minou schwer. Aber es blieb nur eines zu tun: sich auf seinem Rücken möglichst bewegungslos zu verhalten, als sei man gar nicht da. Um das ohnehin störrische Wesen nicht zu irritieren. Während es nach alterprobten Huftiergesetzen Böschungen hochkletterte, an Steilhängen im wegbröckelnden Gestein mühsam seinen Tritt fasste. Immer eine Spur zu nah am Abgrund. Dass sie sich furchtbar fürchtete, verbarg Minou vor den anderen Touristen. Sie hatte Bauchkrämpfe. Ihr einziger Gedanke: Was ist, wenn der Esel jetzt auf dieser mit Geröll besäten Steigung ausrutscht und den Hang hinunterbricht?
Die seltsame Karawane aber zog weiter. Auf seinem Rücken schleppte jedes Tier SEINEN Menschen durch die steglose Gegend, im großen Ganzen geduldig. Auch wenn häufig eines aufmuckte und seinen wilden, markerschütternden Schrei losließ.

Da war ein quirliger, französischer Junge von höchstens acht Jahren, der plötzlich unter Kriegsgeheul mit seinem Mulo ausbrach und auf einem nur ihm sichtbaren Weg durchs Geröll davonstob. Die beiden Verdutzten, Tier und kindlicher Reiter, wurden mühsam vom Treiber wieder eingefangen.
Dann der hundertzwanzig-Kilo-Mann aus Holland. Der Feistling saß auf einer grazilen Eselin. Bizarrer Anblick. Seine Frau, auch nicht gerade ätherisch gebaut, stieg immer wieder ab, wenn die Pfade schlimm wurden und hechelte dann lamentierend zu Fuß hinter den anderen her.
Auch Minou war dicht davor, aus dem Sattel zu springen. Riss sich aber zusammen. Musste sich selbst beweisen, dass sie genauso ruhig bleiben konnte, wie der Rest der Leute..
Als es dann - ihrer Meinung nach - extrem gefährlich wurde und sie eigentlich hätte absteigen MÜSSEN, um, wie ihr schien, das nackte Leben zu retten, da war das unmöglich geworden. Der Pfad war so eng, dass sie überhaupt nicht vom Tier herunterkam. Mit aufragender Felswand zur Rechten und Steilhang zur Linken. Mit Reitern auf Eseln vor-, mit Reitern auf Eseln hinter sich. Auf allerschmalster Spur. Sie mitten drin. Immer den drohenden Absturz vor Augen.. Da konnte sie nichts tun, als auf dem schwankenden Rücken des stoischen Geschöpfes bibbernd weiter dahinzuzockeln. Minou hatte aus Angst längst die Augen geschlossen..
Sie hielt sich steif wie ein Brett, um das Tier nicht durch eine plötzlíche Bewegung zu schrecken. Denn sie hatte gelesen, wie das damals war, da oben in Alaska. Am Clondyke. In Goldsucherzeiten. Beim Übergang über die Rocky-Mountains-Pässe. Als ganze Trauben von Reisenden mitsamt ihren Mulos in den Tiefen zerschellten, wenn auch nur EIN Tier scheute. Es riss dann nämlich die anderen mit sich.

Jedoch auf Hydra war alles gut gegangen. Erst eine Weile später, wieder auf sicherem Terrain, hatte Minou angefangen, ruhig zu atmen. Erst da hatte sie angefangen, den Ritt zu genießen.

*

Hier auf Paros ist die Angelegenheit viel vergnüglicher. Weil Tom und Jerry dabei sind. Unter ihrem Schutz ist sie geborgen. Das Herzklopfen wie auf Hydra bleibt ihr erspart. In der Gegend, durch die sie kommen, steigen die Pfade ohnehin nur allmählich an und gefährlich ist es schon gar nicht. Minous Tier, ein anthrazithgraues Wesen mit einem Fell, das sich beim Streicheln anfühlt wie rostiger Eisendraht, bleibt aber ständig ohne ersichtlichen Grund auf kerzengerader Wegstrecke stehen, stößt seinen unbändigen Urlaut aus. Ist durch nichts dazu zu bringen, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Erst als sich dann Jerry mit ihm einlässt, ihm sanft zuredet, setzt es sich wieder zögerlich in Bewegung. Danach kommen sie zügig voran.

Minou fühlt sich von den beiden Männern umhegt wie eine Prinzessin. Und richtig glücklich. Oder? In Wirklichkeit nicht so ganz. Tom und Jerry haben sich heute ausschließlich auf ihre Person eingestellt. Fast fixiert. Das macht sie unsicher.
Die zwei Freunde werfen sich dann und wann abgehackte Sätze zu. Griechisch ist das nicht! Zu rau. Ist es Ägyptisch? Die Deutsche hat keine Ahnung. Diese Sprache passt zu ihnen. Wenn sie etwas zueinander gesagt haben, übersetzen sie es für Minou ins Englische. Damit sie sich nicht übergangen fühlt.

Während des Rittes wird ihr wieder einmal bewusst, wie wenig Ausdauer sie besitzt. Das merkt sie jedesmal dann, wenn sie mit lebensstarken, gut funktionierenden Typen zusammen ist, wie heute. Auch jetzt fühlt sie sich schon ... müde. Doch ja, ... ziemlich matt. In den meisten Menschen scheinen Energien zu stecken, die ihr fehlen. Sie ist schnell erschöpft. Häufig unwohl. Muss immer dagegen ankämpfen, Dann ist sie nicht unterhaltsam. So geht es ihr auch jetzt. Auf einmal denkt sie, dass die beiden womöglich hinter ihrem Rücken verletzende Bemerkungen machen. Weil sie vielleicht auf irgend eine Weise von ihr enttäuscht sind. Übersetzen sie ihr nur das, was sie hören soll?

Sie erreichen den Ort Lefkes. Oben auf der Bergkuppe. An Mauerringen binden sie die Mulos fest. Hier stiehlt sie keiner.
Die meisten Häuser dieser Stadt sind malerisch verwinkelt und ein bisschen verfallen, doch mit Blumenkästen geschmückt und wie zum Fotografieren gemacht. Andere sind keine einfachen Kykladenhäuser, sondern kostbarer und prunkvoller. Und dann die Kirchen. Aus weißem Marmor?
"Most of the buildings are dated back in mediaeval times. Die meisten Gebäude stammen aus dem Mittelalter", liest Tom ihnen aus dem Reiseführer vor ...
"Och," sagt Minou, "I don’t believe it."

Dass es hier ein Mittelalter gegeben haben soll, ist schwer vorstellbar. Zumindest keines von der nördlichen Art. Mittelalter kennt Minou vom Schulunterricht her: es sind jene Jahrhunderte, die dumpf und düster im Nebel der Geschichte verborgen liegen. Mittelalter bedeutet für sie: gothische Kathedralen, Prozessionen vermummter, braunkuttiger Mönche. Purpurgekleidete Kardinäle mit ihrem Tross. Mittelalter: da hört Minou das Tosen der mächtigen, erzenen Kirchenglocken überm Bauernland. Die gebrüllten Gebete ( oder eher Flüche ? ) armer Frauen, wenn sie durch stinkende Gassen, an der feixenden, gaffenden Menge vorbei zum Scheiterhaufen gekarrt werden. Hexenverbrennung. Mittelalter, so hat sie gelernt, das sind Hildegard von Bingen und ihre Klosterschwestern. Rein, klar wie Eis klingen ihre Gesänge in den Tiefen der Dome. Mittelalter, das bedeutet Weihrauchschwaden aus geschwenkten Urnen. Mystische schwarze Messen. Choräle und zum Himmel gereckte Kreuze.
Nichts von all dem kann es hier gegeben haben, denkt Minou, nicht auf dieser lichtdurchfluteten Insel inmitten der hellen See. Unmöglich! Und doch: Lefkes ist ein MITTELALTERLICHER Ort. So steht es im Reiseführer. Und es war früher die Hauptstadt der Insel. Lefkes ist nicht groß. Es hat eine Menge Kirchen. Zuviele fast. Da sind sicher dunkle Geheimnisse hinter den Mauern verborgen. Geheimnisse?
Die Bewohner waren früher wohlhabende Leute. Wohlhabend wodurch? Das Buch verheimlicht es. Das zeige der Zierat an den vielen edlen Gebäuden, steht dort.

Der Ort ist voller engverwinkelter Sträßchen und Treppengassen, die manchmal auf einen Platz mit einer Kirche münden. Immer wieder kommt man unerwartet auch zu Brüstungen und Aussichtspunkten, von wo aus man hinuntersehen kann auf die türkisblaue Ägäis.
"O wie schön!", jubelt Minou. Jerry schaut sie von der Seite an. Er lächelt nicht.

Ziemlich viele Besucher sind in Lefkes unterwegs. Fotografieren. Auf einem Platz, wo Tische und Stühle draußen vor einer Taverna stehen, rasten die drei. Bestellen Kaffee. Zu jedem Kännchen gibt es ein Glas kristallkühles Wasser.
An den Nachbartischen sitzen junge Leute. Die reden Deutsch. Eine Reisegruppe. Minou hat eine Weile den Klang der Muttersprache nicht mehr gehört. Und nicht vermisst. Stets meidet sie die Landsleute, wenn sie ihnen ab und zu begegnet. Die Freude, die bei solchen Aufeinandertreffen zur Schau gestellt wird, ist falsch, der Ton vertraut zwar, aber unecht, man hat sich im Grunde wenig zu sagen ... Minou gibt sich nie als Deutsche zu erkennen, wenn jemand von zu Hause ihr über den Weg läuft.
Jetzt hat sie, ungewollt zuerst, dann interessiert, Gelegenheit, eine authentisch- heimatliche Konversation zu belauschen:
"Sieh' mal die beiden Typen! Die sehen ja interessant aus", sagt ein Mädchen zum anderen. ( Sie meinen Tom und Jerry, wen sonst?).

Die zwei Kücken starren herüber. Intensiv. Fasziniert. Zwei ganz junge sind es. Nordmädchen. Über und über ziemlich rot getönt. Und weißblond die Haare. Zwei kleine Evas schon hautnah am Sonnenbrand ...
Sie starren. Kichern. Rücken ihre sperrigen Reize, ihre Füchschengesichter ins rechte Licht.
"Du, die sprechen Englisch", flüstert das eine Mädchen dem anderen zu, als habe es eine bedeutungsschwere Entdeckung gemacht.
"Woher die wohl kommen?" rätseln sie. Jerry wird von der einen für einen Massai gehalten. Minou muss laut lachen. Die Kleine hat wohl das Wort irgendwann gehört. Nein, Jerry ist dunkel, aber keineswegs schwarz. ...
"Der Dunkle ist bestimmt ein Orientale", sagt das zweite Mädchen.
"Du hast noch nie einen Orientalen gesehen, Spinnerin ... "
Für einen Araber ist er zu groß", sagt das andere junge Ding ... "Wo das doch sonst untersetzte Knilche sind ..."
"He ... ein Massai ist doch kein Araber! Hast du je einen Araber gekannt? Also, was laberst du ... "
"Und die Frau ( sie meinen Minou ) zu wem von den beiden gehört die wohl?"
"Oh, die sieht auch toll aus!" sagt die andere und schmeichelt damit, ohne es zu wissen, Minous Selbstbewusstsein doch ziemlich ...

Eine dieser Halbwüchsigen kommt jetzt sogar herbeigeschwänzelt. Bittet Jerry um Feuer für eine Zigarette, die sie sich verwegen zwischen die Lippen geklemmt hat. Als ob ihre rauchenden Reisekumpel keine Streichhölzer auf dem Tisch liegen hätten. Jerry grinst, lässt seine Augen ein bisschen blitzen. Brav geht sie wieder zurück mit hochrot gewordenem Köpfchen, nachdem der Mann aus Alexandria ihr Feuer gegeben hat. Ihr fehlt der Mut, mehr als "thank you" zu murmeln.
Von da an starren auch andere Mädchen der Clique herüber. Stoßen sich an. Kichern.
Zumindest Jerry fängt die Signale auf, die man ihm sendet. Mit der Miene des nicht abgeneigten, des ganz und gar nach allen Seiten hin offenen Mannes, lächelt er zurück.
Tomas studiert die Inselkarte, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat. Nimmt das Interesse der Umgebung, das auch er längst gewohnt ist, mit düsterer, gelangweilter Miene zur Kenntnis.
"Du, das gibt's nicht, der Dunkle hat mir zugezwinkert, echt ... ", raunt das eine der Mädchen atemlos seiner Freundin zu ...
"Ihr zwei blöden Kälber", murrt einer der Jünglinge am Tisch, "warum springt ihr ihnen nicht gleich mit beiden Beinen um den Hals ... "
"Halt doch die Klappe, die verstehen uns womöglich!"
Minou muss wieder heimlich grinsen.

Das ist vor allem Jerrys Makel. Er ist polygam und er zeigt es ständig. Es ist Minou überhaupt nicht recht, dass er da mit den Weibchen flirtet. Tomas aber gibt sich genervt. Zeigt sich reserviert, nicht nur den Fremden, sondern auf einmal auch ihr, der eigenen Begleiterin, gegenüber. Gerade jetzt, wo alle zu ihnen herstarren, würde es Minou gefallen, wenn wenigstens einer der zwei, besser noch beide, ihr vor den Leuten ein bisschen mehr den Hof machten. Damit alle sehen könnten, wie stark sie zusammengehören!
Später, als Minou dann mit ihren aufsehenerregenden Männern durch die Straßen schlendert, sind diese Schulmädchen wieder da. Eine evangelische Jugendgruppe ist es aus Hannover. Und der Herr Pfarrer auch noch dabei. Die kleinen Weibchen zupfen Tom und Jerry an, kichern, rücken endlich mit ihrer Bitte heraus: Ob sie ein paar Fotos von ihnen machen dürften oder besser, mit ihnen zusammen?

Das sind die 50er Jahre, in denen Deutsche nicht ‚weltläufig‘ sind, Zeiten, in denen man noch über Andersartiges staunt.
Die zwei Männer aus Alexandria werden also von übermütigen jungen Teutoninnen umringt. Alle wollen aufs Bild. Minou wird natürlich auch dazugebeten. Obwohl es den jungen Lolitas höchstwahrscheinlich nur um die beiden Männer geht. Aber Jerry legt den Arm um Minous Schulter. Um zu zeigen, dass sie zu ihm gehört. Minou, von den halben Kindern auf englisch auch über IHR 'Woher' und 'Wohin' befragt, sagt keinen Ton. Tut, als verstünde sie rein gar nichts. Schaut achselzuckend, lächelnd, gespielt hilfesuchend zu ihren beiden Begleitern auf, damit die für sie reden.
Sie will sich den Deutschen nicht als Deutsche zu erkennen geben. Jetzt erst recht nicht, nach dem, was sie eben am Nebentisch alles mitangehört hat ...
Sie überlässt 'ihren' Männern das Antworten. So, als sei auch sie eine Person aus einem fremden Land. Und die deutschen Mädchen glauben es. Tom und Jerry spielen mit. Verraten sie nicht. Vor allem Jerry, der ihre Unsicherheit zu spüren scheint, lässt seinen Arm auf ihrer Schulter ruhen. So schlendern sie zusammen weiter. Immer noch gefolgt von den plappernden, kichernden Halbwüchsigen. Zum erstenmal berührt Jerry Minou auf diese Weise vor den Augen anderer. Sie fühlt sich beschützt.
Inmitten der herumhopsenden Mädchen, schauen sie sich die Stadt an, die einfach unsagbar romantisch und malerisch ist. Tom scheint bald von den deutschen Verehrerinnen genug zu haben.
"Come on", meint er barsch, "wir haben alles gesehen. Let's go ... "

Da brechen die drei auf. Reiten von Lefkes aus wieder talwärts. Schwenken dann um. Nun geht es eine Zeitlang durch diese teils grüne, teils verdorrte Terrassenlandschaft. Hohe, weiße Lilien stehen manchmal am Wegrand, bewegen sich im leichten Wind.

Nun reiten sie bergan über schmale Pfade. Sie halten auf einer Ebene. Hoch über der Ägäis. Wo es nicht mehr höher hinaufgeht. Mit Blick auf das azurblaue Meer. Wie Jerry es versprochen hat.
In einem von Menschenhand angelegten, von der Natur zurückeroberten Weinberg halten sie. Da sind noch viele knorrige Rebstöcke. Armdick, winden sie sich geduckt am Boden. Aus dem einst bewirtschafteten Land scheint wieder Brachland zu werden. Mit spärlichen Gräsern und Grasblüten bewachsen. Eine karge Ebene. Herb und duftend. So ruht sie heiter unter dem unendlich hohen, unendlich blauen Himmel.

Im Schatten einer Steineiche lassen die drei sich nieder. Dem einzigen Baum weit und breit. Die Sonne brennt, obwohl es gegen zwei Uhr mittags ist und sie ihre schlimmste Kraft eingebüßt haben sollte. Neben einer zerbröckelnden Mauer, unter der Krone der Eiche sind die jungen Leute und ihre Huftiere vor den sengenden Strahlen geschützt.

Da packen die Männer die essbaren Schätze aus: eben noch in Lefkes gekauftes frisches, Brot, dazu Feta, kalten Braten, Schinken, Lamm- und Hühnerpastete, Tomaten, Dolmadakia ( gegarte Weinblätter, gefüllt mit Feta oder würzigem Reis ) Dann in Schraubgläsern Taramo, eine rosa Paste aus Fischrogen mit Olivenstückchen und Zitronensaft, Melitsana ( köstlichen Auberginensalat ) Und Exotisches, Delikatessen aus kleinen Dosen: Lachs. Getrüffelte Gänseleberpastete. Krabbencocktail. Ein Döschen russischen Kaviar sogar. Als Nachspeise diese einheimischen ( oder türkischen ? ) Gebäckstücke, honigsüß, klebrig. dazu Ananas und Kirschkompott. Von allem überreichlich. Genug Flaschen Mineralwasser und 'Lemonada' Eine Flasche 'kokkino krasi' ( Rotwein) und eine Retsina haben die mulos auch mit herauf geschleppt. Minou hatte irgendwann erwähnt, dass sie von den einheimischen Weinen Retsina am liebsten mag. Sogar daran haben sie gedacht! Und an die Thermoskanne mit starkem Kaffee.

Tom breitet jetzt eine blau-weiß karierte Tischdecke aus Leinen auf den Boden. Ordnet die Speisen in blauem Bakelitgeschirr an. Auch Stoffservietten gibt es ... Die haben das gleiche, karierte Muster wie die Tischdecke.
"Ihr habt da aber einen Aufwand ..."
"Tom ist eben ein feiner Herr", grinst Jerry.
"Nein", sagt Tom, als Minou mit dem Anrichten helfen will, "du rührst keinen Finger. Du bist unser Gast."
Sie ist verlegen. Ihretwegen geben sich die beiden all diese Mühe!

Es ist schön hier. Und ... Minou hat großen Hunger. Wo sie doch sonst oft zum Essen überhaupt keine Lust hat.
Es ist köstlich. KÖSTLICH: das ist ein Wort, das es üblicherweise in ihrem Sprachschatz nicht gibt. Aber jetzt denkt sie es! An diesem heißen Sommertag, im verwilderten Weinberg hoch über der Ägäis zelebrieren die drei ihr köstliches Picknick. Den Männern scheint es ebenso gut zu schmecken wie ihr.

Tomas reicht Minou Brotscheibchen auf ihren Teller, kleine Häppchen mit würzigen, abwechslungsreichen Belägen. Einmal berührt er ihre Hand. Unabsichtlich. Zieht die Seine sofort zurück. Jerry streckt Minou ab und zu einen Leckerbissen mit seiner Gabel herüber. Sie packt ihn vorsichtig mit den Lippen und isst ihn lachend ab. Tom sagt, sie solle diese Speise versuchen und jene. Und hier sei eine griechische Besonderheit, die müsse sie auch noch unbedingt probieren. "Ja, schmeckt wunderbar." Sie strahlt..

Minous Hand verirrt sich nicht selten zum weingefüllten Becher. Sie fühlt sich so wohl, dass es einem Menschen nicht besser gehen kann. Sie kichert, wenn einer der Männer etwas zu ihr sagt. Sie ist den beiden Begleitern und dem Leben dankbar für den gelungenen Tag. Sie mag Tom und Jerry schon lange. Hat sie in der letzten Zeit häufig in ihre Gedanken mit einbezogen. Hauptsächlich Jerry.

Tom und Jerry fragen Minou nach ihrem Leben. Ihrer Stadt. Ihrer Familie. Minou fragt ihre Begleiter nicht nach deren Leben. Nicht nach ihren Familien. Sie aber wollen von ihr alles wissen. Was sie zu Hause so gemacht habe und was sie später tun wolle. Beruflich ... Das bringt Minou in Verlegenheit. Sie sagt, sie habe noch gar nichts vor. Ja also, sie würde gern Kunst studieren oder so etwas ... sie habe sich eigentlich keine großen Gedanken ...

Eines ist klar: sie nehmen Anteil an ihr. Sind interessiert. Sogar an ihrer Vergangenheit. Und sie? Ist gelöst, mitteilsam, sodass sie auch von Sizilien und ihrer großen Liebe zu Ernando zu erzählen beginnt. Die zwei hören ihr wohlwollend zu.
"So, du hast also eine wunderbare Liebe erlebt mit einem wunderbaren Mann!"
Minou nickt.
"Und du liebst ihn vielleicht noch immer?"
"Ja, ich glaube schon!"

Natürlich hat Minou nicht vergessen, auf welche Weise er, dieser gleiche Jerry, der sie jetzt so freundschaftlich nach Ernando fragt und mit Häppchen fürsorglich füttert, in der Nacht am Strand von Ägina mit ihr umgesprungen ist. Männer sind eben manchmal so. Wahrscheinlich hätte eine andere Frau das als weniger dramatisch empfunden! Eine wie Elena zum Beispiel. Oder Mary ... Am Ende hatte Jerry sie ja ohne weiteres freigegeben, als er sah, dass sie sich wehrte.
Männer testen Mädchen eben. Wollen wissen, ob sie leicht zu haben sind, denkt Minou, und ich bin es nicht. Das habe ich ja bewiesen.

Da ist das Summen und Gewusel winziger Lebewesen im Gras. Das Aroma wilder Kräuter: Thymian, Salbei, Rosmarin ... Der erdige, heiße Atem der Ackerscholle, die in der Sonnenglut seit Jahren vor sich hin bröselt... Auch Schwaden herben Pferdegeruchs trägt der Wind zu ihnen herüber, jedesmal, wenn eines der in der Nähe stehenden Reittiere seine Flanken schüttelt.

Minou fühlt sich sicher heute ... obwohl in der heißen Sommerluft, in dieser total verlassenen Gegend, liegt eine vage, unterschwellige Gefahr in der Luft ... vielleicht lungern Fremde in der Nähe ... aber was kann ihr schon geschehen, wo zwei so starke Männer bei ihr sind! Nein ... sie fühlt sich ganz sicher ... Auch vor 'dem anderen'. Sie denkt: Jerry wird nicht wagen, mir zu nah zu kommen. Er wird keine Minute mit mir allein sein. Wieviel ungefährlicher ist es doch für eine Frau, mit zwei Männern unterwegs zu sein, als nur mit einem!
Und dass ihr eben gemachtes Bekenntnis zu Ernando einen zusätzlichen Schutzschild bedeutet gegen Jerrys vielleicht noch latent vorhandene Wünsche, glaubt Minou fest.
Es ist so: Die beiden Männer sind ihr nicht gleichgültig. Tom könnte sie sich gut als ihren 'platonischen Freund' vorstellen: Er ... so überlegen. Einen solch klugen und starken VERTRAUTEN zu haben, das wäre schön!
Doch Jerry! ... Ihm würde sie ihr Herz schon längst gegeben haben. Wenn da nicht die Erinnerung an Ernando wäre. Es gefällt ihr keiner besser auf der Welt als Jerry. Ernando ausgenommen.
Sie denkt wieder an die Party auf Ägina. Als sie Jerrys ziemlich heftigen Annäherungen nur mit Mühe entwischt war. Sie muss lächeln. Da hat sie es ihm aber gezeigt!. Auf alle Fälle weiß er jetzt endgültig, dass sie 'so eine' nicht ist. Auch wenn sie damals geflohen ist, hat das, was FAST zwischen ihnen gewesen wäre, doch Spuren in ihrer Fantasie hinterlassen. Und Sehnsucht ...
Irgendwann wird sie sich Jerry hingeben. Denn haben will er sie ja. Noch immer? Alles in ihr drängt ihm entgegen. Aber zuerst muss er beweisen, dass er sie ganz und gar respektiert, es 'ehrlich' meint, dass sie ihm mehr bedeutet, als andere Frauen, mit denen er bisher herumzog. Er hat 'agapimou' zu ihr gesagt. Das zeigt, denkt sie, er hat mich gern.
Wenn er bewiesen haben wird, dass er vollkommen zu ihr steht, dann wird seine Wildheit sie überhaupt nicht stören. Sie weiß: sein Liebemachen wird ihr gefallen. Wie sein starker Körper, sein kühnes, dunkles Gesicht, wie seine ganze Art ihr so sehr gefällt. Ein bisschen wird sie noch warten. Er soll nicht denken, dass sie eine von der leicht zu erobernden Sorte ist.
Sie stellt sich nun vor, wie schön es sein wird, Jerrys Geliebte zu sein. Und an ihrer beider Seite hätten sie Thomas als brüderlichen Freund. Das wird wunderbar. Da hat sie dann alles, was man sich nur vom Leben wünschen kann: Beschützer, Bruder UND Geliebten. Jetzt hat die Trennung von Ernando schon fast ihren Stachel verloren. Was für eine interessante Zukunft wartet vielleicht auf sie!! Weil die Männer fest zueinander gehören und sich anscheinend niemals trennen, und weil Mary und Edith nicht mehr hier sind, könnten sie doch zu dritt weiter beisammen bleiben??
Es fällt ihr gerade ein, dass Tomas heute morgen so etwas erwähnt hat. Gefragt hat er, ob sie nicht Lust habe, mit ihnen zu kommen, wenn sie bald aus Paros abreisten ...
Geld habe ich ja noch, denkt Minou, ich brauche nur nach Athen zu fahren und den Rest abzuholen. Was für ein interessantes Leben kann/wird das werden ...
Wir kennen uns gut genug, glaubt sie, und wir verstehen uns alle drei. Den beiden wird es bestimmt gefallen, wenn ich bei ihnen bleibe. Sie mögen mich, das ist klar. Auch Tomas. Sonst wäre er heute nicht derart nett zu mir! Das sind so Minous träumerische Gedanken. Die der Genuss von zwei, drei Bechern Rezina-Wein bei der Mahlzeit noch beflügelt hat.


*

Jetzt, wo Minou vom reichlichen Essen und dem Wein schläfrig ist, würde sie gern in Jerrys Armen liegen. An diesem strahlenden Tag fühlt sie sich bedürftig nach Nähe. Nicht nach dem, was man mit 'zusammen schlafen' umschreibt, oder 'faire l'amour'. Aber nach 'sich anschmiegen'. Nach dem 'im Herzen zu jemandem gehören'. Irgendwie ergibt es sich, dass sie den beiden schon wieder von Ernando erzählt. Ihr kommen auf einmal die Tränen.
Er sei ihr erster und einziger Liebhaber gewesen, erzählt sie, als Tom sie freundlich, doch hartnäckig danach fragt. Dass auch Nikos im Spiel war, hat sie vergessen.

"Wie alt bist du, Küken?"
"Ich bin nicht mehr so jung wie ihr vielleicht glaubt!"
"Nicht mehr so jung, aber verliebt wie ein Kind", sagt Tomas.

Als das Picknick langsam zu Ende geht, lagern die drei eng beieinander: Jerry, Tom. Minou in der Mitte.
In der Einsamkeit der Hochebene ...
Aber eng verbunden sind sie keineswegs. Da ist dieses Eine, das unsere Freundschaft so interessant macht, denkt Minou ... ‚Es ist die FREMDHEIT. Es ist dieses ganz und gar NICHT- miteinander-Vertraut-sein, das 'aus-verschiedenen-Welten-Kommen.' All das Unerwähnte zwischen ihnen ist es -spürt sie - das macht die magische Atmosphäre dieses sonnendurchglühten Tages aus.


Tom und Minou sitzen jetzt, Beine angezogen, im gelben Gras. Jerry liegt ausgestreckt auf dem Rücken, seine Hände unter dem Kopf verschränkt. Über ihnen ziehen kleine, weiße Wolken rasch dahin, gleiten wie komische Segelschiffe im tiefen Blau.

Tom drückt sein Gesicht näher an ihres. "Du riechst so gut," flüstert er. - Es ist wahr, Minou hat sich heute morgen wie immer ihr besonderes Parfüm auf Hals und Armbeuge gerieben. Nicht einmal einen Tropfen. Nur eine Spur davon.

Was für ein wunderbarer Tag! Von all der Schönheit der Welt kommen ihr auf einmal die Tränen. Oder sie ist sentimental vom Wein? Ihre Hochstimmung wandelt sich zu leichter Schläfrigkeit.

Jerry und Tom schweigen. Da ist nur das Summen der Insekten. Der Wind streicht über die Hochebene, lässt staubtrockene Dolden leise rasseln. Ab und zu tönt das Klicken des Feuerzeugs, wenn einer der Männer sich eine Zigarette anzündet.
Zuletzt trinken sie aus ihren Bechern heißen Kaffee, den ein Wirt in Lefkes in die Thermoskanne gefüllt hat.

Minou spürt, dass Jerry sie unter halb geschlossenen Wimpern unentwegt beobachtet. Da senkt sie schnell den Blick. Sie wagt nicht, ihm in die Augen zu blicken. Sie schämt sich vor ihm. Oder vor dem, was er vielleicht gerade denkt ...

Tom nimmt zwei Zigaretten an den Mund. Zündet sie beide an. Steckt ihr eine davon zwischen die Lippen. Dann liegt Minou nah bei den Männern im Gras. Sie rauchen.

Der Wind bringt den Geruch vom Meer und von allem, was das Meer an Tierischem und Pflanzlichem in sich birgt. Auch das sonnendurchglühte Erdreich kann man riechen. Das in der Hitze brütende Gestein. Und Thymian. Wilden Majoran. Eine heftigere Brise lässt ab und zu Toms lange Haare aufflattern. Tief unten und in Wirklichkeit ziemlich fern, doch wie zum Greifen nah, leuchtet in türkisfarbener Pracht die schöne Ägäis.

*



12
UND DANN ?

greift Tomas sich plötzlich das Mädchen.
"I am the big bad Grizzly", stößt er heraus. Lachend und mit verstellter Bassstimme.
"I‘m going to eat you up now."
Tom hebt sie auf die Arme, rennt los, strollt mit ihr über die Wiese. Drollig. Mimt den Riesenaffen, den schwarzen Mann.
Minou lacht. Kichert. Zappelt. Hört nicht auf, zu kichern.
Tom hüpft schwerfällig wie ein Tanzbär mit ihr herum.
"Lass mich runter!", ruft Minou
Sie strampelt. Kratzt mit ihren Fingernägeln Striemen in seine Arme. Leichte Striemchen nur. Sie will ihm ja nicht wehtun ... Nur damit er sie loslässt.
"Help me Jerry", quietscht sie. Noch immer vergnügt.

Da stellt Tomas sie auf die Erde. Mit Raubtiergebrumm. Minou springt davon. Lachend.
Jetzt spielen sie ‚Nachlaufen‘, wie es wahrscheinlich überall in der Welt gespielt wird, auch zuhause auf dem Schulhof in Marienstock. Wo sie aber nicht gern mitmachte, weil die Jungen manchmal die Mädchen über den Haufen rannten. Ihr selbst hatte einer im Vorbeihasten mit dem Ellenbogen einen Puff in den Bauch versetzt, wahrscheinlich nicht absichtlich, doch so stark, dass ihr schlecht wurde und sie in Ohnmacht fiel. Das war die Zeit gewesen, wo sie ohnehin ständig in Ohnmacht fiel.
"Los, lauf weg!" ruft Tom, "wir geben dir einen Vorsprung. Jetzt ist Jerry dran. Er muss dich fangen."

Jerry kriegt Minou schnell. Eine Sekunde hält er sie in seinen Armen. Sie kichert schon wieder. Jerry gibt ihr einen kleinen Klaps auf den Rücken:
"Lauf, Childy", ruft er, "los, lauf ... mach, dass du jetzt Tom erwischst."
Da ist dann sie hinter Tomas her, den sie aber nicht so leicht einholt.

Manchmal bleiben Tom und Jerry stehen, um Minou eine Verschnaufpause zu gönnen. Denn so schnell wie die Männer kann sie nicht laufen. Endlich hat Minou Tom gefangen. Der ist wieder hinter Jerry her, das sind die Regeln, und Jerry ist hinter Tom her und so weiter ... Irgendwann hat Tomas Minou erreicht ... Er packt sie leicht, stößt sie mit einem kleinen Ruck zu Boden.
Düfte sind da von wildem Lauch, Thymian, von der sommerheißen Erde, Toms Geruch nach Aftershave und Schweiß, das Aroma von ägyptischen Zigaretten ... und der Druck seines schweren Körpers auf ihrem. Denn er hat sich über sie geworfen.
Minou, das Gesicht im Gras, denkt: "Es passiert NICHTS. Denkt: er macht Spaß. Denkt: es ist ein Spiel.
Da ist jetzt auch Jerry. Sie kugeln sich auf der Erde. Alle drei. Jenseits von Gut und Böse? Wie Kinder?

Jerry küsst Minous Hals.
Tom packt sie bei den Handgelenken, drückt seinen Mund auf den ihren. Hart.
Da fährt Minou aber hoch: "You stop it", schreit sie. Nun sehr verwirrt.
Tom packt sie fester.
Finger wandern jetzt ihre Wade hinauf. Streicheln das Knie. Pressen ihr Kopf, Schultern nieder ins Gras.
Sie meinen es nicht ernst, probieren aus, wie weit ich eventuell mitmache, denkt Minou. Wehrt sich vehement. Damit denen klar ist: sie will das NICHT. Sie müssten doch wissen, dass sie 'so eine' nicht ist.

Die Hände der Männer sind überall. Und nicht wegzuschlagen.
Eine Hand fährt Minous Schenkel entlang. Die empfindliche Innenseite des Schenkels. Fährt unter ihren Rock. .
"Schluss jetzt", schreit sie.

Sie machen lustig weiter.
Haben die denn keine Achtung! Denen wird sie es zeigen. Dass man so etwas mit ihr NICHT macht. Sie ist fuchsteufelswild. Wehrt sich heftig.
Nichtsdestotrotz wickelt Jerry ihre Brust aus der Bluse.
Er knabbert daran. Suckelt. Da spürt sie: ihre Nippel sind Geschlechtsdrüsen und senden bei seiner Berührung Signale durch ihren ganzen Körper. Während Jerry an ihnen saugt, erschauert sie vom Haarwirbel bis zu den Zehen. Nein, das hat sie nicht gewollt! Das will sie nicht.

Tom fährt mit der Hand in ihren Slip.
Minou kriegt ihre Arme frei. Schlägt um sich. Hat Kräfte, von denen sie bisher nichts wusste. Mit spitzen Fingernägeln kratzt sie, drischt mit Fäusten auf die beiden ein. Packt Tom bei seinen griffigen Locken. Zieht, zerrt ...

Dass sie sich so toll wehrt, scheint die zwei zu amüsieren.
"Hey, Childy, du bist ja stark", ruft Jerry und lacht.

Tom kitzelt sie plötzlich unter den Achselhöhlen. Da lassen ihre Hände seinen Haarschopf reflexartig los. Die Männer lachen. Küssen sie überall hin. Jerry reißt sich ihren Nippel wieder unter die Lippen. Saugt.
"Hört auf jetzt ... Ich will nicht!"
"So bitte uns mal schön, dass wir aufhören, sag PLEASE. Vielleicht lassen wir dich dann gehen!" Das ist Toms Stimme.
Minou ist starr ... die Wut ...
"Wenn du ganz lieb "please" sagst, kommst du frei!"
"Lasst mich los, aber sofort !"
"Sag, please! Then we let you go ... "
"Please", murmelt sie zwischen den Zähnen .
"Ich höre es nicht, sag es nochmal, sag es deutlich", befiehlt Tom: sag: "PLEASE, be nice to me!"
"Please..", sagt Minou wieder
"Say: be nice to me! ..."
"Bitte ... jetzt reicht‘s mir!"
"Sag: be nice to me ... wird’s bald!"
"Nein!"
"Tom, it is enough", ruft Jerry. Es folgt ein kurzer Disput in der Sprache, die Minou nicht versteht. Die beiden lassen sie los ...

Minou geht schwankend zurück zur Picknickdecke. Die Männer hinterher.
"Kommt, wir trinken lieber unseren Kaffee, solang er schön heiß ist", sagt sie mit wiedergewonnener Kraft und will, dass Ihre Stimme fest klingt. Jedoch ihre Stimme zittert. Ihre Knie auch. Sie macht sich gespielt ruhig an der Thermoskanne zu schaffen. Gießt von der schwarzen Brühe in einen Becher, reicht ihn Tom.

Jerry geht zum Maultier, holt aus seiner Satteltasche eine Packung Zigaretten..
"Krieg ich auch eine", fragt Minou leise. Denkt: So kommt man vielleicht zurück zur Normalität.
Die schämen sich schon über ihren Ausbruch - hofft sie - und alles ist wie ein Spuk vorbei.
Aber nein, vielleicht war das doch dumm, das mit dem Tun-als-sei-alles-in-Ordnung ... Als nämlich Jerry ihr eine Zigarette anzündet und zwischen die Lippen steckt, packt Tomas sie wieder von rückwärts. Hält sie fest. Von neuem reißt sie sich wild los. Rennt ein Stück über die Wiese. Wäre es besser gewesen, sie wäre nicht gerannt? Denn natürlich kommt ihr Tomas nach ... Jagdinstinkt? ... Er packt sie wieder. Sie wehrt sich. Schreit.

"Mach doch kein solches Theater", sagt Tom und hält sie fest.
Er zieht ihren Rock herunter.
Sie ist starr. Überrumpelung.. Dann schrillt sie los. Schreit. Das beeindruckt ihn nicht. Er macht weiter.
Bitte nein, bitte nein", stammelt sie.
"Aber doch, aber doch", sagt Tomas.
"Jerry, help me ... be fair", ruft sie, "wir sind doch Freunde!"
"Klar ", sagt Tomas Mathoggi und zieht ihr den Slip von den Hüften.

Aber Jerry hält sie auch fest. Minou kämpft gegen zwei Männer. Sinnlos.
"Komm, komm, sei ein braves, kleines Mädchen!", lacht Tom.

Am Ende ist sie nackt. Auch das weiße Höschen haben sie ihr von den Hüften gestrippt und es baumelt um die Knöchel. Dann drücken sie sie auf die Erde und nehmen ihr den Slip ganz. Den Schoß kann Minou sich gerade noch mit ihren beiden Händen bedecken, doch Mathoggi zieht sie heftig weg.
Sie drücken Minou nieder. Mit dem Rücken ins Erdreich. Sie halten sie am Boden: Arme gespreizt, festgepinnt. Beine gespreizt, festgepinnt. Ihre Schenkel breit auseinandergekrätscht. Dass sie sich keinen Zentimeter von der Stelle rühren kann.


*


Was vorherging:

Sommer 1960. Das deutsche Mädchen Minou hat einige Jahre in Sizilien verbracht. Nach einer 'verhängnisvollen' Affäre mit dem undurchsichtigen Ernando Sascala und ihrer verhinderten Hochzeit mit Nikos Sakatis, einem griechischen Geschäftsmann, kommt sie nach Athen. Später, auf Ägina lernt sie die beiden jungen Abenteurer Tom und Jerry und die Griechin Elena kennen. Sie verleben schöne, gemeinsame Tage in der Ägäis.
Als Elena abgereist ist, begleiten die beiden Männer Minou nach Hydra. Dort läuft sie ihnen quasi davon ... vielleicht aber auch nur deshalb, weil die Don Juans sich in immer neue Frauengeschichten einlassen. Auf Paros angekommen, muss Minou aber feststellen, dass Tom und Jerry bereits dort auf sie warten. Wieder sind sie in weiblicher Gesellschaft ... diesmal mit zwei jungen Engländerinnen im Schlepptau, Mary und Edith. Offensichtlich sehr erfreut, begrüßen die beiden Männer das deutsche Mädchen. Zu fünft sitzt man lange beim Abendessen zusammen und beschließt für die kommende Woche einen gemeinsamen Maultier-Trip und ein Picknick ins Inselinnere zu unternehmen.
Tom und Jerry holen Minou am vorgesehenen Morgen ab. Sie teilen ihr mit, Edith und Mary seien leider unerwartet nach England zurück beordert worden, darum müsse man jetzt zu dritt losziehen.
Bei der Rast auf einem verlassenen Hochplateau kommt zwischen dem deutschen Mädchen und den Männern alles anders, als Minou es sich vorgestellt hat.

*



13
WER TOMAS MATHOGGI WIRKLICH IST
"Mit mir stimmt so vieles nicht", hatte Tomas eines Abends zu Jerry gesagt und es war ungefähr zu der Zeit, als die beiden Männer Minou bei der Schiffskartenausgabe am Piräus angesprochen hatten.
"Was Frauen betrifft ... du würdest es nicht glauben, dass ich mich Tag für Tag, Nacht für Nacht, mit den schlimmsten Wünschen herumschlage. Aber es ist so ... Mein Trieb macht mich wahnsinnig. Ich kann nun einmal nicht besonders fair sein zu weiblichen Wesen.
Du bist so nett oder so gemein wie jeder Mann, der sich ausleben will. Tom, wir haben doch keine Probleme mit den Ladys und sind recht freundlich zu ihnen. " Ich betrüge ja inzwischen meine Frau, dass es eine Schande ist – obwohl ich mit ihr froh und zufrieden bin ... nur ist sie leider zu weit weg", sagt Jerry leise.
"Ach, du weißt nichts von mir, sonst hättest du bemerkt, dass ich längst im Sumpf der Todsünde versinke ..."
"Du spinnst. Jetzt mach aber einen Punkt, Tom, ich kann dir nicht folgen ... Du bist doch ein freier Mann ... frei und ungebunden. Ist nur normal, wenn du hin und wieder ein Mädchen flach legst!"
"Es ist ja alles viel schlimmer als irgendeiner ahnt! Ich träume von Gewalt, mein Freund ... erzwungenem Sex !"
"Na gut, das mögen Frauen doch manchmal gern ... solang man nicht zu übermütig wird!"
"Jerry, du missverstehst mich ... Ich bin nicht harmlos! Ständig sehe ich die drastischsten Bilder vor meinem inneren Auge. ..."
"Hör zu, wir alle haben unsere verrückten Wünsche ... aber niemand lebt das aus, was er in seiner Fantasie sieht ... "
"Ich schon!"
"Hey, weder Elena, noch die kleine Amerikanerin - wie hieß sie gleich? - noch Mary haben sich über dich beschwert", lacht Jerry, "was redest du bloß daher ... wir brauchen doch keine Gewalt anwenden, die meisten Frauen sind ja willig ."
"Jerry, ich bin abgrundtief schlecht. Mein Gewissen bereitet mir die Hölle. Die Vergangenheit jagt mich, ich ekle mich vor mir selbst und doch ... ist es auch ... Wonne. "
"Bluffst du jetzt? Was meinst du genau ?", murmelt Jerry irritiert.
"Sex, wenn er mich wirklich aufwühlen soll, bedeutet für mich, die Lage vollkommen ... zu dominieren. Nein, mehr noch: ich füge Schmerz zu ... ich verletze körperlich und das mit großem Genuss, verstehst Du? ... Und manches Mädchen reizt mich dazu."
"Das glaub ich nicht, ich nehme dir so etwas nicht ab ... hör auf, Tomas Mathoggi, spiel nicht den Sex-Maniac!" Außerdem denke ich, dass es kaum einen Mann gibt, der nicht hin und wieder beim Liebemachen mit solchen Vorstellungen jongliert. Man muss sie eben von der Realität trennen!"
"Wenn es bei mir nur so einfach wäre! Hör zu ... mir ist einmal eine Geschichte passiert ... ich war noch fast ein Kind ... ich weiß nicht, ob daher diese Triebe kommen. Seit Jahren sind die Bilder überstark, ich kann sie kaum zügeln ... Versteh mich recht ... ich verabscheue sie ..."
"Was willst du mir sagen?"

"Jerry, hör mich an, bitte. Als ich zwölf, dreizehn war, wohnte ich in Uruguay bei Verwandten auf einer Hazienda, wohin mich mein Vater für zwei Jahre geschickt hatte. Einmal in der Abenddämmerung komme ich auf einem Ausritt an der Siedlung der Arbeiter vorbei. Auf einem Platz inmitten dieser Wohnbuden höre ich ein heftiges Muhen. Es scheint mir lauter, erregter, sehr verschieden von den Tönen, die man sonst von den sanftmütigen Rindern gewohnt ist.
Am Rand der Arena, wo sonst die Bullenauktionen stattfinden, gerate ich in eine Meute gröhlender, schnapstrinkender Männer. Dann sehe ich das Kalb ... eine junge Kälbin ist es und sie ist mit den Vorderbeinen am Zaun angepflockt. Ein paar Gauchos haben sie in der Mangel. Jagen ihr ein ums andere Mal glühende Brandeisen ins aufdampfende Fell. Treiben ihr Blessuren in Hals, Stirn, Maul, aber auch in die Euter. Sie brennen eine Markierung neben die andere ins verbrannte, stinkende Fleisch, stechen mit Messern und Stäben auf das Tier ein, dass es aus lauter kleinen Wunden blutet.
Das Kalb bäumt sich. Wirft den Kopf herum, stößt um sich wie ein wilder Stier. Mit der Urgewalt eines gesunden, jungen Geschöpfes zerrt es an seinen Fesseln. Es begreift nichts. Gerät außer Rand und Band. Muht sich seine Tierseele aus dem Leib. Die besoffenen Männer machen in ihrem wüsten Treiben weiter. Sie rammen ihm Stöcke in den After, haben anscheinend darum gewettet, wie lange so ein Vieh das aushält ...

Die Branntweinbottel kreist, Witze werden gerissen. Die Kerle weiden sich am Schmerz der gefesselten Kreatur. Das Kälbchen brüllt. Torkelt. Wird wahnsinnig."
"Ja und? ... Mondo Cane ... die ganze Welt ist voller Greuel. Man kann nur eines tun ... sich rechtzeitig seine Überempfindlichkeit abgewöhnen", sagt Jerry.

"Mein Freund, ich KANN das nicht vergessen, vor allem deswegen nicht, weil ich als Neffe des Boss die Macht gehabt hätte, die Männer zum Einhalten zu zwingen und das Leben des Tieres zu retten ...
"Tom, du warst dreizehn!" Niemand hätte dir zugehört."
"Ich war schon ein Mann. Ich hätte diese verrohten Leute stoppen müssen. Statt dessen stehe ich daneben, schaue zu. Staunend ... ja ... aber vor allem ... behext ... aufs Äußerste interessiert. Gespannt. Und ICH bin nicht betrunken. Da ist ein seltsames Ziehen in meinen Eingeweiden. Ein neues Gefühl unbegreiflicher Erregtheit. Das steigert sich immer mehr. Bis es meinen ganzen Körper und das Hirn erfasst.

Am Schluss fängt das gefolterte Kälbchen an, mit Brust und Kopf zu kreisen, rollende Bewegungen zu machen. Wie ein Schiff, das von unbekannten feindlichen Wellen herumgewirbelt wird. Endlich bricht es auf den Vorderbeinen zusammen, sackt in die Knie.
Halb tot liegt es am Boden. Bietet kein Schauspiel mehr. Stiert aus glasigen, ergebenen Augen ins Leere. Da wird den Gauchos die Sache zu dumm. Einer schlägt dem jungen Tier mit einer Hacke über den Kopf. Mehrmals. Man schleift den reglosen Körper auf ein Lastauto. Dann trollen sie sich davon, zahnlückige, bärtige Gesellen, noch immer die Schnapsbotteln in den Händen ... Ich reite weg ... einfach so ... mache mich aus dem Staub.
Doch an diesem Abend war ich erregt wie nie im Leben.

"Mein Gott ... ja ... Tiere werden jeden Tag umgebracht und da es nun ..."
"Jerry, für mich war es ein einschneidendes Erlebnis ... Warum sie das getan haben, bekam ich nie heraus. Warum ich so fasziniert zusah, auch nicht. Es ist ein schönes, rotbraunes Kälbchen gewesen. Später habe ich das Erlebnis vergessen."

"Tom, dich trifft keine Schuld."

Es geht ja noch weiter ... denn dann werde ich aufmerksam auf diese Indio, diese Inkafrau. Auf der Hazienda fungiert sie als eine Art Haushälterin. Ihr Name ist Maria. Und ihr Bild ist weltenweit entfernt von allen Frauenbildern, die ich vorher gekannt habe. Maria ist nicht jung, über dreißig. Ich begehre sie, aber nicht auf respektvolle, romantische Weise wie man sagt, dass ein Jüngling eine Frau begehrt, wenn er verliebt ist. Ich möchte sie einfach nur nehmen, ich möchte sie rammen und stoßen, bis sie aufbrüllt, ich möchte ihr auch sonst wehtun, sie zum Heulen, zum Schreien bringen ... sie, die Sanfte, Undurchschaubare. ... Sie, mit den schwärzesten Knopfaugen der Welt und bis zur Hüfte hängenden, rabenschwarzen, dünnen Mädchenzöpfen, in die sie hellrote Bänder hineingeflochten hat. Mit Kleidung ist sie zugepackt bis zum Hals. Trägt all diese knöchellangen Röcke übereinander. Blusen, Westen, die ihre uneinschätzbare Figur zum wandelnden, leuchtfarbigen Textilbündel machen. Da ist immer etwas an ihr das klingt, klimpert, schellt: Armreifen. Glöckchen. Ihre Füße sind rot und auffallend klein. Sie läuft barfuß.
Ich sehne mich, wenn ich im Gras irgendwo in der Pampa liege, nach diesem Weib. Stets, wenn sie im Haus an mir vorbeigeht, blickt sie geheimnisvoll. Ich habe keine Ahnung, wie ich sie gewinnen könnte, bin ebenso starr vor Begierde wie vor Schüchternheit. Sie ist eine ernste, fast traurige Frau. Zu keinerlei Spielchen aufgelegt. Sie kommt mir keinen Schritt entgegen, obwohl es ihr auffallen muss, dass ihr ‚junger Herr‘ ständig wie ein Hündchen um sie herumstreicht. Es ist nicht, als ob ich ihr Liebe und Zärtlichkeit geben möchte, es ist einfach der Wunsch, sie zu unterjochen, in sie zu dringen, sie aufzuspießen unter all diesen komischen Röcken, ihr wehzutun, bis sie schreit, bis sie den mysteriösen, gleichmütigen Ausdruck endlich aus ihren Augen verliert. Ich möchte ihre Brüste verletzen, meine Zähne in ihre dunkelrote Haut schlagen.
In Wirklichkeit nähern wir uns einander nie. Sie hat auch einen Mann und Kinder weiter weg im Dorf ... Jerry, du siehst, wie verdorben ich damals schon bin ... sie ist die erste Frau, die ich sexuell begehre und ich denke ständig nur daran, ihr WEH ZU TUN, sie zu quälen ...
Maria hört dann irgendwann auf, für des Onkels Familie zu arbeiten und mein zweites ‚Liebesobjekt‘ tritt auf den Plan. Es ist meine bleiche, vornehme Cousine Camilla, die ich sogar schon küsse. Sie ist nicht ernst und kühl wie Maria, sie ist mir recht leidenschaftlich zugeneigt und sie wird dann auch das erste weibliche Wesen, mit dem ich ‚es‘ tue. Ich verstelle und verbiege mich sogar, gebe mich so sanft wie möglich und komme mir fast wie ein normaler, junger Mann vor ... Nur nachts im Traum kann ich die Gesichter der zwei so verschiedenen Frauen nicht mehr auseinanderhalten.

Der Onkel drängt auf Verlobung, die Cousine auch. Mir ist es jedoch so ernst nun wieder nicht ... Nein, nicht ganz so ernst. Nicht ernst genug, um zu heiraten. Zu Camilla bin ich zärtlich gewesen. aber sie war nicht meine große Liebe. Sie hinterließ kein unvergängliches Bild in mir.

Nach ihr habe ich andere Geliebte, darunter auch maria-artige Indianerinnen, mit denen ich meinen Wünschen schon mehr frönen kann, obwohl noch immer auf einigermaßen harmlose Weise ...

*

Mit siebzehn kehre ich nach Alexandria zurück und arbeite von da an, wie die meisten meiner Brüder, in einer unserer Export-Firmen. Ich denke, ich benehme mich nicht viel anders damals, als jeder junge Mann. Mit meinen Gefühlen ist fast alles im Lot, meine ich. Ich bin während der Zeit in Paraguay recht gut mit Frauen zurechtgekommen, bin stolz auf meine Männlichkeit, die bei ihnen gebührende Bewunderung gefunden hat und bin jetzt frei für Neues. Meine Geschichte ist also eine ganz normale, glaube ich damals noch ... Ich fühle mich inzwischen stark und jeder Lebenssituation gewachsen ... Hallo Alexandria ... mach auf deine Tore ... reich her deine schönen Töchter, hier komme ich, Tomas Mathoggi ... bereit für eine neue - diesmal eine perfekte - Liebe.
Aber die Mädchen, die in der Gesellschaft dieser Stadt wirklich etwas zählen, sind sehr behütet ... "
"Wie ich dich kenne, bist du mit deiner Sexgier bestimmt gleich auf die uneinnehmbarsten weiblichen Festungen losgestürmt", sagt Jerry locker. Er will scherzen.

"Na ja ... ich bin ziemlich beliebt damals ... werde überall herumgereicht als vielversprechender Sohn eines wohlhabenden Vaters. Und die Mädchen, denen mein Interesse gilt, sind tatsächlich von ihren Familien wie Festungen bewacht und für jede Annäherung, jedes erotische Spielchen natürlich tabu ... Eine solche kleine Prinzessin kann man nur dann haben, wenn man sie offiziell fürs ganze Leben einkauft ... also ... Heirat. Daran verschwende ich aber noch keinen Gedanken und mache deshalb auch keiner dieser kostbaren Schönen den Hof. Statt dessen gerate ich schnell an willige, aber nicht mehr freie Weibchen, an die Ehefrauen anderer Männer, an erfahrene Damen mit lockeren Sitten. Ein paar von ihnen bedrängen mich, machen mir klar ... na ja ... dass sie nicht abgeneigt wären und ... ich bin auch nicht abgeneigt. So ein Leben gefällt mir, ich fühle mich zwei Jahre lang königlich, schreite stolz wie ein Gockel umher. Ich bin neunzehn inzwischen. Habe längst herausgefunden, wo der Hase läuft und wie Frauen im Allgemeinen funktionieren."
"Du sahst zu der Zeit bestimmt schon sehr erwachsen aus?"
"Sie hielten mich alle für weit älter, als ich war. Auch für eiskalt und herzlos, was das weibliche Geschlecht jedoch anscheinend eher anzieht als abstößt."
"Kälte und Herzlosigkeit zieht an? ... Ob Frauen das bestätigen würden ... also ich weiß nicht", sagt Jerry.

"Freunde von mir verloben sich in dieser Zeit mit den goldenen Töchterchen aus besten Familien. Doch der eine oder andere schleicht - hinter dem Rücken der züchtigen Verlobten - zu einer Geliebten oder zu Huren. Für mich kommen weder eine Verlobung noch der Besuch irgendwelcher Bordelle in Frage. Ich hüte mich sehr vor den prüd-tuenden Jungfrauen - einige hatte ich auf meines Vaters Wunsch kennengelernt - diese Zickchen treiben mich mit ihrer schlau ausgespielten Enthaltsamkeit und ihren Hinhaltestrategien zur Weißglut. Selbst der unerfahrenste Verehrer spürt gleich ... sie wollen nur eins, einen armen Burschen geradewegs in die Ehe zerren. Dafür bin ich damals noch lange nicht bereit.
Natürlich verliebe auch ich mich. Heftig. In die Frau eines anderen. Sie ist fünf Jahre älter als ich. Für eine Affäre bin ich ihr gut genug. Eine Trennung von ihrem wohlsituierten Mann ( und notgedrungen dann auch den Kindern ) kommt für sie nicht in Frage. Was soll ich dir sagen, Jerry ... ich leide wie ein Hund. Ich glaube, diese Frau mit jeder Faser zu lieben, obwohl ich auch sie recht gewalttätig behandle. Vielleicht ist es am Ende doch nur ... Lust und Begierde gewesen ...
Ich suche mir schnell Ersatz . Ab und zu verrennt sich eine meiner Bettgefährtinnen in eine Art Liebeswahn, verfolgt mich mit Anhänglichkeit, Eifersucht, Drohungen. Dann hat sie ein Problem. Sie leidet. Alles in allem gehen die Geschichten nie gut und meistens auch nicht friedlich zu Ende.

Als ich dreiundzwanzig bin, habe ich schon alle erdenklichen Erfahrungen gemacht. Die souveränen, sich fessellos und emanzipiert gebenden Damen fangen an, mich abzustoßen, sie, die einem ihren Sex und ihre Wünsche wie Peitschenhiebe um die Ohren schlagen. Im Inneren geht es mir schlecht ... Je mehr ich mich mit Abgebrühten einlasse, desto mehr fange ich an, mich nach einem reinen Mädchen zu sehnen. So eine bekommt man in meiner Gesellschaftsschicht Alexandrias OHNE Heirat nicht ins Bett. Statt dessen hole ich mir jetzt junge Geliebte aus freizügiger denkenden Kreisen der Stadt, aus Familien, in denen man die Unberührtheit der ledigen Töchter nicht als größten Schatz auf die Fahnen schreibt und wie ein Banner vor sich herträgt. Tolerante und dennoch passable Familien gibt es auch genug im Völkergemisch Alexandrias. Und ihre süßen, lebenslustigen Töchterchen sind für mich ein lockerer, passender Umgang ...

Dann stelle ich irgendwann erstaunt fest, dass meine dunklen Wünsche noch immer oder schon wieder mein Denken bestimmen. Ich bin anders als die gleichaltrigen Freunde. Wenn ein Mädchen sie fasziniert und sie ihm den Hof machen, geben sie sich hin, verschenken, verströmen sich. Ihr ganzes Herz, ihren Besitz wollen sie der Angebeteten zu Füßen legen ... sie schreiben zärtliche Gedichte, lesen ihr jeden Wunsch von den Augen. Mir fehlen solche feierlichen Gefühle. Nein, ich liebe nicht. Ich übe Sex aus. Jetzt kommt das Unbegreifliche ... ich habe für diese Frauen bald weder positive noch negative Gefühle, sehe nur die Körper und genieße sie – bis zu einem gewissen Grad. Denn keines der jungen Dinger, keines dieser Leichtgewichte, mit denen man so locker schlafen kann, kommt für meine verborgenen Wünsche in Frage. Zu sehr ist ihr Leben eingebettet in den Schutz, in die Aufsicht ihrer Clans. Ein Rattenschwanz von Brüdern und Onkeln wogt ständig um sie herum, wacht zwar nicht mehr über die schon vor meiner Zeit verlorene Jungfräulichkeit, aber noch immer über das Wohlergehen und die Zukunftsaussichten der gefährdeten Schönen. Verstehst du mich, Jerry ... also auch mit den ‚sündigeren‘ Mädchen kann ich nicht ausleben, wozu es mich treibt."

"O je, du bist tatsächlich ein armes, gebeuteltes Wesen!"
"Ja, mach dich ruhig über mich lustig! Also ... am Anfang liefen meine Gedanken weniger auf körperliche Peinigung hinaus, als auf vage, subtile, vollständige Übernahme. So fing es an. Ich wollte die jeweilige Frau ganz und gar ... geistig und seelisch besitzen ... aber dann .... Du hast mich damals nicht gekannt, Jerry, mit zweiundzwanzig ist mir mein Leben bereits aus den Fugen geraten, da hatten schon die Gewaltvorstellungen von mir Besitz ergriffen. Ich MUSSTE Frauen körperliche Schmerzen zufügen und je jünger, je verletzbarer sie waren, desto mehr erschien mir die Befriedigung dieser Wünsche wie der Höhepunkt des Glücks, den es zu erreichen galt. Quälen schien mir als höchste Lust. Ich hatte aber meine Vorstellungen - abgesehen von ein paar minderen Entgleisungen - im wahren Leben bisher nie wirklich realisiert.
Doch der Drang wurde stärker. Da mir Huren nicht passten und die wertvollen Töchter der Stadt sehr behütet waren, versuchte ich es mit AUSLÄNDERINNEN. Ich frequentierte Touristenbars und die Hochburgen unseres Fremdenverkehrs. Auch da ... eigentlich ein voller Erfolg ... ins Bett bekam ich die meisten, auf die ich es abgesehen hatte. Meine Bedürfnisse konnte ich auch bei ihnen nicht stillen. Und ich hielt mich zurück. Meine wahre Art 'Lovemaking' hätte bestimmt keiner dieser Hübschen in den Kram gepasst. Doch manchmal traf ich auf eine, die geradezu für meine Wünsche prädestiniert schien ... man spürt das ... aber da war ich eisern, bewahrte Disziplin, denn selbst eine ohne männlichen Begleiter reisende Frau ist nie ganz allein, immer hocken irgendwelche Ferienbekannte in ihrer Nähe herum oder eine Gruppe von Landsleuten wartet gleich um die Ecke. Am Ende würde eine jede, mit der ich mich gehen ließ, die Kennzeichen meiner Betätigung sichtbar am Leib tragen und dann womöglich auch noch plaudern. Das, wozu meine Wünsche mich treiben, würde man selbst in der tolerantesten Gesellschaft furchtbar verurteilen ... Aber ... ‚Begierden zu haben, heißt noch lange nicht, ihnen auch bis zum letzten nachzugeben, beruhige ich mich selbst. Ich weiß, ich besitze Willenskraft ... ich werde nie weiter gehen, als erlaubt ist!

Aber ich gerate tatsächlich langsam und schleichend auf eine steil abfallende Straße, sehe kein Ende dieser Talfahrt. Wie ein Aussätziger jage ich nachts durch die Kneipen, wie ein verdammter Wolf auf der Suche nach Beute, nach einem Objekt für meine Fantastereien ... Schön soll sie sein, irgendwie lieblich, nur ja nicht verkommen, dazu sensibel, verletzbar und NICHT gefügig. Noch etwas ist dazugekommen ... erwachsene Frauen reizen mich kaum mehr ... ich fange an, mich nach immer jüngeren Geschöpfen umzusehen ...

Zuletzt wende ich mich dann doch an Zuhälter. Prostituierte würden eben tatsächlich die einzigen sein, bei denen ich ohne Konsequenzen meine Triebe würde ausleben können. Eine MINDERJÄHRIGE Hure sollten sie mir beschaffen ... und wenn schon ... warum dann nicht gleich eine Zwölf-, Dreizehnjährige?
Die Luden in Alexandria wehren empört ab: mit Kindern handeln sie nicht, da sei Gott vor. Sie sind gesetzestreue Leute! Man gibt mir aber Hinweise, wo ich mir vielleicht ein solches Kleinod kaufen kann ... in einem zwielichtigen Waisenhaus ... oder bei drogenkranken Eltern.
"Nein, nein!" Vor solchem Tun schrecke ich zurück ...

Irgendwann vertraue ich mich einer Bordellbesitzerin an. Natürlich hielten sie keine minderjährigen Mädchen in ihrem Etablissement ... aber wozu sei denn die Fantasie da ... sagt Madame und meint: "Lassen sie mich nur machen." Man trimmt also recht junge Nutten mit Hilfe von Kleidung und Verhalten auf Unschuld. Die puren Lolitas. Die infantilst wirkenden Geschöpfe, die sie auftreiben können, werden für mich besorgt.
Die erste gefällt mir nicht schlecht, die zweite schon sehr. Keines dieser Geschöpfe ist natürlich so naiv, so rein, wie ich es mir erträume. Ich weiß nicht, sind es Masochistinnen oder nur zwanzigjährige Komödiantinnen, die kindlich angezogen und zurechtgemacht, sich für Mammon aufführen wie gemarterte Unschuldsengel ... Theaterreif. Sie leiden auch wirklich. Ich heize ihnen ganz schön ein. Binde sie und peitsche sie bis aufs Blut. Ihre Brüste bearbeite ich mit heißen Wachstropfen oder Zigarettenglut. Ich liebe es, mit meinem kleinen Messer Haut zu ritzen, nur bis zu einem gewissen Grad natürlich, aber mit unerbittlicher Konsequenz. Ich ramme ihnen meinen Schwanz in die kleinen Mösen, in die Ärsche, dass sie vor Schmerz toben. Gebe nicht auf, bis ich sie trotz ihres Widerstands zum Höhepunkt bringe, zu einem wütend herausgeschrienen oder schluchzenden, aufgelösten Orgasmus. Das ist mein Triumph.

Lange geht so etwas nicht gut. Die Halbweltherrscher, die die Fäden in Händen halten, an denen diese Puppen tanzen, fühlen sich für sie verantwortlich. So Hübsche und vielseitig Einsetzbare sind ein kostbarer Besitz. Da wird dann schnell die Notbremse gezogen, und leider immer gerade dann, wenn ich anfange, die Sache wahrhaft zu genießen. Denn mehr als geringfügig lädiert darf die wertvolle Ware nicht aus dem Spiel hervorgehen".
"Jetzt graut mir wirklich vor dir, Tomas."
"Etwas Neues kommt dazu ... langsam steigt in mir die Angst, dass sie eines Tages meinen Vater für meine Sünden belangen werden. Sie haben schon Andeutungen gemacht ... Ich bin abhängig von einer Organisation, die meine Schwäche kennt und ausnutzt ... was wird sein, wenn man an die Brüder herantritt ... Niemand in unserer Familie ahnt mein Laster. Die Rotlichttypen tun von Tag zu Tag vertraulicher. Man hat längst Erkundigungen über uns eingeholt. Man weiß alles. Die Bordellbesitzer verlangen immer mehr Geld von mir ... für meine Perversionen..
Ich kann nicht so weitermachen. Meine Selbstachtung nimmt von Tag zu Tag ab. Ich sehe mich selbst mehr und mehr als zerrissenen, von einem unbegreiflichen Schicksal Gebeutelten. Ich bin wütend. Ich muss das alles überwinden. Ich beobachte meine Triebe mit größter Feindseligkeit. Ich werde mich zusammenreißen. Mich ändern.
Dann, wie durch ein Wunder, treffe ich sie, die ... Retterin ... Alia. Auf einer Hochzeitsfeier begegnet sie mir, die Schwester der Braut. Ihre Schönheit trifft mich wie ein Blitz. Coup de foudre. Ich lasse nichts unversucht, sie zu gewinnen. Solch großer Anstrengung hätte es nicht einmal bedurft, denn wie Julia dem Romeo, so fällt sie mir zu, mit der gleichen brennenden Liebe zu mir, die ich für sie empfinde. Und als ich sie erstaunlich schnell im Bett habe und besitze, eigentlich viel zu schnell, da ist die Geschichte für mich nicht zu Ende ... Nicht nur, dass ich Alia weiterhin begehre wie keine andere, sie wird tatsächlich für mich das Liebste auf Erden. Sie ist fast noch ein Kind, als ich sie kennenlerne, vierzehn ... ist eines der reinen, unberührten Geschöpfe, von denen ich immer geträumt habe. Alia ist Mohammedanerin, ein musikalisch und literarisch gebildetes, vielleicht hochbegabtes, ein ernstes und zärtliches Mädchen. An Schönheit eine wahre Perle der Stadt. Ich bin fast wunschlos glücklich. Dabei war sie so erstaunlich leicht zu verführen. Sie sagte, es sei ihr Schicksal gewesen, mich kennenzulernen. Ihre anerzogene Moral wirft die strenggehaltene Moslemtochter schnell über Bord. Das heißt, sie gibt sich mir ganz und ohne einen Gedanken an Eheschließung, hin. Was auf eine romantische, selbstlose und wunderbare Seele deutet, aber keine sehr kluge Sache ist für eine minderjährige Tochter aus streng islamischer Familie. Nun bin ich es, der auf Heirat drängt. Ich werde dieses Mädchens offensichtlich nicht überdrüssig. Ernst ist es mir seit Jahren mit keiner gewesen. Doch mit ihr könnte es mir nicht ernster sein. Sie wird mir immer unentbehrlicher, je länger und ausschließlicher wir zusammen sind.
Mein Vater ist entzückt von ihr, meine Brüder beneiden mich. Der Termin für eine großartige Hochzeit wird festgelegt.
Und dann ... schon in der Verlobungszeit geschehen hin und wieder ... jene Auswüchse, die ich längst überwunden zu haben glaubte. Sie erträgt meine extravaganten, aber noch relativ harmlosen Liebespraktiken mit wachsendem Staunen. Sie lehnt sich nicht auf. Sie liebt mich offensichtlich und erträgt mich aus Liebe, denke ich. Sie unterwirft sich meinen Wünschen. Noch halte ich Grenzen ein. Sie ist unerfahren. Was ich mit ihr treibe, ist unser beider dunkles Geheimnis.
Später wirkt sie bedrückt. Eines ist sicher: sie teilt meine Leidenschaft für diese Spiele nicht ... und das drängt mich dazu, Dinge gegen ihren Willen zu tun. Eines Tages brechen die Wünsche so stark auf wie früher und spülen die mühsam erzwungene Disziplin davon. Ich vergesse Zukunft und Aussicht auf eine zufriedene Ehe. Da ergreift es mich wieder, das Unfassbare, das stärker ist als der Wille ... Ich kann mich dessen nicht erwehren. Ich wage dir kaum zu sagen, Jerry, was ich alles mit ihr gemacht habe. Ich weiß es nicht mehr, ich war in einem Rausch, ich war außer mir. Ich habe das arme Kind geknebelt, auf dem Bauch liegend auf dem Bett fixiert, Hand und Fußgelenke an den vier Seitenpfosten festgebunden. Ich habe sie heftig gepeitscht und gewaltsam genommen ... Ich habe sie absichtlich verletzt und immer wieder wütend genommen ... und dann war da die Gier, sie noch mehr zu peinigen, noch sichtbarere Spuren an ihr zu hinterlassen ... Jerry, sie hätte tot sein können, wenn ich noch ein wenig mehr ausgerastet wäre.
Alia rettet sich. Blutbesudelt. Als ich sie halten, einsperren will, tobt sie wie eine Verrückte los und flüchtet schreiend zur Terrassentür hinaus ... Ich begreife nicht, warum ich es tat ... ich schwöre dir, Jerry, es war nicht ich, der handelte, es war eine dunkle Macht, außerhalb meiner, die mich zwang."
"O Gott ... du bist tatsächlich pervers."

Ich verkroch mich wie ein Tier. Tage später nahm ich alle Kraft zusammen, leistete Abbitte bei Alias Vater, ihrer Mutter. Bot eiserne Selbstkontrolle an und Besserung, beschwor meine unveränderte Liebe zu dem Mädchen. Aus Liebe zu ihr, aus Verzweiflung warf ich meinen Stolz über Bord, wurde zum büßenden armen Sünder und ... erntete nichts als Abscheu.
Es wird danach nie mehr über das Geschehene gesprochen. Mein Vater leistet Alias Familie Wiedergutmachung, bereinigt die Sache mit Geld. Bei keinem anderen ihrer Söhne sei eine solch böse Neigung durchgebrochen, schluchzt meine Mutter und jammert, sie wolle von da an jeden Tag für mich beten. Die Absage der Hochzeit in letzter Minute hat unsere Familie in einen Zustand der Schande versetzt. Inwieweit außer meinen und Alias Eltern noch jemand die WAHREN Gründe kennt, weiß ich nicht. Vielleicht schweigen Alias Leute auch wie das Grab. Ich weiß es nicht. Ich bin der Aussatz auf dem Angesicht der Erde. So zumindest empfinde ich mich. Es ist, als ob meine Schande vor ganz Alexandria offen zu Tage läge. In Wirklichkeit wissen wahrscheinlich nur ein paar Eingeweihte davon.
Die Hoffnung, durch Alia doch noch mein Liebesleben in verhältnismäßig normale Bahnen zu lenken und uns ein Lebensglück zu sichern, ist zunichte. Ein Jahr später schon heiratet sie. Einen guten Mann, heißt es. Meine Erniedrigung ist unsagbar. In einer Zeitung sehe ich Fotos von den Trauungsfeierlichkeiten. Alia wirkt strahlend, gelöst, so etwas kann man nicht spielen, ich kenne ihre Augen genau, ihre Augen verbergen nichts ... sie ist verliebt. Verliebt in den neuen Mann. Was für ein Verrat an unserer Vereinigung. Es bringt mich fast um ...
Ich bitte daraufhin meinen Vater, die Stadt verlassen zu dürfen. Man schickt mich auf Reisen. Und der Vater teilt mir dich als Bewacher zu. Alles andere kennst du ja ...

"Tomas, ich weiß nicht, wie ich mit dieser Sache jetzt umgehen soll ..."
"Hör zu ... jetzt musst du auch das Letzte noch wissen: als ich das deutsche Mädchen zum erstenmal sah am Anlegeplatz der Fähren am Piräus, stiegen gleich wieder die Bilder in mir auf ... du weißt schon. Ich kann diese Bilder eine Weile unterdrücken, doch sind sie ständig latent in mir ... wo immer ich gehe. Und ich habe dieses Mädchen vom ersten Augenblick an mit ihnen in Verbindung gebracht."
"Aber warum gerade sie. Ich meine, du hast es doch bei Elena, Anne und Mary auch auf normale Art geschafft. Sie haben jedenfalls nichts an deinen Liebespraktiken bemäkelt ... "
"Du verstehst NICHTS , Jerry! Diese Frauen waren beschützt. Hatten Angehörige und Freunde in der Nähe. Ich hätte mich einer Gefahr ausgesetzt. Auch weckten sie keine derartige Gier in mir ... vielleicht sind sie zu ... selbstbewusst gewesen. Aber als ich die Kleine an jenem Morgen sehe, spüre ich sofort: mit ihr ist mir vielleicht ein passendes Objekt zur Erfüllung meiner Wünsche über den Weg gelaufen. Ich denke: diesmal stehen die Chancen gut. Besser als sonst. Sie scheint mutterseelenallein zu reisen. Auch gefällt sie mir, was ihr Äußeres betrifft. Sie kommt sogar dem Typ des potentiellen Opfers sehr nah, wie es mir in den Fantasien vorschwebt."

Jerry erinnert sich. Er hatte vage geahnt, dass schon in den ersten Tagen ihres Zusammenseins mit dem Mädchen sich im Denken seines Gefährten Sonderbares angebahnt hatte. Er wundert sich nun nicht mehr, warum Tom, entgegen seiner sonstigen Gelassenheit in Weiberdingen, plötzlich mit so düsterem, schuldbewusstem Gesicht hinter dieser jungen Deutschen her war.. Nein, Verliebtheit war es nicht, das konnte man spüren. Es war etwas anderes. Nur hatte er zu der Zeit nicht gewusst ...
"Glaub mir, mein Freund, es bricht mir damals der Angstschweiß aus, als wir sie beim Schiffskartenschalter anreden. Ich habe Furcht, dass sie gleich wieder wie eine Fata Morgana verschwinden könnte. Wirre Gedanken streifen mein Hirn. Natürlich ist die kein Kind mehr und sie hat auch nicht Alias Zauber ... aber sie ist ... kindlich. Eine, die sich kaum zurechzufinden scheint. Sie hat etwas Hilfloses an sich, verhält sich oft eigentümlich ... kommt es dir nicht auch so vor, Jerry ... sie stolpert, symbolisch gesehen, ständig über die eigenen Füße. Nicht bloß dass sie allein über die Inseln reist, sie scheint überhaupt allein. Irgendwie durch alle Raster gefallen ... Dabei ist sie ein hübsches Ding. Viel bescheidener, als es ihrem Aussehen und ihrer Liebenswürdigkeit entspricht. Mehr ernst als kokett. Ein kleines Nervenbündel. Immer ein bisschen atemlos. Eine, die es nicht einmal schafft, ohne Zittern und Beben durch ein halbbesetztes Restaurant zu gehen ... sie strahlt Naivität und Schwäche aus, dann wieder Stolz, ja ... - beachtlich, wie konsequent sie sich auch gegen deine Annäherungsversuche gewehrt hat ... ich möchte sie ... o mein Gott ... ich möchte sie aufwühlen, zum Schreien, zum Brüllen bringen ... "

"Sonderbar was du alles in dieses einfache Ding hineinsiehst!", sagt Jerry verwirrt.

"Aber du musst doch zugeben, etwas ist kurios an der Kleinen, irgendetwas stimmt nicht mit ihr! Dieses Mädchen ist vielleicht nicht ganz ... Ich meine, sie ist nicht recht bei Trost? Was denkst du?"
Jerry zuckt die Achseln. "Bei Ausländerinnen weiß man ja nie ... ", sagt er orakelhaft.
"Würdest du es eventuell verstehen, mein Freund" fragt Tomas, "wenn ich mit diesem Mädchen ... ? Ich habe bestimmt nichts Drastisches mit ihr vor, nichts, was sie wirklich gefährden könnte ... also ... sie wäre für ... meine Bedürfnisse ... geeignet. Meinst du, es wäre möglich ... ? "
"Was willst du mir sagen? Ich werde langsam wütend!"
"Ich fürchte, sie ist verliebt in DICH", sagt Tomas. Doch du bist nicht wirklich interessiert, oder? Wärest du mir böse, wenn ich ..?"
Jerry zuckt die Achseln.
"Du gibst mir also grünes Licht ... hast Verständnis für meine prekäre Lage?"
"Ich möchte dein Gerede noch immer für ein Joke halten ... kann es aber zunehmend weniger!"
" Jerry ... eines verspreche ich dir ... ich werde dieser Kleinen nichts wirklich Schlimmes antun und du kannst eingreifen, wenn ich die Kontrolle verlieren sollte. Du bist hier mein einziger Freund, mein Vertrauter, bleib es auch, ich bitte dich."

Jerry ist neugierig, ist interessiert, zu sehen, was der andere tun wird. Nein, er wird Tomas Mathoggi gewähren lassen.
So kommt es, dass sich die drei irgendwann auf der sommerlichen Terasse hoch über Paros wiederfinden.

*



14
DAS DESASTER

Minou, wie sie nun nackt auf der Erde liegt, findet sich plötzlich in einer Lage, an die sie nicht hat denken wollen. Nie hätte sie geglaubt, dass Tom und Jerry so etwas mit IHR machen würden. Gerade von diesen beiden Männern respektiert zu werden, war ihr so sehr wichtig gewesen. Und sie hatte so sehr darauf gebaut, je mehr sie sich kannten und alles so harmonisch zwischen ihnen war. In diesem warmen Gefühl, von ihnen ‚geachtet‘ zu werden, hatte sie sich gesonnt. Die große Scham, die Enttäuschung, Erniedrigung die sie jetzt empfindet, lässt sie taumelig werden. Für wie wertlos und armselig müssen sie sie halten, um ihr das anzutun? Ihre Seele ist in einen Abgrund gestürzt.

Dennoch ... ich habe es ja nicht mit Monstern zu tun ... nur mit Freunden, die ich seit Monaten kenne, mit denen ich immer hab reden können, denkt sie. Dass sie nicht ‚unberührt‘ davonkommen wird, ist ihr im Angesicht der Situation klar. Aber es ist ja nicht das Schrecklichste auf der Welt, von zwei jungen, gutaussehenden, kultivierten Männern ‚genommen‘ zu werden ... Hatte sie nicht in letzter Zeit ... zumindest von Jerry als Sexpartner ohnehin geträumt? Sie musste doch ehrlich sein ...

Dass sie für die beiden irgend ein Objekt ist und als Person nicht mehr zählt, wird ihr schon eine Minute später grausam klar, denn jetzt wird sie, die mit dem Gesicht ins Gras Gedrückte, von gierigen Händen gepackt.



Einer der Männer reißt sie an den Hüften in die Höhe. Hält sie im Stehen fest. Dieser eine geht aufs Ganze. Heimtückisch und von hinterrücks. Nicht einmal Augenkontakt gönnt er ihr. Sein Schwanz schafft es zuerst nicht, in Minous Scheide zu dringen. Sein Schwanz ist zu groß für sie. Am Ende geht so etwas doch. Mit Brachialgewalt. Mit brutalen Stößen, Verletzungen. Kein Wort, keinen Laut sagt der, der es tut. . Bei den Hüften gepackt, hält der Mann sie fest. Ihr Gewebe zerfetzt er. Reißt es auf wie ein Keil.

Sie spürt NUR Pein. Lust nicht. Sein Schwanz wütet in ihr. Bläut ihr seinen Rhythmus in ihre Scheidenwände. Und den reißenden Schmerz. Der Mann dringt tief: Gebärmutter? Muttermund? In ihren weiblichen Kern, denkt sie. Sie fühlt nichts, als hundsgemeine, dreckigste Pein. Dass ihr Hören und Sehen vergeht. Sie brüllt wie am Spieß. Hört erstaunt wie ihr eigenes Gebrüll aus ihrem eigenen Bauch heraufbricht. Von tief unten. Bei jedem seiner wütenden, genau berechneten Stöße. Wasser stürzt ihr aus Augen und Nase.

Als der Mann fertig ist, wirft er sie mit einem kleinen Schubs auf den Boden. Da liegt sie. Spermarinnend. Fortgeschmissen.

Jetzt sieht Minou: es ist Tom gewesen. Er tritt zur Seite. Zippt sich die Jeans zu. Steckt ein weißes Taschentuch weg.

Und Jerry? Der war dabei. Der war dabei. Der hat sie vielleicht sogar mit festgehalten.. Wie kann denn das wahr sein, dass Jerry mit im bösen Spiel ist.... er, für den sie von Tag zu Tag mehr Wärme gefühlt hat... Dass der gemeinsame Sache macht mit dem anderen!

Tom steht jetzt bei seinem Maultier, nimmt eine Zigarette aus der Packung. Zündet sie an. Raucht. Nicht einmal die Hose hatte er heruntergelassen bei der Prozedur. Er sieht aus wie immer. Minou schluchzt. Keiner der Männer sieht zu ihr her.

"O nein, ich bin noch nicht mit dir fertig", sagt Tom, als sie, vollkommen aus der Fassung, aufsteht und linkisch versucht, ihre Kleider zusammenzusuchen. Er packt sie wieder bei den Hüften, drückt sie nieder, dass sie auf alle viere zu kriechen kommt wie ein Vieh ... und dann ...

Später ist Jerry bei ihr und reißt sie wieder hoch auf die Füße. Er presst sie in seine Arme. Ihr Gesicht an seine weiße Hemdbrust gedrückt.
"Halte sie fest!", hatte Tomas ihm befohlen.

"Sei doch DU wenigstens fair zu mir, ich hab immer gemeint, du hättest mich gern", weint sie und bebt.

Doch Jerry steht nicht auf ihrer Seite:
"Schweig, Mädchen, es hat keinen Sinn!"
"Bleib ruhig Kleine, durch dein Gezappel änderst du überhaupt nichts", sagt Tomas, den sie wieder hinter sich spürt.

Jerry bietet nun seinem Kumpan Minous Rückseite dar. Genau in der richtigen Position hält er ihren Körper. So dass sie sich keinen Zentimeter wegrühren kann. So wie Tom sie haben will.
"Warum tue ich das? Keine Ahnung...ich mache es für Tom", denkt Jerry.
Das inzwischen total verwirrte Ding hört nicht auf von Freundschaft und Fairness zu labern. Da verschließt Jerry ihren Mund mit einem Kuss. Das wird sie nachher am Schreien und Herumlamentieren hindern ...

Tom sucht sich eine erste Stelle aus für seine Prozedur. Auf ihrem Rückgrat wird er mit der glühenden Zigarettenkippe beginnen. Dort in der Mitte, wo alle Nervenstränge zusammenlaufen. Wo sie es am meisten spüren wird. Das Mädchen sieht von rückwärts schmal aus wie ein Schulkind. Eines von der zerbrechlichen Sorte, die er bevorzugt. Wie dicke, aufgereihte Perlen einer Kette springen ihre Wirbel hervor ... Er freut sich auf das Kommende: Ihr Aufbäumen, ihr Sich-Wehren. Ihre Schreie. Er giert danach ...

Langsam und genüsslich lässt er es angehen. Tom tupft jetzt ein paar Male leicht mit der Glut auf die Oberfläche ihrer Haut. Die lupendünnen Härchen verschmoren. Er weiß, das ist noch nicht wirklich schlimm für das Mädchen. Das verursacht noch kaum Schmerz.
Die Kleine hat anscheinend keinen Schimmer, was hinter ihrem Rücken geschieht. Sie dürfte nur ein geringes Kitzeln spüren, am Anfang - sie sieht ja nichts, weil Jerry ihr Gesicht an seine Brust presst. Tom drückt stärker zu. Jetzt muss sie schon ein Jucken spüren, ein Ziehen. Schmerz. Verzweifelt versucht sie nun, die Arme frei zu bekommen, um das, was sie da quält, wegzureißen aus ihrem Fleisch, aber Jerry hält sie eisern wie im Schraubstock. Es nützt ihr nichts.

Tom vertieft den Druck der Zigarette.
Da schreit sie los.
Er presst die Zigarette so lange in ihr Fleisch, bis die Glut ausgedrückt ist. Dann zündet er wieder eine neue an, drückt sie in die nächste Stelle. Und die nächste.
Das Mädchen brüllt.
Nun scheint der Schmerz sie voll gepackt zu haben. Bis hinein in die Knochen. Dann nimmt sie wohl den Geruch verbrannten Fleisches wahr, ihres eigenen. Sie sackt in den Knien zusammen: "Hilfe!"
Jerry reißt sie wieder hoch auf die Beine, sagt: "Ist ja vorbei!"

Minou schöpft Atem.
Aber nein. Jetzt fährt neue, glühende Pein in ihren Rücken. Der Schock. Und das fiese Winseln in ihren Ohren. Winseln wie von einem geprügelten Hund. Da merkt sie: es kommt aus ihr selbst ...
Jerry aber tut zu ihrer Rettung NICHTS. Sondern hält sie eisern eingepresst in seine Arme. Ein Handlanger für Tom.

Später, als sie wieder etwas weiß, liegt Minou auf der Erde und fühlt sich seltsam. Wie eine verrenkte Puppe. Sie schreit nicht mehr. Da ist das Klebrige. Die Flüssigkeit, die aus ihr fließt, läuft ihre Schenkel herunter. Mein Blut, denkt sie. Wütender Schmerz rast durch ihren Leib ... es kann deshalb nur Blut sein. Hinlangen mag sie nicht. Sie ist zu matt. Ich bin vergewaltigt worden ... nein ... zerrissen ... gebranntmarkt! In ihrem Hirn rotieren die Bilder und Übelkeit ... Übelkeit

Einer der Männer hebt sie hoch. Trägt sie dorthin, wo die Reittiere sind. Der andere bringt Minous Kleider. Auf die Wolldecke legen sie sie. In den Schatten des Baumes. Ihren Rock kann sie sich noch heranziehen. Rafft ihn über ihre Blöße. Es ist auf einmal, als ob sie weit weg wäre. Sie weiß: Das bin nicht ich, die hier liegt. Sie denkt: das ist eine fremde Person.

Jerry steht jetzt bei seinem Maultier. Raucht.
Normal sehen die zwei Männer aus. Ihre Kleidung unzerknittert. DAS ist es, was ihr auffällt. Sie wirken wie immer. Als wäre nichts Böses gewesen.

Tom hebt jetzt Minous Kopf an. Drückt ihr einen Becher an den Mund. Wortlos. Wein. Er will, dass sie den Wein trinkt. Sie mag nicht. "Los, trink!" Sie trinkt ein bisschen.
"Trink aus", befiehlt er. "Das wird dir gut tun!" Nur mit Mühe behält ihr Magen den Wein bei sich. Er steckt ihr seine Zigarette zwischen die Lippen. Sie raucht. Die Zigarette schmeckt abscheulich. Nach einem Zug lässt sie sie aus dem Mund fallen.


Minou sieht auf einmal Ihre Brüste. Auf die sie immer stolz war. Sie werden nie mehr in Ordnung kommen: sind verschwollene Hässlichkeiten, abstoßend, kaputt. Mit Biss- und Zigarettenwunden besät. Und dann ein langer, blutiger Schnitt wie ein roter Faden ... den hat Tom - sie erinnert sich trüb - mit einem Messer geritzt, das ihm Jerry aber wütend weggerissen hat.
Sie sind beide verrückt. Ich habe es mit zwei Irren zu tun, denkt sie und fällt wieder in das schwarze Loch.

*


" Du hörst jetzt mit deinem Scheiß auf", brüllt Jerry. "Sie ist ohnmächtig. Wir können froh sein, wenn sie es halbwegs überlebt. Nun ist Schluss! Schluss!"
"Nein, nicht ganz ... ich habe meine Bedürfnisse ..."
"Tomas ... du bist krank!"
"Ich will doch diesem Mädchen nichts wirklich Böses. Nur eines noch ... ich kann nicht anders ... Schau dir ihren Po an ... der schreit geradezu nach Penetration. Ich könnte wetten ... eines hat ihr sizilianischer Galan ihr nicht verpasst, einen richtig guten Arschfick. mit allem Drum und Dran ... den wird sie jetzt von mir ..."

Ungefähr zu dem Zeitpunkt kommt die Kleine zu sich.
"Mir ist schlecht, ich will weg hier, bitte!", jammert sie.
"Du hast zuviel geschrien. Wenn eine so viel schreit, muss es ihr ja schlecht werden", sagt Tomas. "Aber das soll dir nicht noch einmal passieren. Ich werde jetzt etwas in deinen Mund stopfen. Danach wirst du schön brav und ganz ruhig sein ... "
Er knautscht eine Papierserviette zusammen.
Sie wehrt sich - kraftlos.
Da hält er ihr die Nase kurz zu, bis sie den Mund öffnet.
Er presst ihr das Ding zwischen die Zähne.
Hat plötzlich einen Streifen Leukoplast in der Hand ...

"Bist du jetzt ganz wahnsinnig geworden", brüllt Jerry.
"Es sieht schlimmer aus, als es ist", murmelt Tomas und lächelt ein kurzes Lächeln.
Jerry ist angewidert, aber auch kopflos. Er steht auf der Gehaltsliste Mathoggis oder zumindest auf der seines Vaters. Was, wenn sie ihn feuern?

"Du Perverser ... willst du sie umbringen oder was?", ist alles, was er sagt.

Minou ist verraten und verkauft. Da spürt sie den Männerkörper, der sich brüllend, stöhnend über sie wirft. So schwer, so wütend.... das Rückgrat wird er ihr brechen. Da geschieht alles zur gleichen Zeit. Jetzt gibt es kein Zappeln, kein Aufbäumen mehr. Sie ist festgehalten wie in Klammern aus Stahl. Ihre Glieder niedergepresst, gelähmt, dass sie den heimtückischen Stößen nicht entgeht, ihren lustsüchtigen, keuchenden Folterer kann sie nicht abwerfen. Es ist sein Schwanz, groß wie die Welt, mit dem er sie innen drin mit wahnsinnigen Stößen zerfetzt. Der rammt sich tief in ihre Gedärme hinein. Reißt sie auseinander. Wird ihren Bauch zum Bersten bringen. So etwas darf man keinem Menschenkind antun. Er tobt in ihren Eingeweiden, dass sie sich vor Qual nach oben und unten entleeren müssen. Dass sie am eigenen Erbrochenen ersticken wird, während sie den Knebel im Mund hat und der Missetäter vor Lust brüllt, fortfährt, sie innen drin zu zerfetzen. Hineinstößt in ihre Lebensmitte. Rot, glutheiß und wie blitzende Messer. Er hört nicht auf. Er hört nicht auf... .... Dann weiß sie nichts mehr.


*


Irgendwann nachher liegt sie im Gras.
Frei.
Keiner hält sie fest. Sie spürt keinen Schmerz.
Nichts spürt sie, nichts.
"Hilfe"
Ist sie tot oder stirbt sie gerade?
"Hilfe.
Lieber Gott!"
Etwas stimmt hier nicht, etwas stimmt hier nicht !
"Mama, Mama !"
Da sieht sie, dass die zwei Männer, die sich gerade entfernen, ganz normal aussehen.

Tomas reitet weg, einfach so ...
Jerry steht noch beim Mulo und ist dabei, aufzusteigen.
Das können die doch nicht machen, das können die doch nicht machen, sie alleinlassen, sie alleinlassen, jetzt wo sie stirbt.

Sie versucht, Jerry entgegenzukriechen. Aber es geht nicht.
Jerry kommt mit zögernden Schritten näher. Bleibt auf halbem Weg stehen. Macht sich wieder in Richtung seines Tieres davon. Dann kehrt er doch um. Fasst sie vorsichtig beim Haar. Zieht ihren Kopf hoch. Er blickt ihr ins Gesicht. Sieht ihren stumpfen, abwesenden Blick.  
"Hey", brüllt er dem flüchtenden Freund einen Schwall rauer Worte nach. Der bellt Barbarisches zurück und verschwindet mitsamt seinem Tier.


Jerry stiert Minou an wie eine Erscheinung.
Minou, ohne die Zusammenhänge überhaupt noch zu begreifen, weiß mit einem Schlag: Er wird mich töten. Jetzt brüllt sie los. Ebenso laut, ebenso irr wie während der Prozeduren zuvor.

Jerry reißt sie hoch, schüttelt sie hin und her, will sie zum Schweigen bringen. Aber dieses Mädchen, von allen guten Geistern verlassen, schrillt wie am Spieß. Dass man es wahrscheinlich kilometerweit hört. Gott sei Dank ... hier ist Einöde ... Menschenleere, denkt er ...

"Stop screaming", zischt der Mann, "stop screaming or I’m going to shut you up for good!" Die starrt ihn nur an. Schreit lauthals weiter, noch irrer, noch durchdringender, die blöde Gans. Schrillt, schrillt.

Da nimmt er das verklebte, verschwitzte, lädierte Bündel in die Arme. Presst es an sich. Er hält es fest. Lässt es heulen, rasen. Die Kleine, vollends aus der Fassung geworfen, tobt wie eine Verrückte. Bis sie matt zusammensackt. Er wiegt sie hin und her wie ein Baby. Ihr Heulen geht langsam in kindliches Geschluchze über. Er sagt ihr sanfte Worte, damit sie endlich ruhig ist. Am Ende weint sie leise vor sich hin.
Später drängt sie ihm in gestörter Weise ihre Wunden auf:
"Ich blute, Jerry. Vielleicht ist aber alles gar nicht so schlimm. Es kann doch möglich sein", sagt sie, "dass es schlimmer aussieht, als es ist. Dass es gleich wieder heilt ..."
Sie will wissen, wiewohl es ihr sehr peinlich ist, ob es denn sein könnte, dass sie vielleicht innerlich verletzt sei. Es wären aber nicht die Schmerzen, die ihr so zusetzten, schluchzt sie, sondern die ANGST . Es könnte ja ein LEBENSWICHTIGES Organ vielleicht getroffen sein. "Was meinst du, Jerry ? Aber vielleicht sieht alles viel schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist, das könnte doch auch sein, Jerry, oder nicht?"


Er ist reumütig genug, ihr zuzuhören, damit sie sich besser fühlen soll. Das, was er und dieser Tomas sich da eingebrockt haben, macht ihn jetzt fuchsteufelswild. Dabei tut die kleine Idiotin gerade so, als solle er von ihrem Peiniger zum potentiellen Arzt und Heiler für sie mutieren.

Dieses verirrte Ding, das allein und traumwandlerisch durch die Gegend lief ... Sie hat das alles ja geradezu herausgefordert!

Er kümmert sich um die Blessuren, die Tom mit seiner Hilfe verbrochen hat. Um die zigarettenkopfgroßen, kreisrunden Stellen auf Brüsten und Rücken, in denen Tabakasche und verbrannte Haut zusammengeschmolzen sind. Erst später werden die kleinen Wunden sich bös entzünden, einen gelblichweißen Eiterüberzug bekommen und dunkelrote Höfe um die Mitte bilden.


Mit Sprudel entfernt Jerry jetzt die Aschenreste, schwarzverkohlte Hautfetzen, geronnenes Blut aus zwei zum Glück nur sehr oberflächlichen Messer-Ritzereien, während der Kleinen vor Elend die Zähne klappern. Er legt halbwegs rein gebliebene Servietten über ihren Rücken. Wickelt dann das ganze zitternde Geschöpf in die Wolldecke. ( Damit es sich nicht erkältet!! )

Er läuft zweimal durchs Gelände auf der Suche nach ihrer verlorenen Sandale. Findet sie endlich.

Sich aber mit ihren mehr oder weniger lädierten, intimen Teilen wenn auch nur in Gedanken, auseinanderzusetzen, dazu hat er absolut keine Lust. Als sie mitten im Weinen neben ihm einschläft wie ein Kind, da erst wird ihm bewusst, was eigentlich passiert ist.


Wenn man entdeckt, wie diese Kleine zugerichtet ist, wird man uns jahrelang einlochen - das ist ihm plötzlich klar.
Er weiß nur dies: Ich muss jetzt verschwinden. So schnell wie möglich. Nur weg hier.
Ich könnte ja dafür sorgen, dass man das junge Ding gleich findet. Brauche nur nach Lefkes zurück reiten, einen anonymen Anruf bei der Polizeistation machen, sagen, wo man es abholen soll.

Da jagt die Erkenntnis durch sein Hirn, wie außerordentlich gefährlich für ihn und Tomas es werden wird, wenn man anfängt, die Deutsche über den Vorfall zu verhören.

Sie liegt so eigenartig da. Er ist nicht einmal sicher, ob sie schläft oder wieder ohnmächtig geworden ist. Jetzt packt ihn von neuem der Gedanke an Flucht. Er geht zum Maultier. Reitet davon. Ihren Esel zieht er mit.
Von weitem wirkt sie wie ein Häufchen Abfall, das man da hingeworfen hat.

Er kommt wieder zurück.
Sie hat sich aus der Decke herausgestrampelt, liegt nackt, verkrümmt auf der Seite. Mit halb geöffneten Augen.
Das Gesicht der Kleinen erscheint Jerry plötzlich überaus merkwürdig ... verzerrt, wie er nie ein Frauengesicht gesehen hat, weder ein altes, noch ein junges. So erbärmlich. Von ihrer Möse rinnt klebriges Blut auf seine Hand, als er hinfasst. Minou blutet tatsächlich aus beiden Öffnungen.

Zwei rote Rinnsale sickern an der Innenseite ihrer sonngebräunten Schenkel herab. Die wischt er mit einer Serviette weg. Dann streift er ihr vorsichtig, eher provisorisch, Höschen, BH und schließlich die Kleider über. Nur, damit sie etwas weniger jämmerlich daliegt.

Die wird nicht mehr heil, zuckt es durch Jerrys Hirn. Übelkeit packt ihn: Ich muss die Sache schnell aus der Welt schaffen, bevor man sie hier findet und mich festnimmt. Ich muss ein Ende machen. Es ist kein Problem, diesem dünnknochigen Ding sein bisschen Leben auszublasen. Ich werde ihr das Genick brechen. Sie wird es vorher nicht wissen und sich deswegen nicht einmal aufregen. Es geht schnell, wenn man den richtigen Handgriff kennt. Sie wird es kaum spüren ...

Dann wieder sagt er sich: nein, den Teufel werde ich tun, abhauen werde ich ...
Aber da stellt er sich vor, wie sie in der Dunkelheit aufwacht, allein ist. Wie sie heult, schluchzt. Vielleicht sogar nach ihm ruft. Und am Ende allein stirbt in dieser Einöde. Nein, das kann man einem so furchtsamen, hilflosen Ding nicht antun ...

Es ist unnormal, dass sie so reglos daliegt und immer mehr in Schlaf verfällt.

Es gibt noch eine Möglichkeit, denkt er, ich könnte sie zu einer ärztlichen Notdienststelle schaffen. Aber ob es überhaupt eine gibt? Ich würde ihnen irgend eine Geschichte auftischen, dann blitzschnell verschwinden. NEIN, die werden mit einem Blick sehen, was los ist. Wie es scheint, ist da in ihren inneren Teilen etwas verletzt. Wenn sie stirbt, bin ich für den Rest meines Lebens erledigt. Wenn sie davonkommt, sperrt man mich auch jahrelang ein. Und der saubere Herr Mathoggi ist dann längst über alle Berge ... "

Auslöschen scheint Jerry wahrhaftig die einzige Lösung, mit diesem lädierten Geschöpf ein sauberes Ende zu machen. So, wie man einem Pferd, das nicht mehr zu retten ist, den Gnadenschuss gibt. Er beugt sich über die Kleine. Am besten wäre es, wenn sie nicht mehr atmete. Dann bliebe ihm das Schlimmste erspart. Doch sie atmet noch.

Es wird bald Nacht. Ich werde es tun, wenn sie fest schläft. Werde sie anschließend in der Dunkelheit mit ihren wenigen Habseligkeiten unter den Steinen eingraben, denkt er. Wenn man sie vielleicht irgendwann findet, wird längst kein Hahn mehr nach ihr krähen. Niemand wird sie in Verbindung mit mir bringen. Und wenn schon, dann werde ich verdammt weit weg sein von diesen Inseln.
Am Ende entscheidet er sich aber, die Angelegenheit vom Schicksal regeln zu lassen und sich davonzumachen.

Soll sie einfach liegenbleiben. Ein vorbeikommender Mönch oder Ziegenhirt wird sie vielleicht rechtzeitig auflesen, sagt er sich. Ich muss jetzt nur die Nerven behalten und sehen, dass ICH aus dem Schlamassel herauskomme. "
Er geht zum Mulo.

Sie lebt aber. Hat sich bewegt. Er kann so nicht fortreiten. Kehrt zurück.
Er reibt ihr die Arme, befeuchtet ihr Gesicht mit dem in Sprudel getauchten Tuch.
Angenommen, ich bliebe erst einmal bei ihr. Wäre das nicht auch eine Lösung? Solange ich bei ihr bin, sie unter Kontrolle habe, kann ich sehen, ob sie sich erholt. Sollte sie sterben, ist immer noch Zeit, sie einzugraben ...

Riesengroß schlägt sie plötzlich die Augen auf: "Jerry", murmelt sie, "ich bin froh, dass du da bist, geh nicht fort bitte ... "
Dann ist sie schon wieder weg.
Er rüttelt, schüttelt sie, bis sie wieder zu sich kommt: "Hey, bleib wach!"
"Ich bin aber müde", murmelt sie.

"Wir müssen ins Dorf zurückreiten, du brauchst vielleicht Medizin. Hier draußen zu bleiben, ist schlecht, wenn die Nacht kommt."
Sie sagt, dass sie NICHT reiten wolle .
"Du wirst jetzt sofort aufsitzen", befiehlt er. Reißt sie hoch. Hebt sie auf ihren Esel.

Minou wäre froh, wenn Jerry sie zu sich auf SEIN Mulo nähme. Dann könnte sie sich während des Rittes an ihm festhalten. Denn ihr ist schlecht. Sehr schlecht. Aber er macht ihr kein solches Angebot. "Das geht wohl auch nicht, das hat es ja noch nie gegeben, zwei ausgewachsene Menschen auf nur einem schwachen Tier", denkt sie schläfrig.

Sie reiten nebeneinander her. Die Stoffservietten, die sie sich in ihren Slip gestopft hat, werden immer klammer, klebriger vom Blut. Die Schmerzen sind beim Reiten messerscharf geworden. Sie kann es nicht mehr aushalten, muss sich übergeben. Vor Pein. Es ist ihr gleichgültig, dass das Erbrochene über ihre Bluse läuft. Am Ende lässt sie sich heruntergleiten vom Esel. Liegt auf der Erde. Jetzt lässt die Qual ein bisschen nach.

Jerry steigt ab, versucht, sie wieder auf das Tier zu setzen. Da bricht sie zusammen. Er nimmt sie in die Arme. Trägt sie. Wie man ein Kind trägt, das zu müd ist zum Laufen. Mit ihrem Kopf an seiner Brust.

Minou geht es ein wenig besser. Nun sind die Schmerzen nicht mehr so stark. Sie sagt ihm das. Er marschiert mit ihr weiter. Und mit den beiden Tieren, die er am verlängerten Zügel hinter sich her zerrt. Jerry meint, sie müsse so viel wie möglich vom Sprudel trinken. Aber sie will keinen Sprudel trinken. Er bleibt immer mal wieder stehen, lässt sie sanft zu Boden gleiten. Drängt ihr die Flasche an die Lippen. Da trinkt sie.

*

Es ist ein langer Weg bis zurück nach Lefkes. Sie kann sich später an die letzte Strecke nicht mehr erinnern.
Jerry legt sie in einer Pension aufs Bett. Rennt sofort los. Er kommt mit einem Arzt, von dessen erstem Besuch die Kleine anscheinend nichts mitbekommt.
Jerry mietet sich auch ein Zimmer in der Pension. Er wird dableiben. Sie nicht alleinlassen. Das hatte er ihr auf dem Rückritt versprochen. Bevor sie ohnmächtig geworden war.

Jerry ist sehr aufgewühlt über das, was da geschehen ist ... Sollte sie gesund werden, so würde es ihn freuen. Egal, ob sie ihn anzeigen wird oder nicht. Eines aber weiß er ... er darf nicht mehr darüber nachdenken. Er weiß: ICH selbst bin auch voller Perversionen. Beinahe ebenso verrückt wie der Psychopath Mathoggi, der einfach davongelaufen ist. Ich werde vorsichtiger sein in Zukunft. Jetzt will ICH zumindest versuchen, diese Kleine wieder auf die Beine zu bringen. "

Minou ist in der nächsten Woche krank. Der Arzt kommt jeden Morgen und jeden Abend. Er behandelt sie mit Spritzen, Klistieren. Mit Salben. Tagelang darf sie keine Nahrung essen. Der Arzt redet wenig. Höchstens mit Jerry. Mit ihr nicht. Was Jerry ihm wohl erzählt hat? Über ihre Verletzungen? Die beiden Männer führen nur eine spärliche, monotone Konversation. In Griechisch. Vielleicht reden sie vor der Tür mehr. Der Arzt fragt Minou nichts. Er ist um die sechzig und offensichtlich nicht neugierig. Hier herrscht Schweigen. Der Arzt tut nichts, um die große Fremdheit zwischen sich und ihr zu überbrücken. Aber auch wenn er ein lustiger, leutseliger Gesell gewesen wäre, hätte sie kein Wort über das ‚Picknick‘ erwähnt. Es ist IHRE ureigene Schande.

Sie schläft viel. Und sie heilt. Manchmal tritt Jerry zu ihr herein. Er sorgt dafür, dass man ihr aus einer Taverna in der Nähe Essen bringt, als sie endlich essen darf. Doch scheint er fern von ihr. Innen drin. Weltenfern.

Wenn sie über den Steinflur seine Schritte nahen hört, fängt ihr Herz an, wie ein ängstlicher Sperling in der Brust herumzuflattern. Sie wartet stets auf ihn. Nach allem, was war. Sie hat Furcht vor Jerry. Aber auch eine große Hinneigung. Nach allem, was war. Und sie schämt sich entsetzlich. Vor sich selbst. Diese Zerrissenheit! Sie möchte mehr denn je, dass er sie in die Arme nähme und nicht mehr allein ließe. Ihm möchte sie gehören, trotz allem. Das ist so peinlich, sie würde es nie, nie, einem Menschen gestehen.
"Es hat mich schrecklich erwischt", denkt Minou und fühlt sich noch niedriger als zuvor ...

Jerry fasst sie nicht an. Er, der sie und ihren Körper jetzt höchstwahrscheinlich in- und auswendig kennt, berührt nicht einmal mehr ihre Hand. Doch ist er freundlich.

Jerry ist tatsächlich um die Kleine besorgt. Das fällt ihm nicht schwer. Sie ist pflegeleicht und gutmütig. Er sagt Minou nicht, dass der Doktor sie hat zusammenflicken müssen. Sie weiß es wohl ohnehin. Nun geht es ihr von Tag zu Tag besser. Das ist die Hauptsache. Nicht, dass er den Arzt hätte groß fürs Schweigen bestechen müssen. Der berechnet einfach nur ziemlich viel Honorar und fragt NICHTS.

Jerry erhält ein paar Tage später durch einen Boten eine größere Summe von Tomas Mathoggi, der sich tatsächlich wieder in Parikia aufhält. Ein paar Scheine hat er auch mitgeschickt, die soll er der Kleinen ‚schenken.‘


Jerry erwähnt Minou gegenüber nichts von dem Geld. Als er dann zu Tom nach Parikia hinüber reitet – deutet er an, sie hätte es nicht haben wollen. Den Anteil für Arzt und seine Auslagen behält er.

"Ich bin verwundert, wie wenig Rachegefühle oder zumindest Wut dieses Mädchen offensichtlich in sich hat", sagt Jerry. "Eigentlich müsste sie zur Polizei laufen und uns beiden höllisch einheizen. Doch ein solcher Gedanke kommt diesem merkwürdigen Ding anscheinend nicht einmal im Traum ... gut für dich, Mathoggi und letzten Endes auch für mich ... "
"Würde ein Kätzchen oder ein Vögelchen sich beschweren gehen, wenn man es etwas rau behandelt hat?", sagt Tomas .
"Sie wird heilen, Gott sei Dank", meint Jerry.
"Und was hat sie von meinem Wiedergutmachungsgeschenk gehalten?"
"Sie nimmt das Geld nicht!"
"Sie muss es aber nehmen", ruft Tomas, "bring sie dazu in drei Teufels Namen!"
"Sie nimmt es nicht! "

Jerry kennt Toms Gedankengang. Würde sie es behalten ... und sie wäre dazu imstande, in dem demütigen, reduzierten Zustand, in dem sie ist, so würde sie sich damit in eine Art Einverständnis hineinmanövrieren, das es niemals gab. Sie würde sich nachträglich auf die Stufe einer Frau stellen, die für von ihr geleistete, wenn auch peinvolle Dienste entlohnt wird, denkt Jerry.


"Irgend etwas ist schiefgelaufen, ausgeartet ... So etwas passiert im Zusammenleben von Mann und Frau, ich meine, wenn Männer mit Frauen allein sind!", sagt Tomas lässig.
"Erzähl keinen Scheiß ... es war keine Bagatelle, kein kleiner Unfall, kein frivoler Ausrutscher. Du weißt, was es war! Ich werde mich so schnell wie möglich von dir trennen, Mathoggi."

*



Was vorausging:

Sommer 1960. Das deutsche Mädchen Minou hat einige Jahre in Sizilien verbracht. Nach einer 'verhängnisvollen' Affäre mit dem undurchsichtigen Ernando Sascala und ihrer verhinderten Hochzeit mit Nikos Sakatis, einem griechischen Geschäftsmann, kommt sie nach Athen. Später, auf Ägina lernt sie die beiden Abenteurer Tom und Jerry und die Griechin Elena kennen. Sie verleben schöne, gemeinsame Tage in der Ägäis.
Als Elena abgereist ist, begleiten die beiden Männer Minou nach Hydra. Dort läuft sie ihnen quasi davon ... vielleicht nur deshalb, weil die Don Juans sich in immer neue Frauengeschichten einlassen. Auf Paros angekommen, muss Minou aber feststellen, dass Tom und Jerry bereits dort auf sie warten. Wieder sind sie in weiblicher Gesellschaft ... diesmal mit zwei jungen Engländerinnen im Schlepptau, Mary und Edith. Offensichtlich sehr erfreut, begrüßen die beiden Männer das deutsche Mädchen. Zu fünft sitzt man lange beim Abendessen zusammen und beschließt für die kommende Woche einen gemeinsamen Maultier-Trip und ein Picknick ins Inselinnere zu unternehmen.
Tom und Jerry holen Minou am vorgesehenen Morgen ab. Sie teilen ihr mit, Edith und Mary seien leider unerwartet nach England zurück beordert worden, darum müsse man jetzt zu dritt losziehen.
Bei der Rast auf einem verlassenen Hochplateau kommt zwischen dem deutschen Mädchen und den Männern alles anders, als Minou es sich vorgestellt hat. Verletzt und beschämt geht Minou aus einem ‚Liebesnachmittag‘ hervor. Jerry rettet ihr Leben und kümmert sich eine Weile um sie.



15
DANACH. MATHOGGIS ANGEBOT

Minou heilt. Jerry bringt sie zurück in ihre Pension nach Parikia, als es ihr besser geht. Jetzt fängt sie an zu glauben, dass sie an dem, was beim Picknick geschehen ist, selbst einen ziemlichen Teil der Schuld trägt. Hatte sie nicht an dem Morgen ein sonderbares Gefühl gehabt, als die beiden ihr sagten, Mary und Edith seien plötzlich abgereist? Hatte sie nicht geahnt, dass ETWAS geschehen würde, es sogar heimlich gewünscht ... natürlich nicht auf diese Art ... Aber hatte sie vielleicht doch etwas von den Männern erwartet, als sie mit ihnen davongeritten war? Unbewusst und vage etwas von ihnen erwartet? Zumindest von Jerry .
Jerry sagt jetzt an ihrem Haustor, er würde sie besuchen kommen. Bald. Von sich aus schlägt er das vor. Sie hat auf diese Worte atemlos gehofft. Gut, dass ER sie sagt ... sie hätte nie gewagt, ihn um ein Treffen zu bitten. Ihre Angst, ihn nie wiederzusehen war immer größer geworden, je mehr sie sich ihrer Pension näherten. Es hat mich furchtbar erwischt, weiß sie glasklar, gleichgültig wer er ist, ob gut oder böse, ich habe angefangen, ihn zu lieben ... Und sie weiß: mit dieser sonderbaren Liebe hat sie sich außerhalb der Normalität gestellt. Auch außerhalb der Vernunft. Aber das will sie doch gar nicht wissen. So ausschließlich wie vorher Ernandos Bild in ihrem Herzen war, so ist es nun das von Jerry.

*

Minou sitzt auf der Terrasse der Pension hoch über der Insel. Sie zeichnet mit Buntstiften in einen Block, was sie sieht: Das weiße Labyrinth der Gassen zu ihren Füßen. Flache, flimmernd helle Dächer. Kalkweiß getünchte Mauern. Treppenaufgänge: verwinkelt, verwittert, zerbröckelnd in ihrem Gestein. Esel, die auf staksigen Beinen bedächtig Stufe um Stufe erklimmen. Auf ihren Rücken getürmt sind Körbe voller Gemüse und Säcke, unter deren ausladender Last die Tiere fast verschwinden. Ein Mulo, vollbepackt, trägt ein riesiges Bündel Decken, Bettzeug. Menschen sieht sie nicht in den Gassen außer zwei, drei Eselstreibern. Nur einmal eilt eine schwarzgekleidete Frau von einem Haus in ein anderes, ihre Gestalt wie ein wandelndes Zelt. Hell scheint nur das Oval ihres Gesichts aus dem schwarzen Kopftuch hervor. Eine ägäische Hausfrau? Eine Nonne? Sie wirft im Vorbeihasten einen kurzen Schatten zwischen kubischen Häusern in der Sonnenglut.
Doch die dünnen Farbminen der Holzstifte reichen nicht aus, den Bildern Leuchtkraft zu geben. Minou schafft es nicht, auch nur annähernd das festzuhalten, was sie gern festhalten möchte: die erbarmungslose Klarheit der Dinge. Das gleißende Licht. Die Reinheit des glutheißen Mittags. Tief unten das türkisfarbene Meer. In der Ferne ist es von der Farbe Kobalt. Dem tiefsten Blau aller Blautöne.
Gegen die Sonne trägt Minou den sienaroten Strohhut mit dem schönen Muster. Jerrys Geschenk. Sie mag diesen Hut auch jetzt noch.
Seit fünf Tagen ist sie aus Lefkes zurück. Und seit dem 'Vorfall' nicht mehr auf der Uferpromenade gewesen. Nirgends ist sie gewesen, als in der kleinen Taverna gleich nebenan. Dahin zu gehen, zwingt sie sich manchmal. Und wenn sie essen geht, dann gegen halb drei Uhr nachmittags, weil das Lokal zu der Zeit leer ist. Es macht sie unsicher, wenn Leute sie betrachten. Nicht JEDEN Tag schafft sie es bis zur Taverna. Doch sie weiß, es ist lebensnotwendig dass sie etwas Kräftiges, Warmes in ihren Magen bekommt. Die Mahlzeit isst sie auf bis auf den letzten Rest. Ganz gleich, wie das schmeckt. Zuerst wollte der Patron Konversation machen. Aber das war ihr zu viel. Jetzt reden sie kaum mehr. Doch er ist freundlich. Bringt ihr einen Ouzo oder Kaffee zum Abschluss, den er stur, mit verneinenden Gesten, zu berechnen sich weigert. Obwohl sie ihn am Anfang jedesmal darauf aufmerksam gemacht hat.
Das Frühstück bekommt sie in ihrer Pension: Brotschnitten, Marmelade, Butter. Dazu einen großen Becher mit warmer (Ziegen?)milch. In die löffelt sie massenweise Honig hinein. Türkischen Kaffee brodelt sie sich tagsüber im Zimmer selbst auf. In einem kleinen langstieligen Messingkännchen. Auf einem Kerosinkocher.
Minou fühlt sich hässlich. Nicht wegen der Wunden, die sie ja verdecken kann. Nur einfach so ... weil ihr Gesicht mager und elend aussieht. Auf Rücken, Brust, Oberschenkeln sind noch immer die Spuren der Gewalt zu sehen. Die kreisrunden Zigarettenmale. Sie heilen nur langsam. Jedes hat jetzt eine aufgeworfene, pfennigrunde, dicke Kruste, dunkelviolett, mit weißlicher Eiterkappe. Weh tun sie nicht mehr. Nun jucken sie. Es ist schwer, die Male auf ihrem Rücken zu versorgen und dauert lang, weil Minou sie auch im Spiegel schlecht ins Blickfeld bekommt. Sie kann sie nur ertasten. Jedes einzelne hat sie notdürftig mit einem Heftpflaster beklebt, dass sie nicht an Kleidung und Bettlaken scheuern. Die Kruste auf der einen oder anderen Wunde ist immer mal wieder abgerissen. Dann blutete es.
An diesem Tag kommt die Wirtin zu ihr, als Minou gerade auf der Terrasse sitzt und zeichnet. Es sei jemand für sie da.
Bestimmt Edith und Mary, denkt sie. Die sind nämlich vor kurzem schon einmal vorbeigekommen.
Die beiden Engländerinnen waren nie heimgefahren. Tom und Jerry hatten gelogen. Das ist inzwischen klar.
Um Gottes Willen ... sie dürfe die zwei nicht hereinlassen, hatte Minou damals die Wirtin hysterisch angefahren. Die Inselfrau war irritiert davongegangen.
Allzu schlecht hatte Minou sich gefühlt. In so elender Verfassung wollte sie von niemandem gesehen werden.
"Isa fine young man", sagt die Griechin jetzt, reckt die Hände hoch über ihren Kopf, um zu zeigen, wie groß er sei. Zwinkert der Deutschen komplizenhaft zu: "Isa beautiful man, ine kalo, kalo ... "
Es ist Jerry. Es kann nur ER sein! Ein heißes Gefühl reißt Minou aus ihrer Starre. Eine Freude wie schon lange nicht mehr. Sie ist innen auf einmal ganz zitterig. Tag für Tag hat sie voller Begehren auf ihn gewartet.
Statt seiner tritt aber Tomas Mathoggi herein, grinst und begrüßt sie lässig.
Nach allem, was war.
Als sei nichts.
Erst hält sie sich aufrecht. Dann spürt sie: sie sackt zusammen wie eine Gummipuppe, der man langsam die Luft ablässt. Und ihr Peiniger spaziert vor ihr herum.
Dass er mit ihr reden wolle, sagt er: VERNÜNFTIG reden ... und: Er sei 'very sorry' wegen des Vorfalls.
Sie muss sich setzen. Findet keine Worte. Hockt hingekauert auf der äußersten Ecke ihres Bettes, nah bei der Wand. Nur weit weg aus seinem Dunstkreis!
"Also ... ich muss dir etwas sagen!"
Da fragt sie blöde, wo denn Jerry wäre.
"Vergiss ihn. Er wird dich nicht besuchen. Hör auf, dich in Fantasien zu flüchten. Er hat Wichtigeres zu tun. Aber ICH bin hier!"
Minou ist schlecht. Übelkeit ist in ihr, Übelkeit hängt im ganzen Zimmer.
"Du solltest auch wissen, dass dein Angebeteter daheim in Alexandria Familie hat. Frau und Söhnchen. Sie ist jünger als du. Sechzehn. Und schön. Doch auch die bravste Ehefrau macht aus einem Mann wie ihm kein Haustier ... Jerry brennt rasch. Für dich leider nicht. Auch er hat dich gehabt. weißt du es überhaupt? Da, beim Picknick. Du hast es wahrscheinlich kaum mitbekommen, warst ja nicht mehr ansprechbar ...
"Geh weg, lass mich ..."
Da sagt Tom, er müsse sie eben wachrütteln. Die Wahrheit sei oft ein Schock. Vor allem für eine wie sie, die sich ihre spezielle Wahrheit lieber selbst zurechtzimmere, statt den Tatsachen ins Auge zu sehen. "Deine Vernarrtheit ist lächerlich ...und peimlich ... für Jerry bist du ein NOTHING ... wertlos. Der verschwendet keinen Gedanken an dich. Du weißt nicht einmal, wer dieser Mann ist", fährt Mathoggi fort: "Willst du es hören? Er ist einer, der für mich arbeitet. Für meine Familie. Er steht auf meines Vaters ‚payroll‘. Wird von ihm bezahlt. Doch Jerry und ich sind inzwischen Freunde geworden. Er wird immer tun, was ich will!"
Wie gut, dass Tom ihr das sagt! Jetzt ist Minou alles klar: Er, den sie liebt, ist also arm. Ein bezahlter Reisebegleiter. Ein Bodygard? Nun versteht sie Jerrys Verhalten damals in Lefkes. Jerry ist von Tom abhängig.

Mathoggi wandert wie selbstverständlich in ihrem Zimmer herum. Er legt es darauf an, in ihr jeden guten Gedanken an Jerry auszumerzen. "Er ist ein Söldner, einer der auf Kommando sogar getötet hat ..."
"Sei ruhig, sei ruhig!"
Minou weiß es besser. Weiß, dass er im Grunde ein guter Mensch ist UND dass er tief in seinem Herzen doch 'etwas' für sie empfindet. Am Strand von Ägina hat er sie "agapimou" genannt. Agapi ist die reinste, die keuscheste Form der Liebe, die hoch über der Erotik steht. Die ernste, erhabene. Und Jerry ist nicht der Mann, der mit einem so großen Wort herumspielt, denkt sie, glaubt sie. Auch wenn es bei ihm nur das Gefühl eines Augenblicks gewesen ist, so war es ihm in dem Augenblick Ernst damit. Ernst und heilig. Immer hat sie seine Zuneigung irgendwie spüren können, redet sie sich ein. Sogar während der schrecklichen Geschehnisse beim Picknick. Da hatte sie gefühlt, er war auf ihrer Seite trotz allem ... das Leben hat er ihr letztendlich ja auch gerettet.
Tom, ihr Peiniger, geht jetzt mit schweren Schritten durchs Zimmer.
"Was ich dir vorschlage, ist genau durchdacht", erklärt er, "deshalb schrei nicht gleich wieder los! Ich meine jedes Wort. Hör zu:
Es ist doch so ... du weißt nicht, wo du morgen oder übermorgen hingehen sollst. Du bist ein ziemlich einsames Mädchen. Weder besonders schön, noch besonders schlau ... Nicht einmal richtig gesund ... "
Minou wird weiß wie die Wand. Das hat getroffen. Mit seiner Beschreibung hat er Recht.
"Ich", lacht Tom nervös, "über mich will ich lieber schweigen! Bei mir ist auch vieles im Argen. Wenn du nur wüsstest ..."
Sie seien wahrscheinlich beide ziemlich gebeutelte Wesen, meint er. Vielleicht INTERESSIERE sie ihn deshalb. Wenn sie wolle ... er würde sich um sie kümmern ...
"Ich möchte dich zu meinem Vater nach Alexandria bringen", sagt er.
Minou blickt hoch. Mehr müde als erstaunt.
"Bei ihm würde es dir gut gehen. Du könntest ein College besuchen. Oder Sprachen lernen? Oder einfach tun, was dir gefällt. Malen zum Beispiel!" Er wirft einen eher ratlosen Blick auf ihren Block mit dem zuletzt entstandenen 'Kunstwerk'. "Meine Leute würden sich um dich kümmern. Meine Schwestern ..."
Minou verzieht das Gesicht. Als ob sie versehentlich auf eine Zitronenscheibe gebissen hätte.
"Da ist noch etwas anderes, das ich dir sagen will. Ich bin jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Bald soll ich eine unserer Firmen in Sao Paolo übernehmen. Aber die Familie stellt die Bedingung, dass ich heirate. Und man lässt mir freie Wahl bei meiner Braut. Ich habe nachgedacht. Du wärst vielleicht geeignet ...!"
Minou wird schlecht.
"Ein Jahr lang hättest du Zeit, es dir mit der Ehe zu überlegen. Solange wärst du bei meiner Familie gut versorgt. Ich würde dich ja nicht mitnehmen können am Anfang. Denn ich muss die Firma aufbauen und so weiter. Das bedeutet: Tag und Nacht auf Hochtouren sein. Wenig Schlaf. Da könnte ich mich kaum um dich kümmern. Für dich wäre dieses Arrangement ideal. So würdest du ein Jahr lang nicht mit meiner ( ha, ha! ) unerträglichen Person konfrontiert sein. Und könntest etwas für dich tun. Ist das kein Angebot?

Er fasst nach ihrer Hand.
Sie reißt sie weg.
"Denk darüber nach! ICH möchte in dein Leben eingreifen. Ernsthaft. Schau dich an", sagt Tom, "du bist nur hübsch, weil du jung bist. Die meisten jungen Mädchen sind hübsch. Und ich gebe ja zu, dass mir dein Äußeres recht gut gefällt. Aber sonst hast du nichts. Null. Was mich betrifft: ich bin kein leichter, umgänglicher Mensch. Und ich glaube, du bist sanftmütig und tolerant. Wir würden gut zusammenpassen. Mit dir wäre eine Ehe unproblematisch ...
"Hör auf", schreit Minou. Und weil er sie diesmal verbal zu überfahren, niederzuwalzen versucht, da MUSS sie wieder von dem EINEN anfangen. Dem GESCHEHNIS . Muss ihm sein irres 'Ausrasten' beim Picknick noch einmal drastisch vor Augen führen.
"Dir kann doch niemand trauen", sagt sie am Schluss ihrer leidenschaftlich herausgeschrienen Tirade. "Wer garantiert denn, dass du nicht wieder zuviel trinkst und von neuem ausflippst? Stell dir vor, wir wären verheiratet und du würdest eines Tages etwas ähnliches mit mir versuchen wie in Lefkes?!"
"Nicht MEHR , als du erträgst", sagt er da. Und lächelt.
Es dauert eine Weile bis diese Worte richtig in ihrem Kopf wirkung zeigen. Da beginnt sie, zu begreifen. Ahnt langsam, was er mit seinem Heiratsangebot wirklich meint.
Heiße Wellen schießen Minou durchs Hirn: Ich bin für ihn GEEIGNET, sagt er! Warum behandeln die Menschen mich, als ob ich beschränkt wäre? Er wagt es, mir lächelnd ein Leben voller Misshandlungen anzubieten!
"Mache ich denn wirklich einen so armseligen, minderwertigen Eindruck?" denkt Minou fassungslos.
Tom ist nicht der erste Mensch, der sie sonderbar einschätzt. Viele scheinen zu glauben, dass bei ihr ... etwas nicht in Ordnung ist ... oder so ... Angefangen bei der Stiefmutter. Die hat es schon brühwarm gesagt, als Minou fünf war. Wenn sie mit Nachbarinnen beisammensaß und allwissend verbreitete, so verhalte sich kein normales Kind. Recht bei Trost sei 'das da' auf keinen Fall. Eine ‚spinnerte Urschel‘ eben.
Ja, Minou spürt es selbst immer wieder: Sie schleppt wirklich eine Masse von Mängeln und Störungen mit sich herum. Und dann ihre so häufig auftretenden, ebenso rätselhaften wie heftigen Krankheitssymptome! Es gibt Zeiten, da ist sie innen drin so matt, da weiß sie nicht mehr, wie sie die Dinge anpacken soll. Jede Freude, jede Unternehmungslust ist in ihr wie ausgemerzt.
Sie ist zuhause schon tagelang untätig herumgesessen, herumgelegen. Ganz zu schweigen von den Ohnmachtsanfällen. All das hat aber doch mit ihrem GEISTIGEN Zustand nichts zu tun? Sie ist immer die Herrin ihrer selbst. Und ihr Verstand ist klar. Oder? Eines stimmt allerdings: Was anderen Leuten locker von der Hand geht, was sie mit links meistern, fällt ihr schwer. Nein, Reserven hat sie nie gehabt. Aber innen drin ist sie intakt, das glaubt sie fest. Sie stemmt sich gegen die, die ihr einreden wollen, dass da etwas mit ihr nicht in Ordnung wäre.
Trotzdem ... manches scheint wirklich anders zu sein bei ihr, als bei 'normalen' Mädchen. Vage spürt sie das selbst. Und Leute lassen sie das plötzlich aus heiterem Himmel immer wieder einmal fühlen.


*



16
RÜCKBLENDE MARIENSTOCK UM 1950. MINOU IST GRÜN.

Frau Wahlen, die Klassenlehrerin auf der Mittelschule in Brückenstadt, hat nach einem Elternabend den Papa auf die Seite gezogen:
"Mit Ihrer Tochter stimmt etwas nicht", hatte sie gesagt. "Selbst der ganz gewöhnliche Ablauf des Unterrichts versetzt sie offensichtlich in Angst und Schrecken und bringt sie quasi an den Rand des Zusammenbruchs. Bei jeder kleinen Anforderung wird sie zum bebenden Häufchen Elend. Rufe ich sie vor die Klasse, um ein auswendig gelerntes Gedicht zu deklamieren oder an der Tafel eine Aufgabe zu lösen - das ist für alle unsere Schülerinnen üblich - wird sie totenbleich und durchsichtig, ihr Gesicht spitzer und spitzer, dass man augenblicklich das Schlimmste befürchtet. Dabei weiß sie bei schriftlichen Prüfungen die richtigen Antworten, drückt sich auch mündlich gut aus, ist allem Anschein nach intelligent. Ein solches Verhalten ist besonders unverständlich", meint Frau Wahlen, "weil ihre Tochter, wie ich erwähnte, mit der Richtigkeit ihrer Antworten keine Probleme hat, wohl aber in der Art, wie sie sich vor der Klasse verhält ... Ich, die ich das Mädchen nun jeden Tag beobachte, kann mir nicht erklären, was mit ihm los ist. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, doch ihre Tochter ist ein gestörtes, offensichtlich krankes Geschöpf."
"Sie ist eben ein Kriegskind", murmelt Oskar Kern.
"Nein, Kriegskinder sind die anderen Schülerinnen auch, das ist keine plausible Erklärung. Nein, es muss die pure Angst sein, vor den Augen der anderen zu versagen ... Hermine krümmt sich ja geradezu, wenn man sie nur ansieht, als möchte sie am liebsten unter die Erde versinken", ruft Frau Wahlen, "dieses Mädchen hat nicht ein Quentchen Selbstvertrauen. Ja, schlimmer noch, ich glaube, dass ihr gesamtes Nervenkostüm in Mitleidenschaft gezogen ist. Das müssen sie als Vater doch merken. Das ganze junge Geschöpf ist ein Bild des Jammers", insistiert Frau Wahlen. "Ihre Tochter braucht Hilfe und zwar sofort."
Ratlos war Oss Kern heimgekommen, hatte vage geahnt, was die alte Dame meinte, aber nicht gewusst, wie er die Sache anpacken könne. Minou stand dabei, als er Lisa alles brühwarm erzählte. Und sie starb fast vor Scham. Lisa aber sagte, die Frau habe gut reden, die müsse dieses unverschämte Ding einmal zu Hause erleben, dann würde sie sich ihr Gelaber sparen. Im Sich-Anstellen und Theaterspielen sei diese spinnerte Urschel ja schon seit jeher Spitze gewesen.
Auf ihrem Zimmer schluchzt Minou in ohnmächtiger Wut. Auch, weil sie nie gedacht hat, dass man ihr Elend derart stark bemerkt. Immerhin hatten sie ihr in der Klasse so etwas niemals gesagt. Weder die Lehrkräfte, noch die Kameradinnen! Sie hatte viel dafür getan, wie ein ganz normales Mädchen zu wirken. Sie hatte sich so angestrengt, hatte jeden Tag Traubenzuckertabletten gegessen, Dextroenergeen, um ein bisschen mehr Kraft zu haben. Dafür hatte sie sogar ihr Taschengeld geopfert. Sie war ungefähr dreizehn zu der Zeit und war oft so matt gewesen, dass sie morgens den Weg vom Bahnhof zur Schule kaum schaffte. Doch immer hatte sie versucht, gesund zu werden.
Und jetzt hört sie von der beliebten, hochrespektierten Lehrerin, dass sie einen jämmerlichen Anblick bietet! Das kränkt ihren Stolz unsagbar. Dabei weiß ja keiner, was ihr fehlt, nicht einmal die Ärzte. Und zuhause interessiert es auch niemanden. Natürlich ist da noch ihre ständige Angst vor den Ohnmachten, die aus heiterem Himmel kommen die ihre ganze Kindheit schon überschattet haben. Jeden Augenblick können sie wieder losbrechen. Diese Angst ist es vielleicht, die sie so beutelt und davon abhält, entspannt und glücklich zu sein. Oder glücklich höchstens für Momente. Aber das hat sie bis zu diesem Tag nicht gewusst, dass ihre Handicaps so offensichtlich sind, dass sie sogar Außenstehenden wie der Lehrerin auffallen.
Vor allem körperlich bekam sie gar nichts auf die Reihe. Wenn sie im Sportunterricht Volleyball oder Handball spielten, war sie langsam und so unkoordiniert, dass sie der Mannschaft schadete. Vor lauter Angst fing sie an, innerlich zu vibrieren und dann machte sie alles falsch, kriegte von rechts und links die wütenden Missfallensschreie ihrer Teamgenossinnen zu hören. Gut, dass die Turnlehrerin sie immer schnell vom Feld nahm. Sie hätte es nicht einmal ein paar Minuten länger geschafft. Nein Minou war keine Bereicherung für eine Mannschaft.
Der Gedanke an Wettspiele – und ihre Schule brachte ständig solche grässlichen, öffentlichen Schaustellungen auf die Beine - löste Krisenzustände in Minou aus. Wenn sie wusste, dass so etwas in Kürze stattfinden würde, war sie schon Tage vorher ein Nervenbündel und konnte nächtelang nicht schlafen ...
Einmal, als wieder so ein Turnfest anstand, schaffte sie es sogar bis zur Blinddarmoperation, um sich - wie Lisa sagte - vor den Anforderungen des Lebens zu drücken. Vielleicht war ja etwas daran, vielleicht tat ihr der Blinddarm tatsächlich den Gefallen, sich zu entzünden, nur damit sie auf der Bühne im riesigen 'Saalbau' von Brückenstadt nicht vor den Augen von tausend Zuschauern, stocksteif und spindeldürr wie sie war, auf einem Bein hüpfend, am sogenannten Schwebe-Balken brillieren musste, was ihr in zahlreichen Übungsstunden zuvor so toll gelungen war, dass die anderen Mädchen sich vor Kichern kaum halten konnten. Aber die drahtige Sportlehrerin kannte kein Pardon. Minou wäre wohl ohne Operation und Krankenhausaufenthalt aus der Nummer nicht herausgekommen. Übrigens war jede der zirka siebenhundert Schülerinnen im Alter von zehn bis sechzehn Jahren - die Schule bestand aus vierundzwanzig Klassen - zu irgend so einer turnerischen Wunderleistung gezwungen, manche allein, andere in größeren Gruppen und alle sechshundert im identischen, bein- und armfreien, hellblauen Gymnastikanzüglein. Minou hatte das fünfstündige Spektakel, Gott sei Dank, nicht miterleben müssen.
"Du hast dich ja wieder raffiniert vor deiner Pflicht gedrückt ... die 'Verantwortungslosigkeit' in Person bist du!", hatte Lisa der elfjährigen Minou zugerufen, als sie aus dem Hospital zurück gekommen war.
Und dann war da noch die Sache mit ihrer "Grünheit."

Einmal rief die Klassenlehrerin Papa an: "Dieses Kind ist so unendlich blass ... es ist unglaublich ... es ist GRÜN!
Ich scherze nicht, ihre Tochter ist heute Morgen erwiesenermaßen GRÜN im Gesicht! Meine Kolleginnen können es bestätigen!" erklärte Frau Wahlen dem bestürzten Oskar Kern. "Was soll ich machen ... Soll ich sie heimschicken oder zum Arzt?"

Inzwischen kam Minou - damals hieß sie noch Hermine - sich selbst wie ein Gespenst vor.
Aber die meisten Mitschülerinnen mochten sie. Mit der Zärtlichkeit von elfjährigen Mädchen sagten manche, sie sei ‚lieb‘ oder sogar ‚süß‘. Zeitweise hieß sie "Fröschlein", weil sie halt grün war. Ja.
Gegen ‚Fröschlein‘ hatte sie nichts einzuwenden ... Besser ein Fröschlein zu sein, als eine spinnerte Urschel.

Über diese ihre merkwürdige Grünheit, die irgendwann auch wieder vergangen war, hatte Minou sich viele Gedanken gemacht, bis es ihr eines Tages wie Schuppen von den Augen fiel:
Weil sie damals sehr in die Höhe geschossen war und nichts mehr zum Anziehen hatte, hatte Frau Schuchard, die Dorfschneiderin, ihr ein Kleid genäht.
1949, vier Jahre nach dem Krieg, gab es nicht viel und man hatte froh sein müssen, wenn man irgendwo ein Stückchen Stoff auftreiben konnte. Einen gedämpftfarbigen, SEHR GUTEN Wolljersey – noch aus Friedenszeiten - hatte Lisa in einer Schublade gefunden. Er war nicht gerade von strahlendem Frühlingsgrün, sondern von einer eher dunklen Oliv-Tönung. Der Schnitt, den Minou bei Frau Schuchard ausgesucht hatte, war einfach. ‚Jesuskutte‘ nannte man so ein Ding und es war groß in Mode: ein sackgerades, am Hals rund ausgeschnittenes Kittelchen mit weiten, um die Handgelenke flatternden Ärmeln, dessen Taille man mit einem dünnen Gürtel zusammenbinden konnte. Es war für lange Zeit ihr einziges Schulkleid. Viele Jahre später also, kam ihr plötzlich siedendheiß der Gedanke, dass ihre Hautfarbe, die alle Leute ( außer Lisa ) damals in solche Verwirrung und sie selbst in Angst und Schrecken versetzt hatte, simpel und einfach der Abglanz vom olivfarbenen Stoff auf ihrer Haut gewesen war. Das Kleid allein hatte also die Schuld an der außerirdischen Grünheit ihres Gesichts getragen, dachte sie da auf einmal voller Erleichterung.

*




17
EIN ABENDESSEN UND GROßE VERWIRRUNG

Zurück nach Paros und zu Minous Zimmer in der Pension.
"Vielleicht könnten wir gut miteinander leben?", meint Tomas Mathoggi. "Der Umgang mit dir scheint einfach und ist doch so schwierig, dass die meisten Männer dich gar nicht verstehen, womöglich auch nicht ertragen werden. Und allein wirst du nicht weit kommen, das ist dir hoffentlich klar."
"Tom, verschwinde doch endlich!"
"Hör zu", sagt er, "du ziehst dich jetzt an und gehst mit mir zum Abendessen. Wir werden eine Clique sein. Amerikaner. Freunde. Ich habe bei Theo's einen Tisch bestellt."
Minou schüttelt den Kopf.
"Ich will dir wirklich helfen", sagt er, "Gut ... es ist irgend ein Abendessen mit irgendwelchen Leuten, aber es wäre ein Anfang. Du musst aus deinem Zimmer heraus. Was hält dich eigentlich ab, einmal richtig zu speisen, Wein zu trinken, Menschen um dich zu haben ... ?"
Sie ist kreideweiß geworden.
"Reiß' dich zusammen", befiehlt er, "du musst verdammt raus aus dieser Bude. Oder willst du ganz krank werden? Du siehst elend aus. Sei vorsichtig, bevor du hässlich wirst. Denn dein Aussehen ist alles, was du hast."
Diese letzten Worte mähen sie geradezu nieder. Er hat ins Schwarze getroffen.
"Sorry", sagt er, "ich übertreibe schon wieder. Ganz so schlimm ist es nicht. Trotzdem: es wird Zeit, dass du ordentlich isst und unter Leute gehst. Zieh' was Schönes an!"
Sie steht da wie eine Salzsäule.
"The king of your heart, Jerry, he will be there too, wenn es dich denn froh macht", flüstert er ihr zu mit maliziösem Lächeln ...
Da zieht sie ihr Kleid an, schminkt sich.
"Komm!"

*

"Sie ist eine gute Freundin, eine Studentin aus Germany", lügt Tom, als er Minou den Amerikanern vorstellt. "Sie malt interessante Ansichten von den Inseln."
Er redet, als ob er große Stücke auf sie hielte. Minou hat Angst, gleich umzufallen. Wenn die wüssten, auf welche Art sie Freunde sind!
Die Amerikaner bringen ihr Interesse entgegen. Die Männer machen viel mit ihr daher. Das ist nichts Neues. Das kennt sie. Neugierig auf ihre Person sind auch die Frauen ...
Jerry ist dann ebenfalls da und begrüßt sie mit (Wangen)küsschen. Legt den Arm um ihre Schultern. Unterhält sich eine Weile mit ihr. Locker. Sogar warm. Doch sie merkt: Er ist an anderen mehr interessiert als an ihr. Das tut weh. Seine fast ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt er während des Essens und nachher einer dieser selbstbewussten Texanerinnen. Diese Tatsache und die lauten Gespräche um sie her, die sie nicht interessieren, werfen ihr ohnehin labiles Nervensystem vollends aus der Bahn. Ihre mühsam erzwungene Fassung bröckelt. Sie spürt, gleich wird sie hier zusammenbrechen. Übel ist ihr, übel ist auch die ganze Umwelt, durchsichtig, ohne Substanz, unwichtig. Sie muss allein sein. Sie muss hier weg.

Am Becken im Waschraum lässt sie Wasser über die Handgelenke fließen. Kaltes Wasser hat ihr schon manchmal geholfen, ihren versagenden Kreislauf wieder hochzujagen.

Da sieht sie plötzlich im Spiegel Toms Gesicht. Er dürfte hier drinnen nicht sein. Sie ist immerhin im ladies-room. Abwehrend hebt sie die Hände. Er fasst ihre Schultern.
"Mir ist schlecht", sagt sie, "mir ist so schlecht."
"Es hängt mit deiner Sexualität zusammen. Du kommst damit nicht klar ... bist verwirrt, total verspannt ... komm ... lass dich fallen ... hör auf, zu denken, lass dich einfach gehen ..."
Er drängt sie in die Toilettenkabine hinein. Sie wehrt sich kaum. Er verriegelt die Tür. Von innen. Ein leichtes Klicken. Er legt die Hand über ihren Mund, als sie schreien will. Nur halbherzig hat sie schreien wollen. Sie tut es auch nicht. Weil sie sich schämt. Obwohl sie durch einen einzigen halblauten Ruf alle Leute im angrenzenden Gastraum hätte alarmieren können. Da, eingeklemmt zwischen Tür und Toilettenschüssel, lässt sie zu, dass er mit seiner Hand in ihren Slip fährt.
Sie ist starr, auch dann, als seine Finger sie an ihren intimsten Stellen berühren. Was sie leicht hätte verhindern können, wenn sie Kraft gehabt und Energie mobilisiert hätte. Ein Schrei um Hilfe hätte den ganzen Irrsinn gesprengt. Sie schreit nicht.
Er berührt sie, die regungslos steht, auf geübte Weise. Wirkungsvoll, doch ohne Zärtlichkeit. und sie hält ganz still. Dann sackt sie in den Knien zusammen. Er hebt sie auf den Toilettensitz.
"Come" sagt er, während er sie an den bewussten Stellen berührt. Und starrt ihr kühl in die Augen. Sie "kommt" tatsächlich. Sagt es ihm nicht. Zeigt es ihm nicht. Es ist alles mechanisch. Nicht einmal schön. Sie fühlt sich schlecht. Brennend vor Scham. Sie zittert.
Kurz danach geht er. Ohne ein Wort. Abrupt. Er hat eigentlich nichts für sich gewollt, denkt sie. Ihre Fühllosigkeit, die grenzenlose Angst vor dem Nichts hat er aber irgendwie für diesen Augenblick durchbrochen.

Sie sieht durch die halb geöffnete Toilettentür, wie er draußen am Waschbecken sich rasch die Hände einseift und reinigt. Mit den Fingern fährt er sich einmal durchs Haar, reibt mit einem Taschentuch an einem Fleck herum, der von ihrer Wimperntusche auf sein Hemd geraten ist und geht zu den anderen.

Sie ... sitzt reglos auf dem Klosettdeckel. Schwer spürt sie die Tränen kommen, die sie nun nicht mehr im Hintergrund der Augen zurückhält.
Sie sitzt noch eine Weile da. Hat sich selbst eingeschlossen. Später schleicht sie über den Hof auf die Straße. Damit sie niemandem von der Gesellschaft in die Arme läuft.
Gott sei Dank ... es ist dunkel geworden im Freien. Sie hastet zu ihrer Pension.

*



18
SOFIA IST EINE SCHLAUE JUNGFRAU

Am nächsten Morgen reißt sie sich gewaltig zusammen, als ihr vor ihrer Pension Sofia über den Weg läuft, eine Griechin, die in der Boutique arbeitet, in der Minou sich Sandalen gekauft hat. Die junge Frau hat sie schon einmal in ihr Haus eingeladen. Doch Minou ist nicht hingegangen. Diesmal redet Sofia so lange schwungvoll auf sie ein, bis sie mitkommt. Sofia serviert Kaffee, süßes Backwerk, danach noch süßeren Likör. Sie hat im Haus der Mutter ein eigenes Reich. Zwei ineinandergehende, kleine Zimmer. Weißgetüncht alles bis in die Nischen, die Wände geschmückt mit gerahmten, vergilbten Portraits der Vorfahren und bräunlich patinierten, düstergoldenen Ikonen. Auf einer Anrichte steht ein nagelneues Grammophon. Eines, das automatisch mehrere Platten hintereinander abspielen kann. Was zu der Zeit wohl überall auf der Welt ein besonderer Besitz ist, auf einer Insel in der Ägäis aber bestimmt ein großartiger Luxus. Und sie besitzt amerikanische Disks:
‚Diana‘ von Paul Anka, ‚Twilight Time‘ von den Platters.'Love me tender‘ von Elvis gesungen, 'Writing love letters in the sand' von Pat Boone. Und noch ein paar andere: 'Love is a many splendored thing', 'Autumn leaves', 'Memories are made of this.' 'I'm the great pretender', Alles Hits. Am allerlautesten, andächtig geradezu aber schmettern die beiden Domenico Modugnos: 'Volare' durchs Haus, den Superhit. Ein Lied das alle anderen überglänzt. Man hört es sogar hier im tiefen Griechenland aus den Radios tönen: 'Volare, oh oh, Cantare oh oh oh oh':

Credo qu'un sogno cosi non ritorna mai più
mi dipinto la faccia e i mani di blue
puis commincavo a volare ...
più in alto del sole e ancora più su
mentr' il mondo spariva lontana la giù
e volavo, volavo ...

und der Refrain:

volare ... oh, oh ...
cantare ... oh, oh, oh, oh ...
Nel blue dipinto di blue.
Felice di stare la su ...

dröhnt es durchs Haus und die zwei Mädchen schmettern es so heftig mit, dass Sofias Mutter mit dem Finger am Mund herbeiläuft. "Pst ... die kleinen Brüder schlafen!"
Die Worte des Weltschlager übersetzt Minou der Griechin von der italienischen Originalfassung ins Englische. Sie ist stolz auf ihre Italienischkenntnisse.
Sofia ist stolz auf ihr Englisch, das sie sich aus Büchern und durch Plaudereien mit Touristen im Souvenirladen angeeignet hat, wo sie regelmäßig aushilft. Sie wird bald nach Amerika gehen, sagt sie.
Das Haus hier gehöre sowieso nicht ihnen, sondern einem geizigen Onkel und sie brächten kaum das Geld auf, um ihm ein wenig Miete zu zahlen, sagt Sofia. Ihr Vater sei gestorben. Da sei sie fünf gewesen. Eines Morgens sei er mit einem Dutzend anderer Männer vom Fischfang nicht mehr heimgekehrt. Der Meltemia habe wahrscheinlich das Boot verschlungen. Seither sei die Familie arm. Wirklich arm.

"Weißt du, wie es ist, wenn man kaum etwas zu essen hat? Jetzt habe ich aber amerikanische Freunde", sagt Sofia. "REICHE Männer, die als Touristen dagewesen sind."
Natürlich habe sie mit ihnen geflirtet, erzählt sie. Wahnsinnig geflirtet. Man dürfe sich ihnen aber nur ja nur nicht hingeben.
"Ach Männer sind auch mit Kleinigkeiten zufrieden! Mit Händestreicheln und Wangenkuss. Ich bin keusch ( innocent ) und smart", sagt Sofia stolz.
New York, San Franzisco und Tampa in Florida sind Sofias Traumstädte. Es sind gleich drei 'americanos', mit denen sie (brief)befreundet ist. Keiner weiß vom anderen. "Sie haben mir alle drei einen Antrag gemacht. Und einer hat schon Geld geschickt für die Überfahrt.
Sie zeigt Minou Fotos.
"Sieh her, dieser ist es, William Schultz. Ich halte ihn noch eine Weile hin, schreibe, meine Mutter sei krank. Im Frühjahr werde ich vom Piräus mit der Queen Elisabeth nach New York reisen. Dort werde ich zuerst ihn besuchen. Wenn er reich genug ist und ein so freundlicher Mensch, wie es scheint, werde ich ihn heiraten. Wenn nicht, fahre ich weiter nach San Franzisco. Dort wartet der andere, Frank ... Dann gibt es noch Mister Smithban. Einer wird schon für mich gut sein.
"Ich bin vierundzwanzig", sagt Sofia, "und eine schlechte Braut für einen griechischen Mann. Weil ich keine Prika ( Aussteuer) habe und auch bereits einmal verlobt war. Mein Verlobter hat mich verlassen und alle hier wissen es. Das ist eine große Schande. Ich bin keine gute Partie und kann höchstens noch Witwer abbekommen mit einem Haus voller Kinder. Da nehme ich doch lieber gleich einen reichen Amerikaner. Meine kleinen Brüder und meine Mutter liebe ich und lasse sie nachkommen. Auch sie sollen ein besseres Leben haben in der schönen Welt.
Sie schaut noch einmal mit Minou zusammen die Fotos an: "Sag die Wahrheit", drängt sie, "du denkst, sie sind unstattlich und alt, diese Männer, auch Frank?"
"Ich weiß nicht ... ich glaube nicht, dass eine solche Heirat einen glücklich macht."
"Doch", sagt Sofia, " Nimm William zum Beispiel. Ich werde fair zu ihm sein. I will do many things to make him happy and I give him a child ... In zwei, drei Jahren schaue ich dann nach Leidenschaft, Klugheit, Sex, nach einem attraktiven Mann. Nach dem hübschen Doktor oder Professor". Sie grinst.
"Meine Sofia ist verrückt", ruft lachend auf griechisch die Mutter, die das alles mit angehört hat. Stolz blitzt aus ihren Augen.

*




19
MARY UND EDITH SIND AUCH DA

Mary und Edith sind auch wieder in Minous Tagesablauf getreten. Man trifft sich zum Mittagessen in wechselnden, vorher verabredeten Estiatorias, wo man gut und billig speisen kann. Oder die Frauen marschieren morgens gemeinsam zum Baden nach Suvlia, einer kleinen Bucht nah bei Paros-Stadt, wo es sogar Delfine und Haie geben soll. Lachende Delphingesichter haben die Mädchen tatsächlich im Wasser gesehen, Haiflossen noch nie.

Nie mehr lassen sich die drei auf die Gesellschaft abenteuersüchtiger Männer ein, seien es nun Inselmachos oder fremde, urlaubende Don Juans, die hier ihr Unwesen treiben. Jetzt tun sie sich zusammen. Notgemeinschaft. Nicht nur Minou, auch Mary und Edith sind durch Schaden klüger geworden. Wenn Typen sich einmischen wollen, werden sie gnadenlos abgewimmelt. "Die Kerle haben eine Schwarte, so dick wie Nashörner", sagt Edith. Ja, man muss schon derb werden, damit sie endlich begreifen, dass sie unerwünscht sind. Edith schafft es!

Natürlich kommt die Rede auch auf das ins Wasser gefallene Picknick.
"Versetzt haben sie uns, die Bastarde", ruft Mary, "den ganzen Morgen haben wir wie Idiotinnen mit unseren angemieteten Mulos gewartet. Als sie um elf immer noch nicht da waren, sind wir zur Promenade gegangen. Haben zum Glück ein paar Landsleute getroffen. Mit denen zusammen sind wir dann losgezogen."
"Zum Tal der Schmetterlinge?", fragt Minou.
"Zum Tal der Schmetterlinge. Aber erst, nachdem Jorgos uns verraten hat, er habe Tom und Jerry vor Sonnenaufgang fortreiten sehen. Angetroffen haben wir sie allerdings da nicht. "
"Weißt DU vielleicht mehr, Minou?" Mary rückt neugierig näher.
O Gott, was soll Minou jetzt sagen? "Da ist für uns drei scheinbar alles gründlich schiefgelaufen", sagt sie.
"Ja, und Edith war fuchsteufelswild, haha, hat den ganzen Tag um sich gestochen wie eine Hornisse", grinst Mary, sie ist nämlich ziemlich verliebt in Jerry.
"Ach ... das ist schon vorbei", sagt Edith, "aber warum haben sie uns den Trip überhaupt vorgeschlagen? Sie hätten es nur zu sagen brauchen, dass wir sie anödeten und sie längst hinter diesen Yankee-Weibern her sind."

Es gibt keinen Kontakt mehr zwischen den Engländerinnen und den Männern aus Alexandria. Sie grüßen sich nicht einmal, wenn es zufällig zu unvermeidlichen Begegnungen kommt, denn in Parikia trifft man immer wieder an den gleichen Orten auf die gleichen Leute.
Bei Minou liegt die Sache anders. Ihr Herz jagt, wenn sie Jerry sieht. Dann versucht siedie Kühle zu spielen. Es wäre würdelos, wenn es aussähe, als ob sie ihm nachliefe. Aber ein paarmal standen sie sich gegenüber. Dann kam er zu ihr. Legte sogar den Arm um sie. Doch er ist immer in Gesellschaft der Amerikaner. Und eine gewisse Frau hält sich stets in seiner Nähe auf.
Manchmal küsst er Minou auf die Wange wie ein guter Freund. Das kann sie kaum ertragen. Ein so flüchtiger Kuss ... wo doch ihr ganzes Sein, all ihr Fühlen ihm täglich entgegentaumeln.

Jerry müsste nicht der Mann sein, der er ist, wenn er die Sehnsucht in den Augen der Kleinen übersähe. An der Art, wie sie ihm heftig wie ein Kind seinen Wangenkuss zurückgibt, kann er ihre Zuneigung erkennen. Und ist unschlüssig.

*

Die Amerikaner, mit denen sie in Toms Begleitung zu Abend gegessen hat, laden Minou zum zweiten Mal ein. Sie wohnen auf einer Jacht, die ein Stück vor Antiparos im Meer ankert. Auf einem Motorboot schippern diese Leute zwischen ihrem Schiff und den beiden Inseln hin und her.
Einmal nehmen sie Minou mit hinüber zur Jacht. Es geht alles andere als snobistisch zu. Die kleine Clique grillt an Bord selbstgefangenen Fisch. Mit Brot, Salaten und Wein ist es ein gutes Mahl, das man an einem rustikalen Tisch draußen auf Deck verzehrt. Später hört man Musik, badet im Meer, liegt auf gescheuerten Planken in der Sonne. Pärchen verschwinden irgendwann schmusend in den Kabinen, Minou ist mit einem jungen Typen allein auf Deck zurückgeblieben, doch der zeigt auch Gelüste.
Sie ist erschöpft ... innen. Das aufregende, sonnendurchtränkte Leben scheint ihr trist und öd, mehr noch ... bedrohlich. Der Amerikaner, an den sie keinen Gedanken verschwendet, hat mit soviel Gleichgültigkeit, ja Abschottung des neuen Mädchens nicht gerechnet. Hat er sie etwa für ein Flittchen gehalten? Immerhin bringt er sie auf ihre heftige Bitte hin, schon vor Einbruch der Nacht mit dem Motorboot zurück nach Parikia.
Minou ist danach die Lust auf die Gesellschaft dieser Leute vergangen. Sie wird auch nicht mehr eingeladen.

*

Paros ist leer und öd geworden. Denn Jerry ist seit Tagen aus der Touristenszene verschwunden. Minou befürchtet, er sei abgereist. Das löst in ihr überbordende Traurigkeit aus und eine angstmachende Leere. Das ist unnormal, so zu empfinden - das weiß sie - wo doch Jerry eine zwielichtige Gestalt ist, wenn sie ihn mit den Maßstäben der Marienstock-Moral bewertet. Außerdem scheint er wirklich nichts für sie zu empfinden. Von einer Amerikanerin erfährt sie, dass er sich mit irgendwelchen Leuten auf einem Seetrip befindet und wiederkommen wird. Sein Zimmer im Hotel habe er nicht aufgegeben.
Gott sei Dank. Gott sei Dank.
Aber Tomas Mathoggi ist noch da. Seine Präsenz ängstigt Minou.

Eines Mittags fängt er sie am Tor ihrer Pension ab, als sie gerade ausgehen will. Minou hat die Wirtin gebeten, ihn nicht mehr hereinzulassen. Die hat sich auch daran gehalten. Obwohl er schon öfter dagewesen ist. Minou hat beschlossen, konsequent zu sein und ihm aus dem Weg zu gehen.

Es ist eine dunkle Energie um ihn ... sie fürchtet sich ...
Ein heißer Tag. Tom hat Minou aufgelauert. Er packt sie, als sie um die Ecke biegt, bei den Oberarmen, drückt sie mit den Schultern gegen eine weißgekalkte, sonnendurchglühte Mauer. Ihr Rücken brennt.
"Ich habe dir ein Angebot gemacht, hast du es schon vergessen?
Ich will zumindest eine Antwort!", sagt er, "du bist doch im Innern weniger abgeneigt, als du mir vormachen willst." Er lächelt kühl. Minou wird schlecht. Er hält sie fest:
"Komm, wir gehen essen, wir müssen reden."
Er zieht sie mit in ein Lokal. Sie ist folgsam, demütig, halb kaputt. Lässt sich von ihm eine Mahlzeit bestellen, was sie nicht hätte tun sollen. Denn er fasst es womöglich als Einlenken ihrerseits auf. Zum Glück sind da noch seine amerikanischen Bekannten, die derb hereinpoltern, die restlichen Stühle um ihren Tisch belagern und ein ziemliches Tohuwabohu veranstalten. So kann Minou dem Gespräch mit ihrem Vergewaltiger ausweichen. Sie lässt sich nach dem Mahl von einem dieser Boys bis vor ihre Pension begleiten, nur um Toms Nähe zu entgehen.
Am nächsten Tag bedrängt er sie wieder ... Sie spürt selbst, wie verwirrt sie ist. Wenn Mathoggi aus meinem Leben verschwindet, denkt sie dumpf, wird auch Jerry für mich verloren sein. Sie weint abends im Bett. Eigentlich ist sie permanent am Rand des Zusammenbruchs.

*

Ein oder zwei Tage danach, am Mittag – Minou liegt im Bikini auf ihrer Terrasse - hört sie plötzlich schnell ausgesprochene, griechische Worte, auf die die matronenhafte Wirtin mit einer sonst nie gehörten Koketterie antwortet. Augenblicklich ist ihr klar: das ist Jerrys wohltönende, alle Hindernisse aus dem Weg räumende Stimme. Minous Herz kommt aus dem Takt und springt ihr bis in den Hals.
Dann klopft es an ihrer Zimmertür.
"Wait a moment", ruft sie betont gleichmütig und zittert am ganzen Leib.
Sie wird Jerry nicht im Badeanzug entgegentreten. Sondern korrekt angezogen. Wie es sich gehört. So- halbnackt vor seinen Blicken zu stehen, das wäre billig. Dass sie seriös ist, will sie ihm zeigen ... nach allem, was war.

Schnell wirft sie den Bikini ab ... Sie könnte auch einfach etwas darüberziehen, aber er hat am Oberteil Rüschen und würde unter einem Kleid auftragen. Und SCHÖN aussehen will sie schon.
Die gerade frisch gewaschene schwarze, sexy Nylonwäsche zieht sie an. Und darüber das bis zum Hals geschlossene Blütenkleid. Weil er einmal gesagt hat, das fände er hübsch. Sie malt ihre Lippen kräftig mit leuchtrotem Stift nach. Da sehen ihre Zähne wunderbar weiß aus. Alles tut sie mit bebenden Fingern. In fliegender Eile. Síe hat Angst, er könne es sich überlegen und weggehen. Schnell hangelt sie unter dem Bett nach ihren hochhackigen Schuhen. Schlüpft hinein, bevor sie ihm endlich die Tür aufsperrt.



*


Was vorausging:

Sommer 1960. Das deutsche Mädchen Minou hat einige Jahre in Sizilien verbracht. Nach einer 'verhängnisvollen' Affäre mit dem undurchsichtigen Ernando Sascala und ihrer verhinderten Hochzeit mit Nikos Sakatis, einem griechischen Geschäftsmann, kommt sie nach Athen. Später, auf Ägina lernt sie die beiden Abenteurer Tom und Jerry und die Griechin Elena kennen. Sie verleben schöne, gemeinsame Tage in der Ägäis.
Als Elena abgereist ist, begleiten die beiden Männer Minou nach Hydra. Dort läuft sie ihnen quasi davon ... vielleicht nur deshalb, weil die Don Juans sich in immer neue Frauengeschichten einlassen. Auf Paros angekommen, muss Minou aber feststellen, dass Tom und Jerry bereits dort auf sie warten. Wieder sind sie in weiblicher Gesellschaft ... diesmal mit zwei jungen Engländerinnen im Schlepptau, Mary und Edith. Offensichtlich sehr erfreut, begrüßen die beiden Männer das deutsche Mädchen. Zu fünft sitzt man lange beim Abendessen zusammen und beschließt für die kommende Woche einen gemeinsamen Maultier-Trip und ein Picknick ins Inselinnere zu unternehmen.
Tom und Jerry holen Minou am vorgesehenen Morgen ab. Sie teilen ihr mit, Edith und Mary seien leider unerwartet nach England zurück beordert worden, darum müsse man jetzt zu dritt losziehen.
Bei der Rast auf einem verlassenen Hochplateau kommt zwischen dem deutschen Mädchen und den Männern alles anders, als Minou es sich vorgestellt hat. Verletzt und beschämt geht Minou aus einem ‚Liebesnachmittag‘ hervor. Jerry rettet ihr Leben und kümmert sich eine Weile um sie.
Langsam erholt sich Minou.
Tomas Mathoggi taucht wieder auf und macht ihr ein Angebot,  das sie sehr verwirrt.


20
JERRY LOVE

Dann ist Jerry im Zimmer. Seit ihrer Rückkehr nach Parikia sind sie sich nicht mehr allein begegnet.
Die fremdartige Schönheit des Mannes wirft Minou um. Wieder einmal und im wahren Sinn des Wortes. Sie verliert das Gleichgewicht. Schwankt gegen den Schrank. Muss sich festhalten. Der Puls rast ... klopft in den Gliedern. Wild tost ihr Herz.
Sie spürt nur eines, sie muss sich ihm entgegenwerfen. Dass er sie in seinen Armen auffängt. Natürlich wirft sie sich ihm nicht entgegen. "Press mich doch endlich an deinen Körper, schlaf mit mir ... ", möchte sie zu ihm hinschreien. Natürlich sagt sie kein Wort. Seit sie SEINE Nachtseite kennt, ist es ihr besonders wichtig, dass er SIE für ein 'anständiges' Mädchen hält.
Und er? Reißt sie nicht in seine Arme. Steht bei der Tür mit diesem ruhigen Gesicht Steht da, wie der Leuchtturm an einem entfernten Strand. Was soll sie sagen. Stammelt: "Entschuldige bitte, mein Zimmer ist so durcheinander" Und dann ganz unzusammenhängend: "Ich habe Limonade, möchtest du?"
Er lässt sich von ihr ein Glas einschänken, nimmt einen kurzen Schluck. Da gießt sie schon nach wie eine bekloppte Hausfrau.
"Wie geht es dir?", fragt er auch nicht gerade originell, "bist du wieder ganz gesund?"
Sie nickt ohne große Überzeugungskraft.
Sie machen ein bisschen small-talk ... unbedeutend. Aber smalltalk ist es nicht, weswegen er gekommen ist.
Er steht jetzt mitten im Raum. Nervös. Hebt von der gläsernen Tischplatte metallische Gegenstände auf: ihr Armband, den Kaffeelöffel, eine Geldmünze. Lässt sie dann jeweils leise scheppernd an ihren Platz zurückfallen.
"Ich hab gehört, Mathoggi will dich mitnehmen nach Alexandria ... stimmt das?"

Minou zuckt schweigend die Schultern.
"Bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen! Du wirst von diesem Mann wegbleiben! ..."
Ist da Besorgnis oder gar Eifersucht in seiner Stimme? Sie hört ihm so gern zu.
Sie erzählt nichts von Mathoggis Heiratsantrag. Den hat sie ohnehin nie in Betracht gezogen.
"Wenn du nach Alexandria fährst, stirbst du", sagt Jerry einfach.
Alexandria! War er es doch, Jerry, der ihr zum ersten Mal von der Stadt erzählt hat. Einmal hatte auch er lachend gesagt, er wolle sie dahin mitnehmen. Das war zu Zeiten Elenas gewesen. Minou träumte seither von Alexandria. Davon, die Stadt mit Jerry zu erleben. Die Liebe mit ihm zu erleben! In Alexandria. Das war vor dem ‚Geschehnis‘.

Sie sah sich bereits mit ihm durch die menschenwimmelnden Basare streifen. Ihr Gesicht hinter Schleiern verborgen wie arabische Frauen das tun. Dann das stimmentosende, lärmverrückte, nachmittägliche Viertel am großen Hafen. Sie würden es durchqueren. In stille Innenhöfe würde er sie führen, in kühle, mystische Räume, duftend von Inzens- und Räucherkerzen. Über grün-blaue Mosaikböden würden sie barfuß schreiten, wo Liegepolster aus Goldbrokat auf sie warteten, Gemächer aus tausendundeiner Nacht. Verborgene Zimmerfluchten, in die das Licht durch opake Fenster orangerot hereinfällt. Dort würde er sie nehmen. Nein, größeres kann es nicht geben, als von ihm genommen zu werden. Dort würde er ihr Beherrscher sein. Er, so überlegen ... herabschauend auf sie ... doch mit liebendem Blick.

Minou gibt auch jetzt nicht auf. Ihre Gedanken rotieren im Kreis: Jerry. In seinem Dunstkreis MUSS sie bleiben. Weiter gehen ihre Lebenswünsche nicht. Jerrys Arme sind ihr Ziel. Sein Körper, seine Augen, seine Stimme sind das Ziel. Sonst hat sie keins.
Es ist, als habe der einschneidende Nachmittag auf der Hochebene bei Lefkes sie noch fester an ihn geschmiedet.
Das ist nicht normal, denkt sie vage, ICH bin nicht normal und ich kann mich doch nicht umkrempeln.
Die Worte der Stiefmutter - nie gelöscht aus ihrem Gedächtnis - kommen wieder:
"Du ... von Grund auf verdorben
ohne Frauenehre,
dein Charakter ... verbogen."
Lisa wusste es schon immer: sie ist unmoralisch UND ihr fehlt der Stolz. Lisa hat Recht. Da ist der Wunsch, von Jerry unterworfen zu werden. Ein Etwas in ihr, das nach seiner Härte und Überlegenheit schreit.
Jetzt bist DU mein König, mein Wüstenherrscher, denkt sie, ich weiß nur eines, ich WILL, ich MUSS mich deinem Willen ausliefern. Gebrauche mich zu deinem Vergnügen. Oder liebe mich zärtlich und ernst. Es steht in deiner Macht. Ich bin mit allem einverstanden. Ich MUSS es spüren, wie du mit deiner Kraft in mich dringst. Krank bin ich vor Sehnsucht nach dir. Ganz gleich, was da in Lefkes geschehen ist. Was ich für dich fühle, ist eine Sache von Leben und Tod. Eine Sache von Leben und Tod!! ... Mein Schicksal hängt von dir ab, davon, ob du dich meiner annimmst. Ich sehe ja ein, dass ich keine bin, die man wahnsinnig lieben kann, dennoch ... ein kleines Kätzchen würdest du ja auch gern mögen! Wenn es niedlich und hübsch genug wäre. Und das bin ich doch! Lass mich wenigstens dein Kätzchen sein. Verstoß mich nicht! So etwas hätte sie ihm am liebsten in sein kühles Gesicht hineingeschrien ... Es ist ihr heiliger Ernst mit ihren Gefühlen für Jerry. Aber noch ist sie nicht vollends von allen guten Geistern verlassen. Sie konfrontiert ihn nicht mit solchen Ausbrüchen. Gott sei Dank auch.
"Warum bin ich gekommen?", wird sich Jerry fragen, denkt sie, und vielleicht bereut er es schon hier zu sein?
Minou bemerkt, dass sein Blick zur Tür schweift.

Um Gottes Willen, er will gehen ... Nur das nicht, nur das nicht!
"Tomas hat gesagt, dass du nach mir gefragt hast."
"Ja!"
"Deswegen bin ich hier, Minou, um dir zu reden. Da ist etwas, was du nicht begreifst. Du hast keine Ahnung, wer wir sind. Mathoggi ist ein Sadist und ich ich bin auch nicht dein happy-end-lover. Ich weiß ... wegen mir wärst du sogar bereit, mit Tomas nach Ägypten zu gehen, in der Hoffnung, dass ich mich dort um dich kümmere."

Das stimmt. Kann er in ihren Kopf hinein sehen? Minou muss es sich im Inneren gestehen, genau diesen Gedanken hat sie gehabt ...

"Mädchen vergiss Alexandria! Dort werde ICH dein Liebhaber nicht sein, auch nicht dein Freund. Schon gar nicht dein Beschützer!"

Da bricht die Hoffnung vollends zusammen, die unter Tomas Häme vor ein paar Tagen bereits so sehr geschrumpft war. Alexandria wird es nie geben ... Ihr schöner, orientalischer Traum zerplatzt jetzt vollends.
"Ich bin kein reicher Scheich aus dem Morgenland", sagt jetzt der Mann ihrer Träume. "Und ich habe Frau und Kind zu Hause, hörst du ... FRAU und KIND. Aber ich verrate dir auch etwas ... und das ist die Wahrheit: Ich mag dich. Mag dich mehr als die anderen Mädchen, die ich hier auf den Inseln gehabt habe."
"Trotz Lefkes?"
"Lefkes ... ach, das hatte ich gerade vergessen .... ja, trotz Lefkes", sagt er dann.
"O Jerry!" Sie ist dankbar, weil er damit dem Vorfall jenes Nachmittags ein wenig den Stachel nimmt.

"Aber jetzt hör zu", sagt er – wieder ganz der kühle, überlegene Mann der Vernunft: "Ich kann dir nicht helfen. Eine wie du passt mir nicht in den Kram! Für dich gibt es in meinem Leben keinen Platz. Auch wenn ich es wünschte ... was du suchst, kann ich dir nicht geben. Wenn du lockerer wärst, dann vielleicht! Doch so ... nein. Dennoch werde ich nicht zusehen, wie Mathoggi dich total kaputtmacht. Du bist eine, jeder kann dich tottreten wie einen Schmetterling. Du bist weich, man braucht nicht einmal sehr brutal zu dir sein, man könnte dich auch auf lässige Art zerstören, man kann eigentlich alles mit dir tun ... Du bist hilflos. Was hast du dem Leben entgegenzusetzen? Du bist KLEIN. Du weißt, was ich meine. Rette dich. Geh' dorthin, wo deinesgleichen sind! Ich rate dir, mach einen weiten Bogen um Tom, um mich auch, mach dich aus dem Staub, bevor es zu spät ist!"

Da wird ihr schwindelig. Die verdammte Enttäuschung. die Hoffnungslosigkeit! Die hoffnungslose Sehnsucht nach ihm. Bestimmt bemerkt er ihren Zustand nicht, denn es soll so aussehen, als sei sie die Herrin der Lage. Souverän hier in ihrem eigenen Zimmer.
"Jerry, ich bin dir nie nachgelaufen, ... du mir aber schon", sagt sie leise und sieht flüchtig, wie er fast warm, fast jungenhaft ... lächelt.
Da rollen ihr die Tränen aus den Augen. Nicht, als ob sie weinte. Die kugeln ihr nur einfach lautlos über die Wangen. Ohne, dass sie eine Miene verzieht. Sie wendet schnell das Gesicht von ihm ab, dreht es zum Fenster und tut, als ob sie hinausschaut. So bemerkt er nichts. Wenn man keine Miene verzieht und das Gesicht starr ist, fallen Tränen aus der Ferne nicht auf ...
Sie spürt, er steht immer noch reglos da. Sie spürt, er zieht sie wie ein Magnet zu sich heran. Obwohl er sich nicht bewegt, keine Anstalten macht, sie zu berühren.
Dann hängt sie auf einmal an seinem Hals. Wie sie da hin gekommen ist, weiß sie nachher nicht. Sie schluchzt. Jetzt ist alles verdorben.

*

Als sie am nächsten ‚Morgen‘ aufwacht, zeigt der Reisewecker zwölf Uhr Mittags. Minou ist ganz und gar ausgeschlafen. Fühlt sich leicht wie eine Feder. Sie räkelt sich unter dem Laken, wie ein schnurrendes Kätzchen in seinem Korb. Fühlt sich nach einer halben Minute jedoch nicht mehr so gut. Als nämlich ihr kleines Gehirn zu arbeiten anfängt und sie sich erinnert. Da fährt sie hoch. Da spürt sie den Nachklang seines Liebemachens in ihrem aufgerauhten Leib. Aber sie ist allein. Ein starker Hauch von Aftershave und Jerrygeruch hängt noch im Bettzeug, im Kissen. Seine blaue Canvas-Tasche, steht nicht mehr in der Ecke, wo er sie am Abend hingestellt hat. Die Zigarettenschachtel auf dem Nachttisch ist auch verschwunden. Er hat seine Spuren getilgt. Sie, deren Schlummer seit Wochen so leicht gewesen ist, dass jedes kleinste Geräusch sie aufweckte, muss geschlafen haben wie ein Kind. Sie hat es nicht bemerkt, als er fortging.

Schnell zieht sie sich etwas über und ist schon auf der Gasse. Das kann er doch nicht machen, das kann er doch nicht machen, einfach wegrennen nach so einer Nacht!
Vielleicht ist er nur schnell hinausgegangen, um Zigaretten oder Lebensmittel für ein verspätetes Breakfast zu besorgen! Aber er ist nirgendwo zu sehen. Da läuft sie, ohne groß nachzudenken, zum Meer, zur Promenade. Nach gar nicht langem Suchen bemerkt sie seine Gestalt an einem Tisch im Hof einer Taverna. Er ist so groß und auffallend. Sie hat gewusst, dass sie ihn da irgendwo finden würde. Minou bleibt, in einen Hauseingang geduckt, stehen. Er sitzt beim Mittagessen, bei den Amerikanern und da ist diese gewisse Frau an seiner Seite ... immer wieder klatscht sie ihm heftig mit der Hand auf seine Bluejeanschenkel, während sie ihm wahrscheinlich etwas sehr Lustiges erzählt, über das sie viel mehr lacht als er.
Wie gut, dass ich mich versteckt habe und nicht gleich hingerannt bin, denkt Minou, denn sie sieht: diese Frau ist die gleiche, mit der er damals am Abend in Theos Lokal gewesen ist. Sie erkennt die violett lackierten Krallennägel, das streichholzkurze Blond-, nein Weißhaar, die zuckerige Haut, deren extreme Helle vom reichlich darübergestäubten losen Puder herrührt. Verschattet, blaugrün umschminkt, aber leider sehr schön sind die dunklen Augen. Eine Frau, die zu allem Überfluss auch noch 'Leilah' heißt.
Leilah, nicht wirklich hübsch, statt dessen auf interessante Weise dekadent, ist eine, die bestimmt zuviel trinkt, raucht, die die Nacht zum Tag macht.
Das hat Minou schon an dem Abend bei Theo‘s gespürt: die gehört zu der gefährlichen Sorte, hat eine Ausstrahlung, die selbst Jerry wie ein braves Hündchen in ihre Nähe treibt. Mit ihr kann ich nicht konkurrieren, denkt Minou.

Die anderen Ami-Typen am Tisch sind überlaut. Minou, während sie im Verborgenen zu ihnen hinüberspäht, kennt sie alle, doch ihr fehlt, wie schon gesagt, der Mut, hinzugehen. Brians dröhnendes Gelächter bricht aus dem Geschwätz seiner Freunde heraus. Er reißt ständig Witze. Widerlich. Und dann brüllen die anderen. Aber so sind sie. Touristen beim Mittagessen drehen irritiert die Gesichter in ihre Richtung. Griechen starren verachtend auf den ganzen Klüngel.
Da sieht Jerry plötzlich auf die Uhr. Mit ungeduldigem Schnippen seiner Finger ruft er den Kellner und macht die Geste des Rechnung-Schreibens.
Ah, er will zahlen! Minou muss schnell weg jetzt ... er darf nicht sehen, dass sie ihm hinterherspioniert hat. Sie rennt zur Pension. Vielleicht wird er gleich zurückkommen, denkt sie.

Nach dem kurzen Heimlauf fühlt sie sich wie erschlagen. Der ganze Impakt der Nacht bricht auf einmal über sie herein. Jerry hat sie vollkommen durcheinandergebracht, aus der Fassung geworfen ...
Wie ist es gestern abend nur geschehen? Hat er sie gegriffen, ist sie auf ihn losgetaumelt, hat sie sich ihm an den Hals geworfen? Sie weiß es nicht mehr.

*
Jerry hatte plötzlich den Drang verspürt, sie sich doch noch zu nehmen. Was Thomas ihm vor einigen Tagen erzählt hatte, klang ziemlich unwahrscheinlich ... nämlich, dass er sie wieder gehabt hatte, im Ladies-room bei Theo’s, und diesmal ganz mit ihrem Einverständnis.
Wenn das allerdings stimmte, wenn sie das hatte mit sich machen lassen, dann warf das ein neues Licht auf ihren Charakter , dann war auch sie nur eine geile Pussy von vielen, dann konnte auch er sie sich ohne große Gewissensbisse unter den Nagel reißen ...
Und sie war auf ihn zugekommen mit dieser unausgesprochenen Bitte in den Augen und hatte sich eng und verlangend an seinen Körper geschmiegt ...

Er trägt sie also zu ihrem Lager. Wortlos. Auf seine Arme gebettet trägt er sie. Vorsichtig, wie es sich für einen Mann gehört, der es mit einem sentimentalen jungen Ding zu tun hat. Einem das zittert und bebt ... Zu dieser Kleinen in dieser Nacht freundlich zu sein, hat er sich vorgenommen.
Er hängt ihren lachsfarbenen Schal aus Organza, der gerade herumliegt, über die Wandleuchte.
"So machen es die Mädchen in den Hafenvierteln", sagt er, "sie breiten etwas Rotes über die Lampe. Das ist Lovelight , Liebeslicht."

Minou sieht über ihrem Gesicht seinen Kopf. In Goldfarbe getaucht: Gold und Kupfer. Magisch. Seine noch immer fremden Augen, die sie im Rotlichtschein der Lampe betrachten. Er lächelt. Im dunklen Gesicht die weißen Zähne, seine edle Nase eines Inkakriegers. Aber die Augen. Seine Augen. Die registrieren alles, wissen alles von ihr, mustern sie aufmerksam. Auf IHRE Augen küsst er sie. Allmählich dringt er in sie ein, langsam, vorsichtig ... "Ich will dir nicht wehtun." Es ist schön, sie kann nicht mehr an sich halten, fängt an, ihre kleinen Schreie auszustoßen.
Seine Augen sehen auf sie herunter und furchtbar in rote Lohe getaucht, ist über ihr sein schönes Antlitz: vertraut und doch fremd wie das Universum.
Der Schmerz, den er ihr zufügt - sie hat gewusst, dass es wieder schmerzvoll sein würde, darauf war sie vorbereitet - tut ihrer Ekstase keinen Abbruch ... Er bringt es fertig, sie bis in ihren innersten Kern aufzuwühlen.
Jerry verschafft ihr große Lust.

Mehr noch, ihr Herz ist schwer vor Liebe. Hingabe. Hingabe.
Wenn er sie auch tötete, sie würde sich nicht wehren.

"Das kleine Ding: es bebt wie ein Blatt im Wind. Es heult", denkt Jerry. Da muss er ihr die Tränen von den Augen küssen.
Man kann sie so leicht mit Stößen erschüttern, aus den Fugen heben ... Ihr Körper bäumt sich, wird starr. Dann ihre kurzen, spitzen Schreie. Er hört sie.
"Your sweet little poussy", sagt er.

Minou spürt: in seinem Orgasmus triftet er von ihr weg, weit weg, in ein Land, in das er sie nicht mitnimmt. Später bleibt für sie Zärtlichkeit. Und Freundlichkeit. Er streichelt sie ...
Bald danach dringt Jerry wieder in sie ein.
Tief. Wie es tiefer nicht geht. Bis auf den Grund liebt er sie. Verströmt sich. Wo er sie doch in Wirklichkeit bestimmt nur halb so sehr begehrt, wie sie ihn!
Höhepunkte verschafft er ihr. Eine ganze Kette davon. So leicht. Dass sie nur so staunt. Nicht, dass er es groß darauf anlegt. Auch Jerry kommt mehrmals in dieser Nacht. Aber nicht so oft wie sie.
Ihr Herz stellt sich sperrangelweit auf für ihn. Es ist, als habe er auch sonst all ihre Schleusen geöffnet. Immer wieder schießt ihr eigener, warmer Saft aus ihr heraus. So etwas gibt es? Als ob sich ihr Leib wie eine Schote auftue und süße, reife Samenkörner hinausschleudere ... Alle ihm entgegen. Das ist sie nicht gewohnt. Ein so großes Ausmaß an Lust!
*
Der Mann betrachtet neugierig, lächelnd ihr glühendes, kleines Gesicht. Er beugt sich herunter, küsst sie. Er streicht ihr die Haare aus der heißen Stirn, streift mit den Lippen ihre Augenlider, die geschlossenen, während er sie nimmt.
Jerry verlangt von ihr nichts. Was er mit ihr macht, ist die einfache und pure Art des Lovemaking, die kein Drumherum nötig hat, keine raffinierte Technik. Immer hält er sie fest in seinen Armen. Geborgen. Da ist sein Gesicht nah dem ihren, sind seine Augen ihr zugewandt. Zuwendung UND Sex, das ist es, was jedes Mädchen nötig hat, denkt er. Ich bin heute Nacht der Hüter eines kleinen Mädchens.

*

Er lächelt in ihre Augen hinein. Verlangt nichts von ihr, nur wortlos, dass sie sich ihm überlässt. Es ist genau die Art von Lovemaking, die sie erträumt hat. Woher weiß er das so genau?
Wie gut und herrlich wir doch zusammenpassen! Er ist der EINE, der einzige, ich liebe ihn und niemals mehr einen anderen, denkt sie. Ernando war nur der Vorläufer. Jerrys Liebemachen löscht alles aus, was war. Da lässt sie sich in seine Kraft hineinfallen, bebend. Gehalten von seinen Augen, seinen Armen.
Sie betet: Gott, gib mir den magischen Blick, damit ich sein Herz rühre.
Doch Gott gibt ihr nicht den magischen Blick. Jerrys Herz zu rühren, schafft sie wohl auch nicht. Aber sie hat so Aufwühlendes noch nie erlebt. Sie weint, so sehr liegen ihre Nerven bloß.
"Ich liebe dich, ich liebe dich, das ist wahr", stammelt sie am Ende der Nacht. Heult schon wieder. Er sagt nichts. Er saugt ihr die Tränen aus den Augen. Jene Worte sagt er nicht, auf die sie so lebensnotwendig wartet ...

Später küsst er die kreisrunden Wundstellen auf ihrem Rücken, von denen die Krusten zwischenzeitlich abgefallen sind. Die Zigarettenmale sind jetzt dunkelviolett. Auf ihrer Oberfläche hängen noch immer feine, weiße Hautfetzchen wie Spinngewebe. Nein, richtig heil sind sie nicht. Am wenigsten die zwei Wunden auf dem Rückgrat, von denen er vorsichtig das Pflaster abzieht. Die sind nach wie vor roh und offen und eitern ein bisschen. Jerry versorgt alles achtsam mit der Salbe, die ihnen der Arzt in Lefkes gegeben hat.
Er klebt frische Heftpflaster über die zwei Stellen.
Er sagt: "Narben werden bleiben", Und Minou: "Es ist schade, dass Tom sie gemacht hat. Wenn du es gewesen wärest, hätte ich sie als Andenken behalten. Aber ich kann ja so tun, als ob sie von dir wären."
"Sprich nicht so etwas Dummes!"

Manchmal, zwischen dem Liebemachen geht er zum Rauchen auf die Terrasse.
"Bleib doch im Zimmer, es stört mich überhaupt nicht!", ruft sie.
"Warum sollte ich einen Raum mit Qualm verpesten, in dem eine Frau nachher schlafen muss." In dem eine Frau nachher schlafen muss ... warum sagt er nicht :Wir.
Was meint er, hat er vor, wegzugehen, sie allein zu lassen?
Wenn er auf die Terrasse hinaustritt, rennt sie mit hinaus, nachdem sie schnell zuvor ihren Poncho übergezogen hat.
Das Meer, der Mond, die Brandung, das Wellenleuchten in der Ferne! Diese Nacht wird sie im Gedächtnis behalten ... Das Glück ... Sie steht eng an ihn gelehnt. Er legt seinen Arm um sie.
"Es ist schön, nackt unter den Sternen zu sein", sagt er, "komm, probier‘s mal ... Zieh das Ding aus."
Sie schüttelt den Kopf.
"Why aren’t you more casual? Warum kannst du nicht locker sein?"

Am nächsten Tag wird sie denken: Wie sehr muss ich ihn irritiert haben! Ich habe ihn ja keine Sekunde aus den Augen gelassen! Bin ihm auf Schritt und Tritt gefolgt.
Eher ist es aber so, dass er sie wie ein Magnet nach sich zieht. Sie kann nicht anders, als ihm wie ein Gänsejunges hinterherzulaufen, wenn er zum Rauchen den Raum verlässt.

In dieser Nacht, als sie und Jerry satt sind vom Liebemachen, da ist Minous Zuneigung zu ihm noch stärker als vorher. Wie ein Tintenfischweibchen möchte sie ihn mit tausend Armen umklammern. Wie eine Klette möchte sie sich festhaken an seinem angebeteten Körper. Sie möchte in seine Seele dringen, leise jedoch, stumm, ohne ihn zu stören. Am liebsten würde sie in seine Augen hinuntertauchen, für immer. Aber sie passt auf, damit sie ihm nicht allzu sehr auf die Nerven fällt mit ihrer Nähe.
Irgendwann muss sie in Jerrys Armen eingeschlafen sein, zufrieden, geborgen.
Dann am Morgen war er weg.

*

Nachdem sie von der Hafenpromenade wieder in die Pension zurückgelaufen ist, bleibt sie auf ihrer Terrasse und wartet. Sie ist sicher, dass er kommen wird. Aber er KOMMT NICHT. Da schreibt sie ihm einen Brief. Sie schreibt an diesem Brief stundenlang, stundenlang. Einen Brief voller kindlichem, unausgegorenem Gestammel in Einfachst-Englisch. Über zehn Seiten ist er lang. Sie wird ihn ihm irgendwie geben. Wie sie das anstellen wird, ohne aufdringlich zu sein, weiß sie noch nicht. Das Schlimmste wäre, ihm nachzulaufen. Nein, das wird sie nicht machen.
Sie hat ihn nie gefragt, in welchem Hotel er wohnt. Wird eben morgen 'zufällig' mit Edith und Mary in seinem Lieblingsrestaurant zu Mittag essen. Ihn keineswegs belästigen, wenn sie ihn sieht. Nur ihm den Brief aushändigen. Wortlos.

Vielleicht hat er die Insel verlassen?, denkt sie plötzlich mit hell aufflammendem Entsetzen. Er hat so rasend schnell bezahlt, eben beim Essen. Und ging da nicht ungefähr um die Zeit ein Schiff ab ... ? Das könnte ich nicht verkraften, nein, nein, nur das nicht! Oh Gott, mach, dass er nicht weggefahren ist!

Die Tag- und Abendstunden dehnen sich in die Länge. Sie wird den Brief doch lieber zerreißen. Sie würde sich lächerlich machen, damit. Inzwischen hat Minou die Hoffnung verloren.

Er kommt um Mitternacht. Rettet sie vor Verzweiflung. Er hat ihr etwas mitgebracht. Aus Seidenpapier wickelt er vorsichtig ein Pflänzchen aus. Ein Mini-Rosenbäumchen mit einer roten Schleife in einem Topf mit Erde. Das Bäumchen ist voller Blüten ... winzigen ... weißen. Es blüht wie verrückt.
"How sweet", sagt Minou.
Als er sie wie nebenbei fragt, ob er heute Nacht bei ihr schlafen könne, da schüttelt sie ihm andächtig Kissen und Bettzeug zurecht.

*

"Wir werden uns irgendwo ein größeres Zimmer nehmen und eine Weile beisammen bleiben, wenn du willst!", sagt er am nächsten Morgen.
Sie sind ein Paar von da an. Er hält sie in seinen Armen und liebt sie jede Nacht. Sie unternehmen die meisten Dinge gemeinsam. Mit ihm zusammen ist sie selbstsicher. Kann locker allen Anforderungen der Tage trotzen. Jerry behandelt sie besser ( denkt sie ), als die Frauen, mit denen er vorher zusammen gewesen ist. Er umgibt sie mit Fürsorge und Zärtlichkeit, wo immer sie sind. Minou ist stolz. Ist sprühend und hübsch. Er genügt ihr vollauf. Sie nimmt niemanden mehr neben ihm wahr. Jerry ist ihr strahlender Held. Ihr Fels. Er hat seinen Lebensstil beibehalten. Nur nimmt er sie jetzt mit zu seinen Freunden, den Amerikanern. Er fährt manchmal für einen Tag oder zwei mit Mathoggi nach Athen. Dann lässt er sie allein.
Häufig sind sie am Strand. Inmitten der Clique. Wenn ihr Geliebter aus dem Meer steigt, schauen die Leute zu ihm hin. In den Wasserperlen auf seiner bronzenen Haut glitzert die Sonne wie aus tausend kleinen Speeren. Es gibt keinen schöneren Mann. Er kommt, beugt sich zu Minou herab, küsst sie auf den Mund. Ihr Herz brennt. Sie kann sich nichts Schöneres vorstellen. Sie kann es nicht verbergen: ihre Liebe und Anhänglichkeit stehen ihr ins Gesicht geschrieben.

Jerry betrachtet sie oft mit einem Schuss Verwunderung. Dabei biegt er sie sich zurecht, wie er sie braucht. Er behandelt sie ein wenig von oben herab. Doch mit Milde. Er ist der Überlegene. Das beruhigt die Amerikanerinnen. Vor allem Leilah. Unbeständig ist dieser Mann. Er wird zu ihr zurückkommen. Die Deutsche ist keine Gefahr, er wird ihrer schnell überdrüssig sein. Leilah ist aber ein wenig verunsichert. Und gibt sich unbewegt. ( Vielleicht leidet sie nie ? ... )
Jerry liebt Minou unkompliziert und gar nicht ausschweifend. Nur auf seine kraftvolle, männliche Art. Voller Selbstsicherheit, Ruhe, auch Zärtlichkeit.
"Komm her, meine Kleine." Ach, es ist so gut, von ihm " meine Kleine" genannt zu werden!
Manchmal nimmt sie seinen wunderschönen Schwanz zwischen die Lippen. Küsst ihn. Sein Schwanz ist ohne Vorhaut, hat eine rosige, wie blank polierte und gleichzeitig samtige Kuppe. Er ist gleitend und seidig, wenn sie ihn mit den Lippen berührt. So wunderbar. Jerrys Schwanz passt kaum in ihren Mund. Die, wie sie glaubt, linkische Technik ihres Tuns und das Süße, das sie dabei empfindet, klaffen weit auseinander. Doch sie kämpft mit diesem sperrigen Apparat. Nein, sie spielt keineswegs nur herum. Sie will es ihm gut machen. Er hat es nicht von ihr verlangt, mit keinem Wort, mit keiner Geste.
Sie nimmt seinen Schwanz sanft an den Mund und legt in die kreisenden Bewegungen ihrer Zunge, in ihre saugenden Lippen all die Zärtlichkeit, deren sie fähig ist. Denn sie will, dass er so glücklich sein soll wie sie. Dass er sich fortan immer an sie erinnere. Dass sie für Jerry ‚gut ist im Bett‘ ist, das möchte sie. Am Schluss stößt sein Schwanz tief bis zu ihrem Zäpfchen vor ... Sie schluckt alles.

Warum müssen Frauen so klettenhaft sein, denkt Jerry. Die da haftet ihm bald an wie sein Schatten.
Er fühlt sich zu ihr hingezogen: Sie ist gutmütig, ohne Falsch und ... auf ihn angewiesen ... Ein kleines Leichtgewicht. Ein Schmetterling.
Minou muss ihre dauernde Eifersucht im Zaum halten. Denn Jerry hat, obwohl im Augenblick loyal zu ihr, keineswegs sein (Augen)studium der anderen Frauen aufgegeben. Aber das kann sie gut: ihre Eifersucht im Zaum halten. Niemand merkt etwas. ( Denkt sie )

*

Jerry muss Tomas nach Beirut begleiten. Ein wichtiger Termin für Mathoggi. Geschäftsangelegenheiten! Von Kreta aus werden sie fliegen. "Es dauert zirka eine Woche", sagt er.
Sie weiß, es hat keinen Zweck, ihn anzuflehen, wiederzukommen. So klug ist sie inzwischen schon. Sie nimmt es scheinbar gelassen hin.
"Ich werde so schnell wie möglich zurück sein", verspricht er. Sie lächelt. Glaubt nicht daran.
Aber er kommt zurück, genau wie er es gesagt hat. Das ist das Glück! Es folgt eine Zeit der Harmonie.

*




21
DER AMERIKANER


Zwei Monate vergehen. Der Sommer ist vorbei.
Als Jerry eines Nachmittags zur Tür hereintritt, küsst er sie wie immer zärtlich. Er scheint es ganz vergessen zu haben: aber heute ist sein Geburtstag.
Mehr als sonst hat sie das Zimmer und ihre Person auf Hochglanz gebracht. Neben dem Bett steht die Zwergrosenpflanze, die er ihr geschenkt hat, die sie jeden Tag sorgfältig gießt und bewacht, dass sie nur ja lange lebt und blüht. Auch hat sie ein paar der großen, breitblättrigen Stöcke - in Pötten stehen sie auf der Terrasse - von draußen hereingezogen, damit es grün und schön aussieht im Raum. Sie hat Snacks bereitet, Wein gekauft, Obst, Gebäck.
Wie schon gesagt, als er zur Tür hereinkommt, klebt sie, ruck zuck, an seiner Brust. Sie brennt nach ihm.
Sie hat ihm einen Pullover gekauft. Einen großen warmen Pullover aus hochwertiger Shetland-Wolle. Für die kühlen, stürmischen Abende, die bereits begonnen haben. Es ist der schönste Männerpulli, den es in Sofias Boutique gab. Die Farbe: Petrolblau. Die wird gut zu seiner tiefdunklen, leuchtenden Haut passen, den strahlenden Augen, dem schwarzen Haar. Sie hat auch ein Buch für ihn gefunden: Die Iliade ... Geschichte des Trojanischen Krieges. Von Homer. Eine englische Übersetzung.

Zuerst sieht sie nicht, aber dann doch, dass hinter Jerry ein Typ ins Zimmer tritt. Vor böser Überraschung wird sie weiß wie die Wand. Ihr Liebster bringt da einen mit, der furchtbar stört. Lachend macht Jerry sich von ihr los.
"Das ist Bob", sagt er "Bob Munt. Und dies, mein Freund, ist die junge Dame, von der ich dir erzählt habe. Minou."
"Nice name", grinst der massige, rotgesichtige Mann, "nice girl ... nice to see you, madame!" Er betrachtet sie ausgiebig. Das ist extrem peinlich. Minou hatte Jerrys Heimkehr so sehr herbeigesehnt. .
"Wir müssen umdisponieren", sagt Jerry, "wir werden ausgehen, zieh dein Blumenkleid an ... mein Freund hier hat uns zum Abendessen eingeladen."
Als sie sich im Waschraum zurechtmacht, auf der anderen Seite des Flures, hört sie, wie Jerry und der fremde Mann miteinander reden. Ganz bestimmt ziemlich leise. Minou versteht aber jedes Wort. Die Tür des Zimmers, in dem die beiden sitzen, ist nur angelehnt.
"Gefällt sie dir", fragt Jerry.
"Oh boy, yes, she is nice", meint der Mann, der ein Amerikaner zu sein scheint.
"She is twenty", sagt Jerry, "but she seems a lot younger!"
"Yes", sagt der Mann, "she really looks quite innocent!"
"She is a child ... ", sagt Jerry
Minou stellt sich vor, wie er dabei leicht lächelt.
"You mean, she is a simple - minded, but loveable girl", sagt der Ami.
Wahrscheinlich wird Jerry jetzt nicken, denn :
"Thats fine with me, those intellectual bitches scare the shit out of me, anyhow", meint dieser Bob feixend.
Minou wird unendlich übel.
"Wie ist sie sonst noch so?" fragt der Amerikaner.
"Angenehm. Ein anspruchsloses Mädchen. Wie sie aussieht, hast du ja gesehen!"
"Sie wird kaum wild sein auf meine Gesellschaft! "
"Sie ist kein Flittchen. Du musst sie dir langsam zurechtbiegen ( shape her ! ). Hab Geduld. Sie ist empfindlich ... ein anhängliches, kleines Ding und macht kaum Probleme, wenn du sie erst einmal hast."
"Hm", sagt der Mann, "gegen Anhänglichkeit hab' ich im Augenblick nichts einzuwenden."
"Du könntest sie auf deinem Kahn mitnehmen und ein bisschen verwöhnen".
"Wie stellst du dir das vor? Die Kleine ist verrückt nach DIR. Das sieht ein Blinder. Soll ich mir eine Frau aufladen, die einem anderen nachheult ... "
"Wenn ich fort bin, vergisst sie mich ... Bob, mein Schiff geht morgen früh um sieben. Du bist der einzige, dem ich sie überlassen möchte. Mathoggi wollte sie sich unter den Nagel reißen. Er verdient sie nicht. Sie ist ein gutes Mädchen. Ich meine das ernst. Also, wenn du sie haben willst?"
"Sicher!"
"Du solltest diese Kleine anständig behandeln", sagt Jerry.
"Ja, klar", sagt der Mann, "mach' ich doch glatt."


Die 'Kleine' steht vor dem Spiegel. Kämmt ihr Haar. Hört alles. Der Kamm fällt ihr aus der Hand. Sie bückt sich, hebt den Kamm auf. Kämmt weiter, mechanisch. Sie denkt nichts ... Es geschieht ja nichts, es geschieht nichts ... nur zieht Jerry ihr auf einen Schlag den Boden unter den Füßen weg. Aber mit lautem Getöse. Sie driftet durch ein graues, kaltes Niemandsland. Spürt keinen Kummer. Gar nichts spürt sie. Es ist die Versteinerung.

"Ich habe alles mitangehört", sagt sie später im Restaurant, als der Amerikaner einmal hinausgegangen ist.
"Ich versuche da, etwas für dich zu arrangieren", erklärt Jerry. "Dieser Mister Munt ist Congressman oder weiß der Teufel ... Seine Jacht liegt draußen vor Parikia. Und ... er hat ein paar Societyleute an Bord ... Heute sind sie hier, morgen im Atlantik. Seriöse Amerikaner. Und dieser Mann ist TATSÄCHLICH frei. Er hat seine x-te Scheidung gerade hinter sich und dabei die Hälfte seines Geldes eingebüßt. Jetzt hat er genug von amerikanischen Golddiggerinnen. Wünscht sich eine junge, europäische Begleiterin. Eine, die hübsch ist und bescheiden. Da habe ich an dich gedacht. Ich mache dir nichts vor. Natürlich wissen wir beide, was er von dir will!"
Minou ist starr. Ihr steht der Mund offen ...
"Hey ... mit ein bisschen Selbstbewusstsein und Schlauheit könntest du jemanden wie ihn locker um den Finger wickeln. Benutze endlich deinen Verstand ... verdammt! Willst du nicht einmal Glück haben im Leben", sagt er. "Bob ist generös, gutmütig und ewig naiv. So einer ist der Beste, den du kriegen kannst. Es ist durchaus möglich, dass der ein Mädchen wie dich sogar heiratet, wenn du alles richtig anpackst. Solche Geschichten geschehen ständig und überall."
"Jerry, mach so etwas nicht mit mir!"
"Ich will dir nur weiterhelfen, bevor ich wegfahre. Ich sorge mich um dich!"
Minou ist es die ganze Zeit über beim Anblick des Amerikaners von Minute zu Minute schlechter gegangen.
Jetzt kann sie die Sache nicht mehr verkraften. Sie hat Angst, gleich ohnmächtig zu werden.
"Lass uns gehen! Jerry. Bitte. I beg you."
"Hör gut zu", sagt der auf einmal ziemlich aufgebracht, "du wirst dem gottverdammten Mann jetzt nicht den Abend verderben! Wenn du es nicht aushältst und nicht hier bleiben kannst, dann steh' auf, geh nach Hause. Nimm deine Tasche. Geh', geh'!"

Da steht sie auf. Nimmt ihre Tasche. Geht. Sie stößt fast mit dem Amerikaner zusammen, der, auf dem Weg zurück vom restroom und vielleicht auch etwas angeheitert, theatralisch die Arme für sie ausbreitet, sie aber doch verduzt an sich vorbeilaufen lässt, in dem Glauben, sie habe es eilig, zur Toilette zu kommen.
Während sie aus dem Lokal hinausstürzt, hört sie, wie hinter ihr Jerry ihren Namen ruft:
"Minou, du bleibst sofort hier."
Da weiß sie, dass er sich verhalten wird wie der Held in Hollywood-Filmen, wenn die Geliebte wütend aus dem Raum stürmt. Er rennt ihr nach, von seiner großen Zuneigung getrieben, deren Tiefe er erst in jenem Augenblick wirklich erkennt, wo es ernst wird. Er holt sie natürlich ein, die Frau seines Herzens.

Draußen vor der Taverna bleibt Minou stehen. Wartet. Ist sicher, dass Jerry gleich herauseilen wird: "But I love you, childy", wird er sagen. Und beschützend seinen Arm um sie legen. Alles, alles wird gut!

Sie steht lang vor der Tür. Fünf Minuten mindestens. Aber Jerry kommt nicht. Statt dessen der Amerikaner.
"What‘s the matter with you, young lady", ruft er, "come on, there is nothing a fine meal, some glasses of Greek wine and good old Bob could’nt fix ... "
Vierschrötig packt er sie beim Arm. Da schlägt sie ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie hat noch nie im Leben jemanden geschlagen. Und nicht er, Jerry hätte es verdient. Er, der Verursacher ihres Jammers.
Sie rennt heim zur Pension. Tigert im Zimmer auf und ab wie eine Verrückte. Rauft sich die Haare, ja, den Kopf möchte sie gegen die Wand schlagen. Tut es auch. Einmal. Dann folgt der Heulkrampf.
Nach einer Stunde beruhigt sie sich langsam. Sie fasst Hoffnung.
‚Jerry. Er wird kommen. Er muss kommen. Das ist klar. So begehrend, so leidenschaftlich wie er bis gestern gewesen ist, kann ein Mann nur zu einer Frau sein, die er liebt, die er liebt, denkt sie, das kann nicht auf einen Schlag vorbei sein.
Sie klopft bei der Pensionswirtin, die, schon zur Nacht ausgekleidet, im kurzen, weißen Leinenhemd die Tür aufmacht. Minou möchte unbedingt das Zimmer zahlen.
"Warum jetzt. Es ist Nacht", sagt die Griechin, macht aber geduldig die Rechnung.
*



22
IM STERNSCHNUPPENREGEN SOLL MAN SICH NIE ETWAS WÜNSCHEN


In ihrem Raum überfällt Minou dann die Verzweiflung. Die Welt ist schwarz und öd geworden. So allein war sie noch nie. Lass es nur bitte nicht der Absturz werden, lieber Gott, der Absturz ins Nichts.
Sie packt aber auch gleichzeitig ihre Habseligkeiten zusammen. Rasch und geübt. Von Jerry sind noch zwei Slips und ein Paar Socken im Schrank. hat er sie vergessen? Absichtlich vielleicht. Da lacht Minou. Irr. Unter Tränen.

Aber sie will bereit sein. Wenn er sie holen kommt. Beim Anblick des blühenden Rosenbäumchens heult sie los wie ein Schloßhund.
Sie wird es allen zeigen ... sie wird das gleiche Schiff nehmen wie er. Irgendwie wird sich da noch eine Mitreisemöglichkeit ergeben, wenn sie nur fest genug daran glaubt. Morgen früh. Sie würde die Wirtin nicht mehr wecken müssen. Sie würde auf diesem Schiff nach Alexandria sein. Das schwört sie sich.
Dann wirst du ja sehen! So schnell lasse ich dich nicht aus meinem Leben verschwinden!

Doch noch hofft sie:
Jerry wird mich holen oder er wird mir zumindest 'auf Wiedersehen' sagen kommen. Dann werde ich ihn schon dazu bringen, dass er mich mitnimmt. Nach Alexandria.

Um dreiundzwanzig Uhr ist sie immer noch allein.
Sie liegt auf ihrem Bett. Hellwach. Angezogen und gestylt. Für Jerry bereit. Sie wartet auf ihn. Weil sie aber wartet, kommt kein Schlaf. Da nützt all ihre Müdigkeit nichts.


Nach Mitternacht steht sie auf, tritt hinaus auf die Terrasse. Der Vollmond scheint mit seiner vollen Kraft. Wie stark das Meer rauscht! Ab und zu löst sich eine Sternschnuppe aus den Millionen blinkender Lichter am Himmel, dann noch eine. Sie taumeln in ungelenkem Bogen herunter. Irgendwo im Ozean versinken sie. Minou sitzt da draußen auf einem Stuhl, in Jerrys Geburtstagspulli gewickelt, den er nicht angerührt hat, und wartet auf den Geliebten. Sie wünscht sich IHN herbei mit jeder Faser ihres Herzens. Sie will heute Nacht an Magie und Bezauberung glauben, sendet ihre Gedanken durch die Gassen des tintenblau und weißen, mondbeschienenen Paros bis hinunter zur Seepromenade, zu jenem Lokal, und durch die Wände hindurch zu dem alten Holztisch, an dem er vielleicht noch immer mit dem Amerikaner sitzt. Das Haus ist zwar von ihrer Terrasse aus nicht sichtbar. Doch weiß sie die Richtung. Ihre Wünsche müssen nur intensiv genug zu dem Geliebten dringen. Jetzt wird sie ihn an ihrem Gedankenfaden herausziehen aus der Taverna. Bis her zu ihr. Wenn sie all ihre Kraft sammelt und bündelt, muss er das spüren, muss er kommen. Es gibt so etwas wie Telekinese. Sie hat solche Sachen schon geträumt. Was im Traum gelingt ... ! Sie hält sich jeden Augenblick bereit für IHN. Ist noch angekleidet mitten in der Nacht. Für ihn bereit. Sie darf nicht einschlafen. Wach muss sie bleiben. Sonst wirkt der Zauber nicht. Nie im Leben hat sie so sehr gewartet. Und die Sternschnuppen taumeln leuchtend ins Meer.

Nach Stunden, als die Morgenkälte heftig wird, geht sie ins Zimmer. Legt sich aufs Bett, immer noch angekleidet. Nur leicht hüllt sie sich in die Wolldecke, damit ihre Kleidung unzerknautscht aussieht, wenn er gleich kommen wird. Reisefertig muss sie bleiben. Und stark.

Die Sonne geht auf, sie wartet weiter, schlaflos. Als der Tag wach wird und das frühe Vormittagslicht vom Himmel herabkriecht, wartet sie. Inzwischen ohne Hoffnung. Ihr Gepäck steht in einer Ecke des Zimmers. Bereit. Kurz vor halb sieben ist Jerry immer noch nicht da. Sie wird jetzt zum Hafen gehen ...

Mit gebündelter Energie tritt sie aus dem Haus. Die beiden Reisetaschen trägt sie über den gepflasterten Innenhof, durchs grüngestrichene, knarrende Holztor auf die Gasse ... Sie marschiert zügig vorbei an einem von Fischern belebten Markt in Richtung Schiffsanlegeplatz. Bald jedoch überfallen sie Angst und Taumel. Sie schleppt das Gepäck wieder zurück, wankend vor Müdigkeit. Es geht nicht. Sie fühlt sich kraftlos. Zu müde zum Leben. Am Ende.
Den Zeitpunkt von Jerrys Abfahrt verweint, verschluchzt sie auf dem Bett. Ein paar Minuten später ist sie fest eingeschlafen.


SCHLUSS DES 3. Buches


*

Es folgt der 4.Teil:
DIE ODYSSEE GEHT WEITER ( noch nicht vollendet )

https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?13628+romane

*




 

Copyright Irmgard Schöndorf Welch, 19. 10. 2005

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Irmgard Schöndorf Welch).
Der Beitrag wurde von Irmgard Schöndorf Welch auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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