Elfie Böttger-Bohlen

Frau wer bist du?

Marlene wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Die sommerlichen Temperaturen machten die Arbeit in der kleinen, engen Küche zur Qual.
“Oh diese Hitze”, murmelte sie und drehte die Flammen am Gasherd kleiner. Als sie den Deckel vom Topf hob, quoll ihr eine heiße Dampfschwade entgegen. Ihre Augen brannten. Rasch drehte sie den Kopf zu Seite.
Der Dampf kühlte ab, und schlug sich als Feuchtigkeit auf der Fensterscheibe nieder. Marlene schaute mit prüfendem Blick in den Topf. Goldgelb leuchteten ihr die Kartoffeln entgegen. Mit der Spitze des Küchenmessers prüfte sie ihre Festigkeit. Mühelos glitt die Klinge hinein.
“Gut”, stellte Marlene fest, drehte die Gasflamme aus, und schaute auf die große, silberne Küchenuhr. Es war punkt Eins. Mechanisch strich sie ihre Schürze glatt, und ging hinüber ins Wohnzimmer. Dort griff sie zum Telefonhörer und wählte die vertraute Nummer. Das Telefon auf der anderen Seite schellte nur kurz. Dann wurde der Hörer abgenommen.
“Hallo?”
Die brüchige, dünne Stimme ihrer Mutter erschreckte sie jedes mal. Früher war diese Stimme kräftig und hell. Als Mutter jung war, konnte sie wunderschön singen. Den ganzen Tag über lief das Radio. Mutter sang jedes Lied mit. Die Schlager von damals hatte Marlene heute noch im Ohr. Diese Stimme aber war ihr fremd. Sie klang nach Zerbrechlichkeit und Alter.
Marlene holte tief Luft. “Mutter, du kannst jetzt kommen. Das Essen ist fertig.“
Wenige Augenblicke später sah sie, wie ihre Mutter die Straße überquerte. In einem waghalsigen Manöver lief die alte Frau, zwischen laut hupenden Autos, geradewegs auf das Haus zu. Ein grauer Wintermantel schlotterte um ihre dünnen Beine. Den Kopf bedeckte eine grüne Wollmütze. Sie war tief in das Gesicht gezogen. Unter dem Arm klemmte ein kleines Päckchen aus Zeitungspapier.
“Mutter, wir haben Hochsommer”, sagte Marlene vorwurfsvoll, als Agnes die Wohnung betrat. “Zieh um Gottes Willen den Mantel aus und nimm die Mütze ab! Wie siehst du nur aus?“
“Na und? Es könnte doch sein, dass es bald regnet.” Agnes war verärgert.
“Es regnet heute nicht, Mutter, und wenn, dann kannst du einen Schirm nehmen.”
“Ich habe keinen Schirm. Und überhaupt, lass mich in Ruhe! Glaubst du, ich könnte nicht mehr selber für mich sorgen?”
“Genau, das glaube ich. Zieh jetzt bitte den Mantel aus und setz dich an den Tisch.”
“Dummes Blag”, murmelte Agnes, “früher war die Jugend nicht so frech.”
Sie legte das Päckchen aus Zeitungspapier auf die Bank, und setzte sich demonstrativ mit Mantel und Mütze an den Tisch.
“Mutter, bitte! Zieh den Mantel aus.” Marlenes Tonfall wurde streng.
Widerwillig folgte Agnes der Aufforderung. Sie zog die Mütze vom Kopf , und zerrte an den Ärmeln ihres Mantels.
“Herr Gott noch mal”, schimpfte sie, “es geht nicht.“
In ihrem Trotz wirkte sie seltsam hilflos. Marlene fühlte, wie Mitleid in ihr aufkeimte. Was war nur passiert? Seit Vaters Tod hatte Mutter sich verändert. Sie war rechthaberisch geworden, und trotzig. Manchmal tat sie sogar gefährliche Dinge. Vergas den Ofen abzuschalten, oder lief ohne den Verkehr zu beachten, über die Strasse. Immer häufiger zog sie sich merkwürdig an. Fast wie ein Kind. Ständig musste man auf sie acht geben.
“So geht das nicht, Mutter“, sagte Marlene, “steh noch mal auf, ich helfe dir.”
Geschickt öffnete sie die Knöpfe des Mantels und half Agnes, ihn auszuziehen. Jetzt erst bemerkte sie das Päckchen auf der Bank.
“Was hast du da mitgebracht?”, fragte sie und griff danach.
“Lass die Finger davon, das geht dich nichts an” , protestierte Agnes schwach.
Aber Marlene hatte schon damit begonnen, das Zeitungspapier auseinander zu wickeln. Erstaunt blickte sie auf die frische Unterwäsche, die ihr entgegenfiel.
“Mutter, wofür brauchst du das?”
Agnes wurde unsicher. Unruhig rutschte sie auf der Bank hin und her. Ständig stellte Marlene ihr Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Das verwirrte sie.
“Falls Besuch kommt”, sagte sie schnell, “man weiß ja nie!”
“Wie bitte? Falls Besuch kommt? Ich versteh dich nicht. Was ist das jetzt wieder für ein Unsinn!?” Kopfschüttelnd schaute Marlene ihre Mutter an.
“Ich sagte doch, es geht dich nichts an. Gib es mir wieder her.”
Agnes Stimme wurde weinerlich. Immer nörgelte Marlene an ihr herum. Mach dies nicht, mach das nicht. Nichts konnte sie ihr recht machen.
“Beruhige dich, Mutter” , lenkte Marlene ein, “ist schon in Ordnung.”
Rasch wickelte sie das Zeitungspapier wieder um die Wäsche und legte das Päckchen zurück auf die Bank. Sie ging in die Küche, und kam kurz darauf mit zwei gefüllten Tellern zurück. Das Essen für die Mutter hatte sie in mundgerechte Stücke geschnitten. Mit Messer und Gabel kam Agnes schon seit einiger Zeit nicht mehr zurecht.
“Lass es dir schmecken”, sagte Marlene, und stellte die Teller auf den Tisch.
“Sieht gut aus, die Bratwurst”, lächelte Agnes versöhnlich.
“Mutter”, Marlene seufzte, “das ist Fisch.”
“Komisch, sieht aus wie Bratwurst”, stellte Agnes fest. Dann angelte sie mit den Fingern nach einem Stück und schob es in den Mund.
“Bratwurst”, sagte sie schmatzend, und schob ein weiteres Stück nach.
“Fisch”, stöhnte Marlene verzweifelt, “es ist Fisch.”
“Wenn du es sagst”, spottete Agnes, “dann wird es ja wohl stimmen.”
Sie griff zum Löffel. Herzhaft begann sie zu essen. Ihr Kinn glänzte vor Fett.
Marlene beobachtete ihre Mutter aus dem Augenwinkel. An Appetit hatte es ihr noch nie gefehlt. Nur ihre Art zu essen war anders geworden. Früher legte sie großen Wert auf Tischmanieren. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten im Familienkreis galten strenge Benimmregeln . Nun ertappte Marlene sich bei dem Gedanken, dass Mutter unappetitlich aß. Sofort schämte sie sich dafür.
“Ich koch uns einen Kaffee”, sagte sie, und ging rasch in die Küche.
Als die Türglocke schrillte, zuckte Marlene zusammen. Gleich darauf hörte sie, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, und wusste, das es Vera war. Obwohl ihre Tochter einen Schlüssel besaß, schellte sie jedes mal. Marlene ärgerte sich darüber.
“Hallo Mama”, rief Vera, und schubste wie immer die Tür unsanft mit dem Ellenbogen zu.
Das Küchenfenster vibrierte. Entnervt schloss Marlene die Augen und presste ihre Fäuste in die Schürzentaschen. Sie spürte einen Kloß im Hals.
“Na, Oma, geht es dir gut?” Vera beugte sich über Agnes und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Ein Lächeln glitt über Agnes Gesicht. Sie hob die Hand und tätschelte der Enkelin die Wange.
“Ja, mein Junge”, sagte sie. “War's schön in der Schule?”
“Oma, ich gehe nicht mehr in die Schule. Ich arbeite schon. Was gibt's denn heute zu essen?”
Agnes legte den Finger an die Lippen und schaute die Enkelin bedeutungsvoll an.
“Nichts”, flüsterte sie ihr zu, “es gibt heute nichts.”
Dann zeigte sie mit der Hand auf Marlene, welche im Türrahmen stand.
“Die lässt uns doch alle verhungern. Seit Stunden sitze ich hier schon und warte. Sie gibt mir nichts. Die gönnt mir nicht einmal das Schwarze unter dem Fingernagel.”
Vera grinste. Beruhigend legte sie den Arm um Agnes Schultern.
“Mama hörst du?”, sagte sie, “Oma hat Hunger. Gibt's heute nichts?”
Fassungslos starrte Marlene die beiden an. Wut und Verzweiflung machten sich in ihr breit. Sie kämpfte mit den Tränen.
“Hat es in diesem Haushalt jemals nichts zu essen gegeben?!”, schrie sie und stürzte
in die Küche. In ihrer Brust brannte es. Sie spürte den Pulsschlag in den Ohren. Ruckartig drehte sie den Wasserhahn auf. Spritzend lief das Wasser in die Spüle. Sie klapperte laut mit den Töpfen, um ihre Wut und Verzweiflung abzureagieren. Dabei ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Auch jetzt, wo die Kinder fast erwachsen waren, musste sie immer noch die Mutterrolle übernehmen. Hörte denn die Notwendigkeit ständiger Fürsorge nie auf? Und nun brauchte noch Agnes ihre Hilfe. Und dann dieser mangelnde Dank. Darauf war sie nicht vorbereitet. Etwas in ihr wehrte sich. Jahrelang hatte sie auf ihre eigene, neue Freiheit gewartet. Hatte sich gewünscht, das Leben wieder nach ihren eigenen Bedürfnissen gestalten zu können. Und nun war es passiert. Ähnlich wie eine ungewollte Schwangerschaft. Sie war dabei, sich selbst das Grab für ihre Sehnsüchte, Wünsche und Träume zu schaufeln. Sie spürte die Fesseln. Sie nahmen ihr die Luft zum Atmen.
Die Zukunft erschien ihr wie eine undurchdringliche, graue Nebelwand.
“Mama”, hörte Marlene die Stimme ihrer Tochter, und spürte den Arm, der sich um ihre Schultern legte. “Mama, sei nicht so verzweifelt. Es sind immer die Töchter, die gefressen werden. Für die Pflege sind nun mal wir Frauen zuständig. Wir sind es, die zu Opfern bereit sind. Wir Frauen üben uns ein Leben lang in Toleranz und Verzicht. Wir haben den Familiensinn.”
“Glaubst das wirklich?”, schluchzte Marlene und schaute ihrer Tochter überrascht in das Gesicht.
Vera grinste linkisch. “Man hat sie halt, die Mutter. Man hat sie halt, die Verantwortung. Und daran wird sich so bald auch nichts ändern. Komm, hör auf zu weinen. Heute kümmere ich mich um Oma. Mach du dir einen schönen Tag. Und wenn’s gar nicht mehr geht, dann muss sie halt ins Heim.”
Marlene straffte ihre Schultern. Energisch schüttelte sie den Kopf. Dann ging sie hinüber an den Tisch, an dem Agnes saß. Sie hatte die Hände in den Schoss gelegt und starrte versonnen vor sich hin. Vorsichtig hob Marlene die Hand und strich ihr über das graue, glatt gekämmte Haar. Ihre Augen sahen eine hilflos wirkende, alte Frau. Ihr Herz aber, fühlte die Erinnerung an die gesunde Mutter.
“Frau, wer bist du?” fragte Agnes und drückte Marlenes Hand.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.04.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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