Silvia Pree

Abgründe

 
Geliebt zu werden kann eine Strafe sein.
Nicht zu wissen, ob man geliebt wird, ist Folter…
 
Luise saß scheinbar ungerührt im Büro.
Luise Kurz, Marketingassistentin.
Sie arbeitete ein paar Akten durch.
Es war spät.
Nur mehr ein Kollege da, der noch eine Statistik bearbeitete.
Luise nahm ihre Brille ab.
Rieb sich die Augen.
Ihr hübsches Gesicht schien ungerührt.
Aber konzentriert.
Dabei las sie den obersten Absatz schon zum dritten Mal durch.
Ohne ihn zu verstehen.
Weil sie an ganz etwas anderes dachte.
Sie dachte an Siegfried.
Siegfried, der seit ein paar Tagen dienstlich in Deutschland war.
Und noch kein einziges Mal angerufen hatte.
Keine SMS.
Nicht einmal eine Email.
Sie wusste genau, er konnte einfach viel um die Ohren haben.
Wie so oft.
Ein viel beschäftigter Mann.
Und nicht das erste Mal, dass eine seiner Geschäftsreisen ohne Wort von ihm vorbeigegangen war.
Jedes Mal hatte sie Höllenqualen gelitten.
Nicht geschlafen.
Und doch äußerlich immer den Schein gewahrt.
Kein Wort.
Keine Regung.
Und innerlich war sie fast gestorben…
 
Frau Kurz?
Kollege Leitner stand vor ihr.
Ich stör Sie doch nicht?
Luise schüttelte kurz den Kopf.
Schob ihre Gedanken an Siegfried beiseite.
Luise setzte ein unverbindliches Lächeln auf.
Wirkte sofort wieder aufmerksam.
Frau Kurz, ich fahr dann.
Sperren Sie das Büro ab?
Luise nickte.
Passt schon.
Ich werde noch ein bissl bleiben.
Hab noch zu tun.
Herr Leitner winkte und die Tür fiel ins Schloss.
Luise legte die Larve ab.
Eine Träne rollte über ihre Wange…
Genau genommen hat sie gar nichts mehr zu tun hier.
Stunden schon könnte sie daheim sitzen.
Stunden die Wände anstarren.
Oder aus dem Fenster blicken in das endlose Blaugrau des Himmels.
Und sich auf zwei, drei Abende in der Woche zu freuen.
An denen Siegfried zu ihr kam.
Siegfried.
Der verheiratet war und zwei Kinder hatte.
Eine Familie, von der er sich nicht trennen wollte.
Konnte.
Sie verstand das.
Sie verstand das nur zu gut…
 
Siegfried Hartl schloss die Hotelzimmertür hinter sich.
Es war nach Mitternacht.
Die Besprechungen hatten wieder endlos gedauert.
Er war müde.
Auf dem Tisch lag eine Notiz.
Dringend Ihre Gattin anrufen!
Auch das noch…
Siegfried griff zum Telefonhörer.
Sekunden später war die Verbindung hergestellt.
Gerda Hartl empfing ihn vorwurfsvoll.
Konntest du dich nicht früher melden?
Die Kinder schlafen schon lange.
Hartl ging nicht darauf an.
Was ist so dringend?
Die Stimme seiner Frau wurde hart.
Hast du endlich mit ihr geredet?
Hast du mit ihr Schluss gemacht?
Mit dieser …Person?
Siegfried dämpfte seine Zigarette halb geraucht aus.
Ich sagte dir, dass das rein beruflich ist.
Mir liegt nichts wirklich an ihr.
Es hat sich ergeben…
Im Übrigen.
Wenn du nicht immer so kalt gewesen wärst, hätte sie nie eine Chance gehabt.
Ich bin auch nur ein Mann…
Gerda schnaubte.
Das werden wir ja sehen!
Das Besetztzeichen tönte aus dem Apparat.
Hartl legte auf.
Setzte sich.
Barg sein Gesicht in den Händen.
Luise verlassen?
Nie.
Niemals.
Sie war der Mensch, für den er lebte…
 
Luise hatte kein Auge zugetan.
Die Ringe unter ihren Augen waren unübersehbar.
Das Gesicht war bleich, fast fahl.
Sie sah leidend aus.
Krank.
Fast ständig musste sie an den Anruf von Siegfrieds Frau denken.
Letzte Woche.
Die Beschimpfungen waren noch das Geringste gewesen.
Er liebt dich doch gar nicht, du Flittchen…
Dieser hasserfüllte Ton ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Und sie wusste genau, Siegi würde seine Frau nie verlassen.
Nicht wegen der Kinder.
Sondern weil seine Frau Krebs gehabt hatte.
Ihr Hass entsprang nur der Hilflosigkeit heraus keine richtige Frau mehr zu sein.
Mit einer Brust…
Aber sie selber würde nun eine Entscheidung treffen.
Womöglich war sie ja wirklich nur ein vollständiger weiblicher Körper für ihn.
Für Siegi.
Zum Vögeln halt.
Um das zu geben, das ihm sein Frau nicht mehr geben konnte.
Eine Viertelstunde später war Luise perfekt geschminkt.
Die Brille verdeckte den letzen Hauch der schlimmen Nacht.
Der erste Weg führte sie ins Personalbüro.
Herr Bachler empfing sie leicht irritiert.
Gibt es ein Problem?
Luise Kurz richtet ihre Brille.
Als wollte sie sich dahinter verstecken…
Da ist meine Kündigung.
Sie legte die Mappe mit zittrigen Händen hin.
Bachler erschrak.
Aber warum?
Luise setzte wieder ihr berühmtes Lächeln auf…
Eine neue Herausforderung…
Am liebsten aber wäre sie in Tränen ausgebrochen…
 
Hartl kam am Abend am Flughafen an.
Er nahm ein Taxi in die Innenstadt.
Dann lehnte er sich zurück.
Nahm sein Handy heraus.
Wählte Luises Nummer.
Er freute sich schon so auf sie.
Die Mailbox ertönte.
Mädel, was ist los?
Er probierte es noch drei, vier mal im Verlauf der folgenden Stunde.
Schließlich rief er im Büro an.
Vielleicht war ja der Akku ihres Handys leer.
Leitner meldete sich.
Luise Kurz?
Die hat doch gestern früh gekündigt.
Wussten Sie das nicht?
Sie hat sich ein paar Tage frei genommen…
Siegfried sackte in sich zusammen.
Seine Schuld.
Und sicher hatte Gerda ihre Hand mit im Spiel gehabt.
Seit sie wusste, dass er die Marketingassistentin liebte…
Liebte…
Hatte er ihr das jemals gesagt…
…seinem Luiserl?
Minuten später hatte er ein Taxi geordert.
Fuhr ans andere Ende der Stadt.
Zu Luise.
Er läutete.
Keine Reaktion.
Nervös kramte Siegfried in der Tasche.
Suchte den Wohnungsschlüssel heraus.
Stürmte in die Wohnung.
Niemand zu sehen.
Die Schlafzimmertür halb offen.
Plötzlich beschlich ihn ein ungutes Gefühl.
Unruhig stieß er die Tür auf…
 
Wie gut haben Sie Frau Kurz gekannt?
Wie so hatten Sie einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?
Kennen Sie die Namen von Anverwandten und Freunden, die wir benachrichtigen müssen?
Hatte Sie einen Freund?
Fragen prasselten auf Siegfried herein.
Von allen Seiten.
Er saß auf der Couch.
Auf der er so oft gesessen hatte.
Den Arm um Luise gelegt.
Einfach glücklich…
Zwei Beamte trugen eine Bahre hinaus.
Der Körper darunter war zugedeckt.
Weitere Kollegen liefen kreuz und quer durch die Wohnung.
Spurensicherung.
Rettung.
Notarzt.
Polizeibeamte.
…da war nichts mehr zumachen!
Der Satz drang immer wieder an sein Ohr.
Dröhnte wie ein lauter Motor.
Vor seinem inneren Auge ihr Abschiedsbrief.
Den er in der Hand gehalten hatte.
Und immer wieder gelesen hatte.
Gelesen ohne zu begreifen…
Ein einziger Satz.
Wofür lebe ich denn…?
 
 
Vivienne

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Silvia Pree).
Der Beitrag wurde von Silvia Pree auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Silvia Pree als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Spaziergang durch die Jahreszeiten/Spacerem po porach roku von Eveline Dächer



Dies ist mein Beitrag zur deutsch-polnischen Verständigung.
Dieser Band mit Kurzgeschichten und Gedichten wurde am 4.Sept.2009 in der Abtei Brauweiler durch die Landräte Herrn Andrzej Plonka und Herrn Werner Stump der Öffentlichkeit präsentiert.

Es wurde als Projekt der Partnerschaft 2009 zwischen dem Kreis Bieslko-Biala und dem Rhein-Erft-Kreis realisiert.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (5)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Lebensgeschichten & Schicksale" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Silvia Pree

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Kein Mann für eine Frau von Silvia Pree (Sonstige)
Kurze Geschichte meiner Donnerstage von Heino Suess (Lebensgeschichten & Schicksale)
Das Gespenst von Christiane Mielck-Retzdorff (Lebensgeschichten & Schicksale)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen