Silvia Pree

Vorbei...

 
Sie saß einfach da.
Schon seit fast einer halben Stunde.
Die Zeitung lag vor ihr auf dem Tisch.
Aufgeschlagen.
Aber Birgit blickte nur aus dem Fenster.
Als wollte sie einen imaginären Punkt am Haus gegenüber einfangen.
In der Hand hielt sie eine Zigarette.
Aber selbst auf die schien sie vergessen zu haben.
Birgit war nicht mehr jung.
Die strähnigen, grauen Haare hingen ihr leicht ins Gesicht.
Sie war nicht frisiert.
Im Schlafrock, den sie noch trug, sah sie ziemlich mollig aus.
Die blauen Ringe unter ihren Augen traten deutlich hervor.
Noch deutlicher als sonst.
Ihre Augen sahen dadurch fast aus wie schwarze Höhlen.
Abwesend zog Birgit an ihrer Zigarette.
Den Kaffee in der fast vollen Tasse beachtete sie nicht.
Schließlich drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus.
Energisch.
Fast ein Aufbäumen des Körpers.
Dann sank sie wieder in sich zusammen.
Faltete die Hände über dem Gesicht.
Verharrte so ein, zwei, drei Minuten.
Wartete darauf, dass sie endlich weinen konnte.
Aber keine Träne bemühte sich aus ihren Augen.
Ihr Innerstes war wie eine Wüste.
Trostlos und leer.
Warum auch weinen…?
Wenn die Liebe schon so lange tot ist?
 
Stefan war schon Jahre in seiner Firma für die Einstellung von Personal zuständig.
„Human Resources“ nannte sich das jetzt großartig.
Er hätte sich amüsieren können darüber.
Tat er aber nicht.
Schließlich prüfte er die Bewerbungen für den Posten als seine neue Assistentin.
Sandra hatte ein besseres Angebot ja nicht abschlagen können.
Obwohl er sie bekniet hatte.
Was er sonst nie tat.
Nachher hatte er sich geärgert darüber.
Und sich gefragt, ob er das nötig gehabt hatte.
Wie sagt doch die Firmenphilosophie?
Jeder ist ersetzbar.
Also auch Sandra.
Fünf Aspirantinnen wählte er schließlich aus.
Unter denen war sicher die Passende dabei.
Achtlos legte er die Bewerbungen zur Seite.
Frau Müller sollte die Damen kontaktieren.
Wie gehabt...
Nachdenklich sah er auf die Uhr.
Birgit!
Sie wollten doch gemeinsam Mittag essen…
Stefan seufzte.
Birgit.
Es klang wie in Moll.
Schließlich wählte er eine Nummer.
Das Chinesische Restaurant im Zentrum.
Bestellte einen Tisch.
Als er auflegte, seufzte er wieder in Moll.
Das gemeinsame Essen interessierte ihn nicht.
Birgit interessierte ihn nicht.
Nicht mehr…
 
Birgits Kaffee war kalt geworden.
Fast mechanisch räumte sie den Tisch ab.
Im Zimmer roch es nach kaltem Rauch.
Die Sonne weckte einen wunderschönen Tag mit blauem Himmel.
Birgit bemerkte das nicht.
All ihre Bewegungen schienen automatisiert.
Das Kippen des Küchenfensters.
Das Öffnen der Badezimmertür als sie duschen ging.
Achtlos zog sie das braune Kostüm an.
Sie sah auf die Uhr.
Der Anwalt wartete.
10:00 Uhr hatte er gesagt?
Sie wusste es nicht mehr sicher.
Aber ihr Terminkalender gab ihr Recht.
Birgit griff nach dem Autoschlüssel.
Suchte die Zigaretten und das Feuerzeug.
Verstaute alles in der großen Handtasche.
Das Telefon läutete.
Birgit achtete nicht weiter darauf.
Der Anrufbeantworter schaltete sich ein.
Birgit schloss die Tür.
Sperrte ab und ging zum Lift.
 
Ihre Frau hat angerufen!
Mein Gott, Birgit!
Immer ein schlechtes Gefühl für Timing.
Sagen Sie ihr ich rufe zurück.
In … sagen wir zwei Stunden.
Wenn die Vorstellrunde vorbei ist.
Heute kommen ja noch zwei Damen…
Fast ärgerlich ließ er die Tür zu seinem Büro hinter sich zufallen.
Er fragte sich, was Birgit wieder wollte.
Worüber sich Birgit wieder beklagen wollte.
Bitter.
Er vernachlässigte sie ja so…
Herrgott noch mal!
Er hatte eine verantwortungsvolle Position in der Firma!
Warum verstand sie das nicht?
Frau Müller am Telefon.
Frau Irene Thaler ist jetzt da.
Darf ich sie zu Ihnen ins Büro schicken?
Stefan gab sich einen Ruck.
Die Härte wich aus seinem Gesicht.
Freundlich begrüßte er die junge Frau, die eintrat.
Führte sie an seinen Schreibtisch.
Ihre gute Figur fiel ihm als erstes auf.
Und die roten Haare…
Auch Birgit hatte einmal rote Haare gehabt…
Wann?
Wohl vor 100 Jahren…
 
Birgit verwünschte sich.
Sie saß im Auto und steckte im Morgenverkehr.
Neben ihr hupte ein blauer Opel.
Die Ampeln waren praktisch immer auf rot.
Im Grunde wollte sie gar nicht zu dem Anwalt.
Im Grunde hatte sie nicht die geringste Lust.
Die Würfel waren gefallen.
Warum sich weiter quälen?
Demütigen lassen?
Gütertrennung, Ehevertrag,…
All das interessierte sie nicht im Geringsten.
Sie hasste den Anwalt ihres Mannes.
Seine schmeichelnde, verlogene Art.
Wie er ihr immer höflich Platz anbot.
Und doch auf sie herabblickte.
Sie spürte richtig, wie er sich über sie lustig machte.
Insgeheim.
Auch wenn er es unter einer unverbindlichen Fassade versteckte.
Oh, sie wir sich sicher, dass ihr Mann alles tun würde, dass es ihr weiter gut ginge.
Schließlich wollte er das Flittchen heiraten.
Noch bevor sie das gemeinsame Kind bekam.
Während er sie, Birgit, zwei Mal in die Abtreibungsklinik geschickt hatte.
Ohne ihre Proteste zu beachten.
Stefan wollte keine Kinder.
Nicht von ihr zumindest.
Die Ampel schaltete auf grün.
Hart legte Birgit den Gang ein und ließ die Kupplung los.
Mit einem Ruck schoss das Auto nach vorn.
 
Frau Thaler war gerade fünf Wochen in der Firma.
Stefan war begeistert von Irene, wie er sie seit dem 3. Tag nannte.
Irene konnte seine Gedanken lesen.
Sie wusste genau, wie er was wollte.
Und setzte seine Pläne minutiös um.
Alle Projekte klappten wie am Schnürchen.
Außerdem hatte sie binnen kürzester Zeit seine Termine im Kopf gehabt.
Ja, sie war ihm jetzt schon unentbehrlich.
Nach so kurzer Zeit.
In jeder Hinsicht.
Denn seit vorgestern war sie auch seine Geliebte…
Das Gewissen drückte Stefan deswegen nicht.
Birgit liebte er schon lange nicht mehr.
Sie war ihm nur mehr… lästig.
Ewig jammerte sie ihm nur ihre Probleme vor.
Wie wenig ihn das berührte.
In seinem Job hatte er genug um die Ohren.
Da brauchte er nicht noch Birgits Gesülze.
Verstand sie ihn denn überhaupt?
Ja, er war auch schon 50 gewesen.
Aber er stand noch mitten im Leben.
Und er spürte eine nie geahnte Kraft in sich.
Seit Irene in sein Leben getreten war.
Irene mit ihren roten Haaren…
 
Birgit parkte in der Parkgarage.
Sie war ein wenig spät dran.
Der Lift war nicht voll.
Sie stieg im vierten Stock des Bürogebäudes aus.
Langsam ging sie den Gang hinunter.
Klopfte an die Tür.
Die Empfangsdame grüßte freundlich.
Der Anwalt schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln.
Seine Worte waren ölig, und irgendwie mit Honiggeschmack.
Beredt erklärte er ihr alles.
Das sie durch den Vertrag nie Sorgen würde leiden müssen.
Dass Stefan weiter ihre Ausgaben tragen würde.
Dass ihre neue Wohnung schon eingerichtet sei.
Nur mehr auf sie wartete…
Birgit zuckte zusammen.
Nicht mehr erwünscht im eigenen Haus.
In dem Haus, in dem sie fast 20 Jahre mit Stefan gelebt hatte…
Dass sie gemeinsam gekauft hatten…
Dann unterschrieb sie.
Die Worte des Anwalts nahm sie nicht wirklich war.
Stefan hatte sich freigekauft…
Mit Erfolg.
Wieder glaubte sie weinen zu müssen.
Aber sie konnte es nicht.
Und als sie mit dem Auto wieder aus der Parkgarage fuhr, blitzte ein Gedanke in ihr auf.
Nicht nur Stefan hatte sie nicht mehr geliebt.
Auch sie hatte ihn längst über gehabt.
Keine großen Gefühle mehr.
Nur Gleichgültigkeit.
Ja, eigentlich Kälte.
War es nicht besser auseinander zu gehen?
Und wieder Freude zu lernen.
Freude…
Birgit stieg aufs Gas.
Als sie sich in den Verkehr einreihte, war der harte Zug etwas aus ihrem Gesicht gewichen.
Und ihre Augen leuchteten ein wenig.
Vielleicht sollte sie mal wieder zum Friseur gehen.
Warum auch nicht.
Sie hatte Lust auf eine neue Haarfarbe.
Blond…
 
Vivienne
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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