Werner Schwertner

Lebenslauf

Nie! Niemals in seinem Leben war er mehr als 3000 Meter gelaufen. Und auch das war schon vor gut 30 Jahren gewesen. Seitdem? Wenig. Ein bisschen Wandern in den Bergen. Manchmal auch der Verzicht auf den Aufzug. Gut, und ab und zu mal mit dem Fahrrad raus; aber schonend und über gutbürgerliche Distanzen. Das war's. Wieso dann jetzt das? Wieso, um Gottes Willen, hatte er sich für diesen Volkslauf angemeldet? Halbmarathon. Er! Und das ohne Vorbereitung. Wem wollte er was beweisen? Und vor allem: Was überhaupt würde er in der Lage sein, zu beweisen? Er hatte keine Ahnung. Aber immerhin: Er hatte sich getraut. Und niemand konnte ihn schließlich zwingen, zu Ende zu laufen. Er konnte jederzeit aufgeben. Es wäre nicht mal peinlich, weil ihn in dieser Szene sowieso niemand kannte. Also, im Notfall ab in die Büsche, wie? Es waren ja ohnehin mindestens noch tausend andere mit auf dem Weg. Dies immerhin gab ihm ein gutes Gefühl vor dem Start, dass er nicht allein war und dass niemand wirklich auf ihn blickte. Versagen, dachte er, kannst du nur vor dir selbst. Weit vorne dann der Startschuss, da wo die Guten standen. Und ganz langsam setzte sich der Menschenwurm in Bewegung. Die Vordersten waren wohl schon zwei- oder dreihundert Meter gelaufen, bevor er überhaupt in Tritt kam. Egal, dachte er, du willst ja schließlich nicht gewinnen. Schwierig nur, niemanden zu treten und von niemandem getreten zu werden. Erst mal nur auf die Beine achten, die eigenen und die anderen. Merkwürdiges Glücksgefühl plötzlich. Du bist wirklich dabei! Du läufst ein Rennen! Na gut, kein Rennen, um zu siegen - aber ein Fortbewegen, um möglichst zügig zu einem Ziel zu kommen. 21 Kilometer; mein Gott, weißt du, wieviel das ist? Jetzt nicht dran denken, sonst kannst du ja auch gleich aussteigen. Einfach immer einen Schritt nach dem anderen, schauen, wie weit es geht. Hätte vielleicht diese neuen Laufschuhe erst noch ein bisschen einlaufen sollen. Was, wenn sie anfangen zu drücken? Wichtig wäre, irgendwie in einen Rhythmus zu kommen. Kann ruhig ein Trott sein. Hauptsache: gleichmäßig. Dann merkt's der Körper nicht so. Aber so lange alle so dicht aufeinander laufen, wie da einen Rhythmus finden? Am besten, du lässt dich ein bisschen zurückfallen. Die anderen überholen dich ja ohnehin über kurz oder lang. Wahrscheinlich sind jetzt schon gar nicht mehr viele hinter dir. Egal, nicht umschauen. Hübsches Mädchen da vorne links. Ein bisschen ähnlich wie Irene um die Zeit, als wir geheiratet haben. Hättest du also eine Tochter, dann sähe sie heute vielleicht so aus. Warum ähneln sich manche Menschen so sehr, ohne verwandt zu sein? Gleiche Gene vor vielen, vielen Generationen? Dann also doch verwandt; entfernt eben. Irene würde dich wahrscheinlich auslachen, wenn sie wüsste, was du hier anstellst. Würde dir's wohl auch gar nicht zutrauen. Lebt aber jetzt weit weg und wird es ohnehin nie erfahren. New York, merkwürdig, kann man da leben? Immer noch eine schwierige Vorstellung, selbst nach acht Jahren noch: Irene in New York, mit einem anderen Mann. Ob sie noch mit dem zusammen ist? Könntest dich ja mal zum New York Marathon anmelden, wie? Sicher - warum nicht gleich zum Ironman? Jetzt wollen wir erst mal sehen, ob wir die nächsten 20 Kilometer noch schaffen. 20 Kilometer, großer Gott! Müssen ja Tiere sein, diese Ironman-Leute. Die würden 20 Kilometer wahrscheinlich auf einem Bein abreißen. Und wären dann immer noch schneller als du. Angenommen, du schaffst es überhaupt. Warum geht die Strecke eigentlich immer durch Häuserschluchten. In freier Natur wäre doch viel gesünder. Ach so, nachher geht's ja noch durch den Stadtpark. Wenn du dann noch dabei bist... Stehen tatsächlich Zuschauer am Straßenrand. Klatschen. Sogar für dich. Hättest du auch nicht gedacht, was? Dass dir mal jemand beim Laufen Beifall klatscht. Rätsel des Lebens. Erstaunlich auch der alte Mann vor dir. Bestimmt über 70. Aber sehnige Beine. Macht so was wahrscheinlich öfter. Vermutlich fitter als du, obwohl sicherlich über 20 Jahre älter. Bewundernswert. Na ja, es ist nie zu spät. Vielleicht solltest du so was ab jetzt auch öfter machen. Natürlich nicht als Wettbewerb. Aber täglich eine halbe Stunde durch den Wald, oder? Mal schauen; jetzt sieh' erst mal zu, dass du das hier schaffst, Junge. Möchte wissen, wie viel wir jetzt schon gelaufen sind. Fürchte, so sehr viel ist es noch nicht. Und trotzdem wimmern schon die Fußgelenke. Vermutlich deine Schwachstelle. Trotz dieser Schuhe mit Luftpolstern und was die noch alles haben. Früher hatten wir einfach ein paar Turnschuhe. Heute High-Tech. Angewandte Wissenschaft. Warum nicht? Trotzdem: die Fußgelenke. Jetzt schon. Kann ja heiter werden. Der Alte vor dir scheint langsam schneller zu werden. Oder wirst du langsamer? Komisch, dass man dafür kein Gefühl hat, wenn man nie läuft. Vielleicht wenn man alleine liefe, aber so verwirrt das Tempo der anderen. Das hübsche Mädchen ist schon weit weg; seh' gerade noch ihren Blondschopf dort vorn. Klar, ist ja auch deutlich jünger. Wär' schon verwunderlich, wenn du mit der mithalten könntest. Aber der alte Mann vor dir? Der darf dir nicht enteilen. An dem musst du dran bleiben. Ganz gut, dass der zufällig vor dir stand. Möchte wissen, was der früher beruflich gemacht hat. Bestimmt was Körperliches, so fit wie der ist. Das ist es: So ein Schreibtisch-Job lässt dich halt einrosten. Na ja, jetzt hast du ihn ja nicht mehr. Ist natürlich nichts wirklich Positives. In deinem Alter arbeitslos, da hast du doch keine Chance mehr. Aber kämpfen müsste man schon. Einfach auch sich selbst zuliebe. Irene würde sich wahrscheinlich nicht darüber wundern, dass du deinen Job verloren hast. War immer der Meinung, du seiest zu weich. Und kein Kämpferherz. Hast du dich womöglich deswegen hier angemeldet? Zeigen, dass doch? Aber sie erfährt es ja gar nicht. Egal. Wahrscheinlich musst du dir's selber beweisen, das ist alles. Und das kostet dich ganz schön Schweiß. Ärgerlich, dass er immer in die Augen läuft. Öfter mal die Stirn abwischen. Aber du schwitzt ja mittlerweile schneller als du wischen kannst, wie? Immer noch nur Häuserzeilen. Aber immerhin: Jetzt läuft der Rhythmus ganz gut. Nur die Fußgelenke, wimmern ganz schön. Wird aber vielleicht nach einiger Zeit sogar besser; wenn sie sich dran gewöhnt haben, wieder laufen zu müssen. Was denkt sich so ein Gelenk? War ein komischer Vogel, der Schuhverkäufer. Haufen Pickel im Gesicht, aber Benehmen wie Graf Koks. Diese Luftpolster schonen Ihre Gelenke optimal. Wie blasiert er das gesagt hatte. So, als wäre man ein Depp. Und jetzt? Ich laufe immerhin mit - er steht nur am Sponsorenstand bei Start und Ziel und ödet die Leute an. Sehr sportlich hat der selber nicht gewirkt. Wahrscheinlich der Sohn vom Geschäftsinhaber. Tja, Beziehungen müsste man eben haben. Dann hättest du vielleicht auch bald wieder einen Job. Anders scheint's ja nicht mehr zu gehen heutzutage. Aber wen kennst du, der einflussreich genug wäre..? Irgendwie werden wir immer weniger hier hinten. Bin ich schon der letzte? Nein, nicht umschauen. Wäre vielleicht demotivierend. Immerhin, an dem alten Herrn bleibst du jetzt doch ganz gut dran. Und da sind ja auch noch ein paar andere, die nicht so schnell sind. Eben, Teilnahme ist wichtiger als der Sieg. Altes olympisches Motto. Dabei eigentlich Unsinn. Bei den alten Griechen ging's nur um den Sieg. Nur und ausschließlich! Kein Wunder, denn als Olympiasieger hattest du ausgesorgt für den Rest deines Lebens. Da konnte dir die Lage auf dem Arbeitsmarkt egal sein. Ruhm und Ehre für deine Heimatstadt und für dich ein feines Leben. Eigentlich damals schon der selbe Deal wie heute. Nur dass heute die Heimat meistens durch eine Firma ersetzt wird. Aber das Prinzip? Dasselbe. Vielleicht ändert sich im Grunde viel weniger, als man immer denkt. Obwohl: Laufschuhe mit Luftkissen kannten die nicht, die alten Griechen. Wenn das keine Veränderung ist... Jetzt kommt das Viertel, wo du früher gewohnt hast. Schon ewig nicht mehr hier gewesen. Doch: es verändert sich doch vieles. Schau dir die Gegend an - da erkennst du ja kaum was wieder. Wie in einer fremden Stadt. Wer weiß, ob du dein Elternhaus überhaupt noch erkennen würdest. Müsste hier in irgend einer Seitenstraße sein. Ach, sieh mal an! Die "Kaffeebohne", unser altes Pennäler-Café. Das gibt's noch? Hat sich anscheinend länger gehalten als manche Großfirma. Ganz erstaunlich. Mensch, wie viel Zeit hast du da verbracht! Sollte vielleicht mal wieder reingehen. Nostalgie. - Karin. Richtig, deine erste große Liebe. Karin aus der Kaffeebohne. Wie hieß sie noch mit Familiennamen? Vergessen. Das gibt's doch nicht. Wie kann man so was vergessen? Merkwürdig: Hab' sogar vergessen, wie das damals zu Ende gegangen ist mit ihr. Wahrscheinlich verdrängt. Nehme mal an, dass sie mit mir Schluss gemacht hat. Komisches Gefühl, jetzt nach so langer Zeit dran vorbei zu laufen. Und all die anderen Kumpels? Was mögen die jetzt so treiben? Alle seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Jugendzeit wie abgeschnitten. Vielleicht läuft sogar einer von denen hier mit und wir haben uns nicht erkannt. Der alte Mann vor dir zum Beispiel könnte ein ehemaliger Lehrer von dir sein. Könnte. Mathemathisch eher unwahrscheinlich. Und wenn, müsste es wohl ein Sportlehrer gewesen sein, so wie der drauf ist. Keine Ahnung mehr, wie der ausgesehen hat, unser Sportlehrer. Kann mich nur erinnern, dass er ein ziemlich harter Hund war. Hatte man damals noch: Lehrer, die einen geschunden haben. Aber der immerhin, wenn ich mich recht erinnere, hatte sich auch selbst nicht geschont. Der konnte jede Übung vormachen. Hat ihm zumindest Respekt eingebracht. Dem täten jetzt noch nicht die Fußgelenke weh... Donnerwetter! Schon der Stadtpark. Dann müssen wir ja bald schon zehn Kilometer haben. Zehn Kilometer! Unglaublich! Merk's jetzt auch am Atmen. Wird schwerer. Außerdem die Speichelbildung. Lästig. Merkwürdige Reaktion des Körpers. Im Stadtpark gibt's Getränke - und Energieriegel. Bis dahin musst du's auf alle Fälle noch schaffen. Damit du noch was kriegst für deine Startgebühr, wie? Da vorn ist es schon. Steht ja nicht mehr viel auf den Tischen. Klar, kommen ja auch nicht mehr viel Läufer. Hier ist Wasser. Und ein paar Riegel gibt's auch noch. Gut. Jetzt doch mal umschauen? - Aha, drei Leutchen noch. Bist also immer noch nicht letzter. Mensch, ist gar nicht so leicht, im Laufen zu trinken. Kannst ja stehen bleiben. Geht besser. So, tut gut. Jetzt wieder weiter. Nun sind aber die letzten Drei auch noch an dir vorbei. Egal. Der alte Mann ist jetzt schon weit voraus. Auch egal... Mein Gott, jetzt tun die Gelenke noch mehr weh. Hättest doch nicht stehen bleiben sollen. Zieht jetzt auch richtig die Wadenmuskeln hoch. Komm, Junge, übertreib's nicht. Du läufst ja nicht mehr, du stakst ja nur noch... Dann sah er am Straßenrand eine städtische Streusandkiste, die Abdeckung in idealer Sitzhöhe. Er wusste, dass er es nicht mehr schaffen würde bis zum Ziel. Aber sein persönliches Ziel hatte er ja eigentlich erreicht. Mehr als zehn Kilometer. Hätte ihm vermutlich niemand zugetraut. Im Grunde auch er sich selber nicht. Langsam lief er zu der Kiste und setzte sich darauf. Hier waren zum Glück auch keine Zuschauer. Er blieb einfach sitzen. Er wusste, er würde nicht mehr weiter laufen. Aber er wusste auch, dass er trotz allem gewonnen hatte. Gut, niemand würde es erfahren. Und wozu auch? Wahrscheinlich würde es auch niemanden interessieren. Er war ja nur ein bisschen gelaufen...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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