Anne-Katrin Clemens

Mein letzter Brief an dich

Ich wollte, dass dies hier mein letzter Brief an dich ist, aber was schreibt man in einen letzten Brief? Leb wohl? Welche Ironie! Wie kann ich sicher gehen, dass ich alles sage, was ich sagen muss und gleichzeitig darauf achten, dass ich es so sage, dass ich mich nicht berichtigen muss? Und woher weiß ich, dass ich morgen nicht noch viel mehr zu sagen habe? Und vor allem natürlich, wo fange ich an?
Als erstes solltest du wissen, dass du mit das Beste bist, was mir je passiert ist. Ich bin dankbar, dass ich die besten Menschen, die die Welt zu bieten hat, kennen lernen und als Teil meines Lebens bezeichnen durfte. Du hast mir jeden Tag den Mut gegeben an meinen Träumen festzuhalten, mich aufgemuntert meine Träume und Hoffnungen mit dir zu teilen. Du hast mir zugehört. Meine Gedanken sind mit Bildern von dir gefüllt. Ich habe es so sehr geliebt mit dir zu reden, einfach so, über alles und nichts und über Dinge, die mich wirklich beschäftigt haben. Du hast immer gewusst, wenn ich Sorgen hatte, hast es an einem Blick oder einer unbewussten Geste erkannt. Ich konnte dich alles fragen. Du hattest immer eine Antwort für mich oder tröstende Worte, wenn es keine Antwort gab. Ich konnte mit dir lachen oder auch schweigen, stundenlang, bei einer Tasse Kaffee oder Tee. Die Stunden flogen vorbei und ich habe es nie bemerkt. Und doch habe ich jede einzelne Sekunde so bewusst wahrgenommen, als wäre es meine letzte. Manchmal haben wir bis in die Nacht hinein gesprochen und die Dunkelheit kam von draußen herein, in die Wände gekrochen, und ich habe es nicht einmal bemerkt, wenn ich dich schon fast nicht mehr sehen konnte, weil sich mir jeder Millimeter von dir eingeprägt hatte, ich dein Gesicht jederzeit sehen konnte, als ständest du tatsächlich vor mir. Du bist aufgestanden und hast die Lampen angemacht, damit du mich ansehen konntest. Ich konnte dir die Welt erzählen, du hättest es verstanden. Und manchmal, da warst du beschäftigt, bist hin und her gelaufen und hast dabei mit mir gesprochen. Die Echos deiner Stimme schwirren um mich herum, brennen sich in mein Gedächtnis. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee, wenn du wusstest, dass ich vorbeikommen würde, auch dann, wen ich es nicht gesagt hatte. Das Gefühl von deiner Hand auf meiner, wenn du mich scheinbar zufällig berührt hast, wenn du auf der Bank versucht hast näher an mich heran zu rücken, einfach um meine Körperwärme, meine Nähe zu spüren. All das werde ich niemals vergessen können. Und das will ich auch gar nicht. Ich möchte dich in meinem Gedächtnis behalten, mich an dich erinnern, wenn ich nicht mehr weiter weiß oder wenn ich mich einfach nur erinnern will. Ich möchte mir vorstellen, was du sagen würdest, wenn ich aufgeben möchte, wenn ich das Gefühl habe, dass es für mich kein „morgen“ geben wird und ich dann trotz allem wieder erwache. Ich möchte deine starken Arme um mich spüren, die mich so sicher gehalten haben, wenn ich haltlos geweint habe. Und ich stelle mir vor, wie du mir dabei über den Rücken streifst und mich ganz fest drückst.
Das alles sind Dinge, die mir die Zeit nicht nehmen kann. Genauso, wie dein Lachen. Du hast viel gelacht. Und mich hast du immer angelacht. Egal ob du traurig, müde, verärgert oder beschäftigt warst, mich hast du immer angelacht. Du hast dir immer dein spezielles lachen für mich aufgehoben. Ich habe dich nie jemanden so anlächeln sehen, wie du mich angelächelt hast. Ich brauchte nicht zu hören, dass du mich liebst, du musstest es nicht laut aussprechen, weil du es mir jeden Tag auf so vielen Wegen gezeigt hast. Aber nicht nur mir has du es gezeigt. Genauso warst du so sehr Teil von allem, was du getan oder gesagt hast. Es konnten noch so kleine Dinge gewesen sein, du hast sie nicht getan oder gesagt, wenn du nicht völlig davon überzeugt warst und dann lag so viel von dir darin, so viel von deiner Seele. Es schien mir manchmal, dass es nichts gab, was dir nichts bedeutet hat, was dir zu unwichtig erschien, um ganz und gar mit deinem Herzen dabei zu sein. Ich bin so dankbar dafür, dass ein wenig deiner Aufmerksamkeit, ein wenig deines Herzens für mich frei war, dass du es so wolltest.
Ich werde nie vergessen, wie du manchmal deine Aufgaben erledigt hast, um mich herumgeschwirrt bist und ich dasaß  und vorgab zu lesen, aber in Wirklichkeit habe ich dich beobachtet. Mir alle deine Gesichtszüge, die Art, wie du deine Stirn runzelst, wenn du angestrengt nachdenkst und dabei eine kleine Furche, zwischen deinen Augenbrauen, entsteht, eingeprägt. dann wieder stelle ich mir vor, wie du mir vorgelesen hast. Wir haben beide auf der Couch gesessen – oder besser du hast gesessen und ich habe gelegen – mein Kopf in deinem Schoß. Du hast so ruhig gesprochen, dass ich fast eingeschlafen bin. Das leichte Streifen deiner Finger durch das Haar an meinen Schläfen hat es mir nicht gerade leichter gemacht wach zu bleiben. Aber ich habe mich gegen den Schlaf gewehrt und dem Klang deiner Stimme mit geschlossenen Augen gelauscht, mich von nichts ablenken lassen. Manchmal höre ich dich heute noch zu mir flüstern und manchmal, nur ganz selten, spüre ich dabei deinen heißen Atem an meinem Ohr und auf  meiner Wange. Manchmal, wenn du dachtest ich sei eingeschlafen, sind deine Finger gewandert, sind von meiner Schläfe hinter meinem Ohr entlang bis zu meinem Nacken gestrichen. Dann bin ich eingeschlafen. An keinem Ort hätte ich lieber sein wollen, möchte ich jetzt lieber sein, als in deinen Armen.
Meine liebsten Erinnerungen aber sind das leichte Zucken deiner Finger gegen meine sensible Haut, wenn du tief und fest geschlafen hast, wen alles angefangen hat zu kribbeln, und das Flattern deiner Augenlider kurz bevor du aufgewacht bist und dein Blick, wenn du die Augen letztendlich aufgeschlagen hast und ich das Erste war, was du gesehen hast. Ich kann dich noch überall sehen, fühlen. Auf dem Stuhl in dem du immer gesessen hast, sehe ich dich noch immer sitzen, in den Büchern, aus denen du mir vorgelesen hast, kann ich noch immer die Spuren deiner Finger dort spüren, wo sie über die Seiten gestrichen sind. Ich fühle dich im Holz des Tisches, eingeschnitzt ins Holz ist die Essenz deines Seins, der Atem deines Lebens gefangen in den schmalen Rillen dort, wo deine Hände immer lagen. Ich höre dein Lachen, sehe deine Augen, fühle deine Hände auf mir, lebenswarm auch heute, und ich möchte schreien. Ich möchte schreien und weinen, die ganze Zeit nach dir suchen, trotz des Wissens, dass ich dich nie mehr finden werde, dich nie mehr in meinen Armen halten werde, nie mehr die beruhigenden Worte aus deinem Mund hören werde. Aber ich bin müde. Meine Erinnerung ruft all dies hervor, wann immer ich eine Sekunde allein bin, wann immer ein bekannter Duft, Anblick oder ein bestimmtes Gefühl mich streift. Und sie ruft all dies immer dann hervor, wenn ich es brauche. Ich weiß nicht, ob ich dafür dankbar oder todtraurig sein soll. Es gibt mir das Gefühl, dass du noch da bist, irgendwo um mich herum.
Und ich vermisse dich. Ich vermisse dich so sehr, dass es weh tut. Ich vermisse dich mehr als ich es mit Worten auszudrücken weiß und der Versuch es trotzdem zu tun, macht mir klar, wie wenig ich alles verstehe, verkrafte. Wie wenig ich mich selbst verstehe. Ich vermisse dein pures Sein, deine hell erleuchteten Augen, wenn ich dir ganz leise, kaum hörbar, zugewispert habe, dass ich dich liebe. Ich vermisse dich nicht, weil du gut ausgesehen hast, nicht, weil du freundlicher warst, als jeder andere Mensch, den ich kenne, nicht, weil du der klügste Mensch warst, den ich kenne. Ich vermisse deine Seele, ich vermisse die kleinen Dinge, die du mit so viel Sorge und Liebe getan hast, und die Millionen von winzigen Dingen, die unendlichen Wege, auf die du so großzügig und liebenswürdig warst. Ich vermisse das gewisse etwas, das Menschen sich in jemandes Seele verlieben lässt. Ich vermisse deine Seele und manchmal, nur manchmal wünschte ich, ich könnte sie berühren, deine Seele, deine unendliche Seele, die mich nie wieder loslässt, die mich so sehr ich selbst sein lassen hat und mich doch gleichzeitig so sehr verändert hat, nicht gewollt, nicht bewusst. Ich bin froh, dass sie mich verändert hat, dass ich dich kennen durfte, ein Teil von dir, deiner Seele sein durfte. Und manchmal sehe ich den Sonnenuntergang und denke an dich. Dann lösche ich das Licht, wie du es immer getan hast, oder gehe auf das freie Feld und betrachte ihn. Ich höre noch heute, was du damals zu mir gesagt hast. Höre es als ständest du neben mir. Der Sonnenuntergang ist die reinste Form von Gefühl, von Emotionen und Liebe, hast  du gesagt. Wenn die Sonne den Himmel so liebevoll, so warm zum Abschied küsst, als käme sie nie wieder. Und doch geht sie jeden Morgen von neuem auf, mit derselben Gewissheit, dass sie am Abend wird untergehen müssen, und küsst den Himmel genauso schön, wie am Abend zuvor, zur Begrüßung. Du hast gesagt, das ist die Art von Liebe, wie man sie nur einmal im Leben erfährt, wie nur wenige sie erfahren dürfen. Und du warst dir so sicher, dass du diese Liebe mit mir erfahren durftest. Jetzt spüre ich die gleiche Gewissheit, weiß, dass alles, was du gesagt hast, jedes Wort, das du jemals zu mir gesprochen hast, wahr ist. Und ich frage mich, warum uns alles genommen wurde.
Ich weiß, was du sagen würdest, dass Gott den Menschen nie mehr auferlegt, als sie zu tragen im Stande sind, dass es egoistisch wäre, würde man versuchen dieses Gefühl festzuhalten, wenn es einem nicht mehr zusteht, dass ich dankbar sein sollte, für die kurze Zeit, in der ich es hatte, und mir die Erinnerung daran bewahren sollte. Und das tue ich. Selbst, wenn ich es vergessen wollte, könnte ich es nicht. Ich könnte dich nie vergessen, die tiefe, reine Liebe, die ich für dich fühle, weil eben dieses Gefühl so viel mehr war, immer noch ist, als ich es jemals hätte erwarten können, dürfen. Und weil ich eben dieses Gefühl nicht nur habe, spüre, sondern ich dieses Gefühl selber so sehr war und immer noch bin, weiß ich, dass ich dich liebe und ehre, nicht bis an das Ende meiner Tage, sondern darüber hinaus in eine ungewisse, vielleicht niemals erreichbare Zukunft.
Und ich bin dir dankbar für all das, was du mir versucht hast zu geben, was du mir gegeben hättest, wäre es uns länger vergönnt gewesen zusammen zu sein, und für all das, was du mir tatsächlich gegeben hast, was mich so unglaublich stark verändert hat. Meine Seele, mein Leben, meine Gedanken, das alles warst so lange du. Und du wirst es immer bleiben.

Ich hoffe ihr lest den Brief so, wie ich ihn geschrieben habe. Er kommt von Herzen und bedeutet mir sehr viel. Ich freue mich, dass er euch interessiert. AnneAnne-Katrin Clemens, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Anne-Katrin Clemens).
Der Beitrag wurde von Anne-Katrin Clemens auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.07.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Anne-Katrin Clemens als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die goldene Bahre der Inkas von Peter Splitt



Eigentlich beabsichtigte Roger Peters, Inhaber einer Reiseagentur für Abenteuerreisen, ein paar ruhige Tage in Lima mit seiner peruanischen Freundin Liliana zu verbringen, bevor er zu abgelegenen Andenregionen zwecks Erkundigung neuer Reiserouten aufbrechen wollte. Das Auftauchen wertvoller antiker Kulturobjekte und das gleichzeitige mysteriöse Verschwinden eines befreundeten Kunsthändlers aus der Antikszene, stürzen Roger Peters jedoch in unvorhergesehene Abenteuer. Er begibt sich mit seinen Freunden auf die Suche nach alten Inkaschätzen und sieht sich schon bald mit einer international operierenden Hehlerbande für antike Kulturgüter konfrontiert

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Trauriges / Verzweiflung" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Anne-Katrin Clemens

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

....Die kleine verlorene Seele..... von Stephanie Grewer (Trauriges / Verzweiflung)
Der Spielverderber von Klaus-D. Heid (Weihnachten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen