Conny Kirsten
Die letzte Vorstellung
Es war ihre letzte Vorstellung. Langsam ging sie in ihren Umkleideraum und setzte sich vor den Spiegel. Müde schaute sie sich an. Bald würde auch ein gutes Make-up ihr Älterwerden nicht mehr vertuschen können. Doch auch Schönheit konnte Einsamkeit nicht verhindern. Und einsam war sie lange gewesen.
Sie hatte sich schon immer isoliert gefühlt, abgeschnitten vom Rest der Menschheit. Doch gab es zeitweise ein Gefühl von Verbundenheit; ab und an erschien jemand, der die schwere Eisentür in ihrer Seele einen Spalt weit öffnen konnte.
Spontan streckte sie sich die Zunge raus. Vorbei mit der melancholischen Stimmung. Sie lächelte zögernd. "The show must go on!" Es würde weitergehen, wie es immer weiter gegangen war. Und doch verspürte sie heute ein Frösteln, einen kurzen Augenblick lang.
"Unsinn", murmelte sie. Zuviel hatte sie für ihre Karriere opfern müssen. Es gab Kapitel in ihrem Leben, an die wollte sie sich besser nicht mehr erinnern, vor allen Dingen nicht jetzt. Sie seufzte laut. "Irgendwann werde ich für alle Fehler teuer bezahlen müssen!" Sie lächelte zynisch. Die Rolle der Medea hatte ihr gelegen. Sie liebte es, die bösen Frauen der Geschichte zu spielen. Sie hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wie moralisch verständlich oder verwerflich die Charaktere waren, die sie spielte. Sie liebte die Leidenschaft. Dann fühlte sie sich ausgefüllt, so richtig lebendig. Lady Macbeth war auch eine gelungene Abwechslung. Sie kicherte jetzt. Der Augenblick, indem sie den blutigen Dolch in der Hand hielt. Irgendwie war sie immer vom Tod umgeben. Sie hatte ihren Tod schon oft auf der Bühne durcherlebt und erlitten. Sie zuckte mit den Achseln. "Und wenn schon. Irgendwann erwischt es eben jeden einmal," sagte sie zu ihrem Spiegelbild. "Auch dich!" Sie griff nach der Cremedose und einem Schwämmchen. Sie musste sich noch abschminken und dann ein letztes Interview der Presse geben.
"Diesen Aasgeiern!" dachte sie böse. Was würden die darum geben, wenn sie sie so fotografieren könnten. Sie so sähen. Alt und bloßgelegt. Jede Erinnerung in ihre Haut eingegraben. Mit routinierten Bewegungen wischte sie die Schminke von ihrem Gesicht. Sie sah sich an und hasste sich. So war sie nur eine leere Hülle, ihr Gesicht langweilig und nichtssagend. Sie griff nach dem Wein, der auf der Konsole stand.
Im nächsten Augenblick ertönte ein Klopfen an der Tür. Sie schrak zusammen. Die Flasche fiel herunter und zersprang auf den nackten Fliesen. Der Wein breitete sich aus. "Wie Blut!" dachte sie noch.
Die Klinke wurde heruntergedrückt und die Tür öffnete sich sehr langsam. Ein bleiches Gesicht mit Augen wie brennende Kohlen schaute sie an. Sie erbleichte und versuchte aus ihrem Sessel hochzukommen, aber die Beine versagten ihr den Dienst. Ihr Mund klappte auf und zu, aber sie brachte keinen einzigen Ton hervor.
Der Besucher trat nun vollends ein und schloß behutsam die Tür hinter sich. Nun lächelte er,
"Guten Abend, Mutter!", und kam näher auf sie zu.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.07.2005.
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