Lisa Lemberg

Zeit und Erinnerung - Romanauszug

 

Daniel erzählte dem Weitwiesenweiblein von seiner Begegnung mit Tawir, von seinen Empfindungen, als er durch das Tor der Burgruine ging und fragte: „Erinnere ich mich an frühere Leben? In welcher Zeit bin ich jetzt gerade? Warum kennst du mich und warum kannte mich Tawir? Weshalb geschieht das alles?“ 

Die Alte überlegte. Dann summte sie eine weiche Melodie, worauf eine Spinne an einem Faden von der Decke herabschwebte und auf ihrer Hand landete. „Ihr Menschen“, sagte sie, „seht die Zeit als einen Faden, der von einem Ende bis zum anderen reicht.“ Sie deutete zur Decke, dann auf ihre Hand.

Da begann die Spinne, unzählige Fäden miteinander zu verknüpfen, umeinander zu schlingen und zu verweben. „Die Zeit ist wie dieses Gewirr aus Fäden“, erklärte das Weiblein. „Sie besteht aus – reiner Gegenwart, denkbaren Geschehnissen, möglichem Jetzt, wie ihr vielleicht sagen würdet. Nicht jeder Faden wird in Erscheinung treten, manche bleiben ungeboren. Andere verwirklichen sich – und manchmal – liegt ein Jetzt, das aus eurer Menschensicht vor Tausenden von Jahren stattgefunden hat, plötzlich neben dem, was ihr augenblicklich erlebt. Die Schleier heben sich, und ihr seht das frühere und das heutige Jetzt gleichzeitig nebeneinander.“ Die Alte ging zum Feuer, legte nach und kochte eine Kanne Tee. „Es ist sehr schwierig, diese Dinge zu erklären“, sagte sie. 

Eine weitere Spinne knüpfte inzwischen auf dem Tisch Fäden. Daniel und die Alte sahen ihr still zu. Das zweite Bündel rollte auf das erste zu, die beiden vermischten sich.

„Für jeden Menschen, jedes Lebewesen gibt es diese Zeit-Möglichkeiten. Kannst du dir nun vorstellen, wie verflochten die Zeit ist?“

Daniel nahm einen Schluck Tee und schloss die Augen. Nach einer Weile sagte er: „Für einen kurzen Augenblick habe ich es verstanden. Aber sobald ich anfing zu denken, löste sich das Bild auf. Mir ist ein wenig schwindelig.“

Das Weiblein kicherte. „Ja, für heutige Menschen ist es wahrlich schwindelerregend. Aber du hast ja einen guten Sitzplatz. Wenn du bereit bist für weitere Erklärungen, sag es mir, ich habe Zeit.“

 

Lange saß Daniel einfach nur da, die Hand auf dem Kopf des kleinen Fuchses, starrte ins Feuer und trank den Tee. Schließlich nickte er.

„Du fragtest mich nach früheren Leben. Wir Weitwiesenleute sehen das so: Jede Seele ist ein Wurzelstock, jedes Leben eine neue Pflanze oder Blume. Die einzelnen Blumen wissen meistens nichts voneinander, jede erblüht und vergeht wieder. Pflanzen haben ihr Gedächtnis in den Wurzeln. Untereinander können sie über weite Strecken hinweg miteinander reden. So hört zum Beispiel ein Gänseblümchen, das oben auf der Alm wächst, was die Gänseblümchen im Tal erzählen. Alle Pflanzen stehen miteinander in Verbindung, aber, um bei unserem Beispiel zu bleiben, von Gänseblümchen zu Gänseblümchen ist der Austausch am einfachsten.“ 

Daniel dachte nach, dann sagte er: „Das kann ich mir gut vorstellen. Lass mich überlegen. Weil jedes Leben eine Blume aus dem gleichen Wurzelstock ist, kann ich mich an andere Blumen, die zu anderen Zeiten blühten, erinnern, wenn ich die Sprache der Wurzeln verstehe, in denen das Gedächtnis der Pflanze gespeichert ist.“ 

Das Weitwiesenweiblein klatschte begeistert in die Hände und lachte. „Ja, du hast es erfasst!! Und manchmal kannst du hören, was die Wurzeln anderer Lebewesen erzählen. Gib mir deine Hand.“

Daniel ergriff sanft die knotige Hand des Weibleins und hielt sie lange Zeit fest.

Die Alte lächelte, weil sie spürte, dass er ihre Worte begriffen hatte. „Wir Leute vom Moor sind die lebendig gewordene Erinnerung der Wurzeln, die sich langsam auflösen. Sie übertragen uns ihr Wissen, dessen Hüter wir sind. Gerne geben wir es weiter. In der Zeit, in der du als Daniel jetzt lebst, haben viele Menschen ihre Wurzeln vergessen. Auch unzählige Moore sind verschwunden. Aber – es ist immer noch alles da, verborgen zwar, aber nicht endgültig verloren. Tawir hat dich gefunden, in dieser besonderen Nacht, weil deine Wurzeln stark sind. Vieles wirst du herausfinden und wenn ich dir helfen kann, bin ich immer für dich da.

Ich glaube, für heute hast du genug erfahren, Komm, ich begleite dich nun zu deiner pferdelosen Kutsche.“

Also... mich würde einfach interessieren, ob das einigermaßen verständlich ist oder zu versponnen oder...

Für Kommentare wär ich sehr dankbar
Lisa
Lisa Lemberg, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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