Veith Weidenfeldt

Der Hehre Hass des Heiligen K.: Hannes lernt

Vorbemerkung: Nach einer immensen Flut von Fanmails und dem allgemein massiven Interesse an den ersten beiden Teilen des 800-Seiten-Epos "Der Hehre Haß des Heiligen K." folgt nun hier als Zwischenmahlzeit für die kulturhungrige Öffentlichkeit das erste Outtake aus dem beliebten Kreuzberger Chaotenkosmos. Es handelt sich dabei um eine kleine Momentaufnahme eines der Tiefpunkte aus dem verkorksten Leben der Hauptperson...

 

In Sommersemestern sollte man seine Studienambitionen auf ein minimales Maß beschränken. Die Gestaltung der lauen Nächte vereiteln regelmäßig frühes Aufstehen von Vornherein, also sollte man sich ein paar Tage in der Woche freihalten. Die brennende Julisonne, den müden Studiosus im Park röstend, macht das Durcharbeiten der mitgebrachten Unterlagen unmöglich. Sommers im Park gehört die Flasche Wein an die eine und die Maid an die andere Seite des jungen Freidenkers, nicht das technische Kompendium. Dachte sich Hannes und beugte so jedem Aufkeimen eines schlechten Gewissens wegen seines bisherigen konsequenten Nichtstuns vor.

Irgendwann stehen jedoch auch bei sparsamem Kurskontingent die abschließenden Klausuren an, auf welche sich vorzubereiten in den meisten Fällen einen anstrengenden nächtlichen Marathon in letzter Minute erfordert. In dieser prekären Endphase fand sich Hannes nun, nach Wochen der Verdrängung und des Müßigganges, nach wild zelebrierten Nächten, nach untätig in sonniger Wonne verlebten Nachmittagen, nach reihenweise verschlafenen Vorlesungen. Hannes hatte sich nach langen Jahren der Erfahrung ausreichend selbst kennengelernt, um sich von dem ihm drohenden Szenario einer weiteren zaghaft durcharbeiteten Nacht nicht einschüchtern zu lassen.

Procrastination, das zwanghafte Aufschieben anstehender Aufgaben also, ist primär ein Problem von Studenten in Geisteswissenschaften, welche in Inhalt und meist auch zeitlicher Einteilung ihrer Arbeiten mehr Eigenverantwortung haben als Naturwissenschaftler. Weil ihnen selbst in den meisten Fällen ihre genaue Aufgabenstellung und die Gestaltung ihrer Erzeugnisse selbst obliegt, brauchen viele Geisteswissenschaftler länger, bis sie sich, schließlich unter enormen zeitlichen Druck, endlich auf das anstrengende abstrakte Abenteuer einzulassen, thematisch zu einer schlüssigen Struktur zu finden, und diese mit Inhalt zu füllen. Naturwissenschaftler haben dagegen meist klare Arbeitsaufträge, die sie entweder erfüllen können oder nicht, ohne lästige Qualitätsansprüche an sich selbst.

Dies wußte Hannes, war aber der Auffassung, was die schwulen Germanisten könnten, könne er schon lange. Also zog er erstmal eine Nase Speed, um nicht auf halbem Wege einzuschlafen, öffnete dann eine Flasche Wein um nicht aus der Ruhe zu kommen, setzte sich auf eine Zigarette an den Kanal, um seine Gedanken zu ordnen, trank dort noch ein zwei Gläser Wein und kehrte dann in die Wohnung zurück, um nach der Lektüre der Tageszeitung einen langen Brief an einen schon zu lang nicht mehr bedachten Freund zu schreiben. Die Klausur am nächsten Morgen jedenfalls war noch in weiter Ferne. Heute hatte Hannes schon seine Plattensammlung sortiert, sich ein mehrgängiges Menu bereitet, eine Fruchtfliegenkolonie in der Küche ausgehoben und seine Geschirrtücher gebügelt.

Um zwei Uhr morgens sah Hannes auf die Uhr und wendete sich von der Lektüre der "Sagen des klassischen Altertums" von Gustav Schwab ab, um sich langsam für die anstehende Thematik Mikroarchitektur und Registermaschinen zu wappnen. Dazu machte Hannes sich erstmal eine große Kanne starken Kaffees, die er zum Genuß eines Klassikkonzertes im Deutschlandfunk austrank.

Dann machte er sich noch eine.

Schließlich, um drei, nahm er seufzend sein Skript zur Hand und sah sich zwei bis drei Minuten ein paar schematische Darstellungen von Mikroprozessoren an. Dann trank er noch eine Tasse Kaffee. Um viertel nach drei klingelte das Telefon.

Hannes meldete sich träge grunzend.

Vier Blocks weiter brüllten ihn trunkene Busenfreunde an, ihre euphorischen Rufe erreichten ihn schrill übersteuernd für 24 Center pro Minute.

Ich muß lernen, sagte Hannes matt.

Du lernst eh nicht mehr, scholl es zurück und Hannes wußte, es scholl wahr.

Noch sechs Stunden bis zur Prüfung.

 

Um dreiviertel vier hatte sich Hannes bereits sichtlich entspannt auf sein metaphorisches Ruhekissen Nachklausur gebettet und sich außerdem im Trinkteufel ein frischgezapftes Brandenburger Rex bestellt. Zufrieden, die schwere Last endlich von sich genommen zu wissen, viel er ein in die fröhlich degenerierte Stimmung seiner Freunde, die da schon seit früher Abendstund von Spätkauf zu Spätkauf pilgerten, von zeit zu Zeit Station in gemütlichen Lokalen nehmend, um sich an den wogenden Formen der hübschen Kellnerinnen sattzusehen und kultiviert im Kaffee zu rühren, diesen dann mit frischem Berliner und je einem Korn hinunterschwemmend.

Hannes wünschte sich die Birthday Party von der offenbar punkversierten Bardame. Als diese ihre Unkenntnis einräumen mußte, drohte Hannes damit, ins Franken auszuwandern, zeigte sich aber versöhnt, als er Rabatt auf Tequila versprochen bekam. Er ließ sich sogar erweichen, einen kleinen Aufbaukurs zu Englischem Punkrock der frühen Achziger springen zu lassen. Staunend ignorierte ihn der bierschwenkende Busen.

Enrico, einst vom weichherzigen Hannes vom platten Land in die Hauptstadt importiert, hatte sich eine weise, vom rauhen Leben gezeichnete Hausbesetzungsveteranin schöngetrunken und bearbeitete sie nun wortreich, was Hannes zum Anlaß nahm, sich dazuzusetzen, die Zitronenscheiben zu verteilen und aufgeblasen ein paar Gedanken zu T.C.Boyles Gesamtwerk an den Mann/die Frau zu bringen, die er gerade über hatte. Sein Freund überstand noch zwei Tequila und mußte dann aus dem Klo geborgen werden.

Tapfer fand die Meute rechtzeitig den Weg aus diesem dem Trinker so gerechten Tempel, an dem sich Randexistenzen ihre langen Geschichten zum Klang mitgebrachter Gitarren erzählen, sich alternde Hippies und Kahlköpfige zum Humpen lassen und alle gemeinsam, ihre wenigen Münzen zählend, dem Teufel Alkohol schwankend huldigen. Hannes ließ sich, einen flotten Darm in a-moll zupfend, noch ein paar weise Weisen weisen, dann schlingerte die Prozession weiter. Man nahm Station am Mariannenplatz, wilde Schaukämpfe austragend, besorgte Jungtürken beschwichtigend, Spätkaufsternburg schwenkend. Man kroch weiter, wurde vom Elefanten ob seines frühzeitigen Zapfenstreichs enttäuscht, schlich zum Franken und gönnte sich ein letztes Meininger. Hannes wurde noch ein paar Takte Birthday Party an anwesende britische Skinheads los, dann erbrach sich die Runde kollektiv in die Oranienstraße. Es war halb sieben.

 

Keuchend rollte Hannes nächstentages auf dem Fahrrad Richtung Dahlem, die BVG verfluchend, Steglitz den baldigen Tod wünschend und bittere Traktate auf BMW-Fahrer formend. Er mußte anwesend sein, um zur Nachklausur zugelassen zu sein.

Er erbrach sich am Institut für Informatik zweimal, trank einen Kaffee und fiel durch die objektiv erstaunlich anspruchslose Multiple-Choice-Klausur.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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