Maren Frank

Der Fluch der alten Dame

 

London, England, 1920

 

 

 

 

 

Die große schwere Uhr über dem Spülbecken zeigte schon zehn Minuten vor Mitternacht, als Flora Conners endlich ihre Haube aus dem hochgesteckten braunen Haar nahm. Endlich hatten die schweren Hustenanfälle des Veteranen nachgelassen und er schlief nun, atmete dabei ruhig, gleichmäßig, so daß sie es wagte, ihren Dienst nun zu beenden. Auf dem Weg nach unten bat sie die diensthabende Nachtschwester von Zeit zu Zeit nach ihm zu sehen.

 

Mit der nachlassenden Anspannung kam die Müdigkeit und Floras Arme fühlten sich bleischwer an, während sie den Wollmantel über ihre Schwesterntracht zog. Seit sieben Jahren arbeitete sie schon im Mercy-Hospital, das war länger als die meisten anderen Krankenschwestern. Das Hospital war klein, lebte von Spenden der Gemeinde und lag in einem heruntergekommenen Teil der Stadt. Wer hierher kam, tat es fast nie freiwillig. Die Patienten waren größtenteils mittellos, viele Bettler, Obdachlose wie die alte, lungenkranke Frau auf Station zwei, bei der Flora nach einem Blick in ihr graues, faltendurchfurchtes Gesicht gesehen hatte, daß sie dem Tode bereits geweiht war.

 

Flora fröstelte, als sie einen Fuß auf die Mitte der Steintreppe setzte. An den Seiten war der Granit abgebröckelt und der Eingang wirkte so heruntergekommen wie das gesamte Gebäude.

 

Den Mantel eng um sich gezogen trat Flora ihren Weg nach hause an. Sehr weit hatte sie es nicht, nur etwa zehn Minuten brauchte sie, wenn sie zügig ging und jetzt gab es nichts, was sie an Eile hindern würde. Die Straßenlaternen erhellten nur alle zwanzig Meter ein Stück des Weges und die Lichter in den Fenstern waren bereits verloschen. Nur aus einer Seitenstraße schimmerte rotes Licht aus dem ersten Stock.

 

Zu so später Stunde begegnete Flora nur selten jemandem. Die Bettler verzogen sich lieber zum Stadtkern hin, hier, in der Gegend der Ärmsten der Armen gab es nichts, auf das bedürftige hoffen konnten. Aus diesem Grund hatte Flora auch keine Angst vor Überfällen; es gab nichts zu holen. Und so beunruhigte es sie nicht weiter, als sie plötzlich Schritte hinter sich vernahm. Eine andere arme Seele durch den einsamen Weg der Nacht.

 

Flora drehte sich nicht um, die Schritte kamen näher, das Geräusch schnellen Laufens. Er – denn der Schwere der Schritte nach zu urteilen war es wohl ein Mann – würde in wenigen Sekunden an ihr vorbei sein. Doch noch ehe sie diesen Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, wurde sie von hinten gepackt und eine kräftige große Hand legte sich über ihren Mund, um sie am Schreien zu hindern.

 

Flora war nicht besonders groß und das karge Gehalt zusammen mit der harten Arbeit hatte verhindert, daß sich viel Fleisch auf ihren Rippen hatte sammeln können. Doch gerade diese jahrelange körperliche Arbeit war es, die ihre Muskeln gestärkt und ihre Reaktionen geschärft hatte.

 

Sie holte mit dem Ellbogen aus, kämpfte sich so einen Arm frei und versuchte gleichzeitig ihren Angreifer zu treten. Durch ihre Gegenwehr ließ er in seinem Griff etwas locker, von Größe und Gewicht war er ihr zwar weit überlegen, doch hatte er nicht mit Floras Reaktionsvermögen und Kraft gerechnet.

 

Seine Hand rutschte von ihrem Mund und sofort nutzte Flora dies, um so laut sie konnte zu schreien. Nun war schreien in dieser Gegend zwar nichts besonders ungewöhnliches – sie bezweifelte sogar, daß irgendwer ihr zu Hilfe kommen würde, doch zumindest erregte sie so Aufmerksamkeit.

 

Im schwachen Licht, daß die Straßenlaterne einige Meter entfernt herüberwarf und der fahlen Mondsichel des sternenübersäten Himmels sah Flora wie er ausholte. Doch bevor die Faust sie treffen konnte, wurde sie mitten in der Bewegung gestoppt.

 

Flora zögerte nicht, sie verschwendete keine Zeit damit zu gucken, was ihn daran hinderte, sie zu schlagen, sondern brachte sich mit einem Satz in Sicherheit.

 

Hektisch sah sie sich um, wohin sie fliehen konnte. Links die Gasse führte zum Hafen, ein unsicheres Pflaster, besonders Nachts. Aber die vielen an den Häuserwänden aufgestapelten, größtenteils leeren Holzkisten boten eine gute Versteckmöglichkeit.

 

Flora kauerte sich hinter eine der Kisten und hoffte, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie wußte, daß in dieser Gasse oft Bettler übernachteten. Angespannt lauschte sie, die Kampfgeräusche erstarben plötzlich, und nachdem über fünf Minuten alles ruhig geblieben war, wagte Flora sich aus ihrer Deckung.

 

Auf dem Boden, nahe der Laterne, lag eine Gestalt. Im ersten Moment glaubte Flora, daß es ihr Angreifer war, doch da bewegte er sich und der Arm, den er ein kleines Stück hob war viel schlanker. Von dem anderen war nichts zu sehen.

 

Wer auch immer sie gerettet hatte – jetzt brauchte er selbst Hilfe, denn die Bewegung seines Armes war schwach, flehend. Flora hastete näher und kniete sich neben ihn. Sie konnte nur Umrisse erkennen und selbst das nur wage, so daß es unmöglich war zu sagen ob und wenn wie schwer er verletzt war. „Können Sie mich hören?“

 

Mehrere Atemzüge verstrichen, dann erklang leise seine Stimme: „Ja.“

 

Vorsichtig berührte Flora ihn an der Schulter. Er trug eine Art Umhang aus dunklem, dünnem Stoff. „Sind Sie verletzt? Können Sie aufstehen und laufen? Das Mercy-Hospital ist nicht weit entfernt, ich werde Sie dorthin bringen.“

 

„Nein.“ Seine Finger legten sich über ihre Hand an seiner Schulter. „Bitte .... nicht ins Krankenhaus.“

 

„Aber Sie sind verletzt.“

 

„Mir fehlt nichts.“ Langsam richtete er sich auf, schwankte dabei und griff unwillkürlich nach einem Halt.

 

Flora stützte ihn so gut ihr das möglich war. Er war fast einen ganzen Kopf größer als sie und der weite Umhang täuschte nicht darüber hinweg, daß er erschreckend dünn war. Unterernährung war bei den Armen und Obdachlosen normal, dennoch wirkte er nicht wie ein Bettler. Flora hielt eine Hand an seinem Rücken, seinen linken Arm hatte sie sich um die Schultern gelegt. „Sie müssen ins Krankenhaus, Sie können ja kaum mehr gehen.“

 

Sofort blieb er stehen, wandte seinen Kopf zu ihr und sah ihr eindringlich in die Augen. „Nein, bitte, ich darf dort nicht hin.“

 

Flora überlegte, schwer verletzt war er wohl nicht, offenbar aber am Ende seiner Kräfte. „Wo wohnen Sie?“

 

„Nirgends.“

 

Diese Antwort hatte sie fast schon erwartet. „Dann kommen Sie mit zu mir, sie müssen sich wenigstens aufwärmen, die Nacht ist viel zu kalt, um im Freien zu schlafen.“ Morgen früh konnte sie ihn immer noch zu einem der Armenhäuser bringen.

 

„Nein.“

 

„Keine Wiederrede“, sagte sie in jenem strengen Ton, den sie auch bei Patienten anschlug, die sich weigerten, ihre Medizin zu schlucken. Sie konnte nicht sagen, ob er nur nachgab, weil er so schwach war, doch er ging neben ihr die Straße entlang, immer noch leicht auf sie gestützt.

 

Seltsamerweise fand sie es gar nicht so ungewöhnlich diesen ihr völlig fremden Mann in ihre Wohnung mit zu nehmen. Eine richtige Wohnung war es eigentlich nicht, Flora hatte nur ein Zimmer in einem heruntergekommenen Altbau. Das Treppenhaus war stockfinster und sie befürchtete schon, er würde die Stufen bis in den ersten Stock nicht schaffen.

 

Er keuchte leicht, als sie die Holztür aufschloß. „Warten Sie hier.“ Flora ließ ihn an der Tür stehen und eilte zu dem Regal, auf dem sie die Petroleumlampe immer abstellte. Sekunden später flammte das Licht auf und sie kehrte zu ihm zurück. „So, kommen Sie, setzten Sie sich erst mal.“

 

„Danke.“ Er ließ sich von ihr in einen abgenutzten Sessel verfrachten.

 

Flora hantierte an der Kochstelle und zündete das Feuer an. „Ich koche Tee, das wird sie aufwärmen.“ Er antwortete nicht und ungeduldig starrte Flora auf die züngelnden Flammen unter dem alten Kupferkessel. Sie hatte in ihrem ganzen 25 Lebensjahren noch nie einen Mann mit in ihr Zimmer genommen und wenn sie jemals daran gedacht hatte, so hatte sie sich diese Begegnung anders vorgestellt. Das Zimmer natürlich auch, denn in ihren Träumen verwandelte es sich in einen luxuriösen Raum mit großen, von der Decke herabhängenden Lüstern, reich mit Gold verziert und Brokatkissen auf dem großen weinroten Diwan.

 

Bis das Wasser kochte, zündete Flora eine zweite Lampe an und stellte sie auf den kleinen Tisch, um ihren Retter endlich genauer ansehen zu können. Sein Gesicht war blaß, natürlich war er anämisch, das waren so ziemlich alle, denen sie begegnete, besonders die Kinder. Er hatte sehr feine, fast aristokratische Züge, eine schmale, gerade und fast etwas zu lange Nase, dunkle Brauen und hohe Wangenknochen. An seinem Mundwinkel bemerkte sie eine dünne Blutspur. „Oh, Sie sind ja doch verletzt, warten Sie.“

 

Er wischte sich mit dem Ärmel das Blut weg. „Das ist nichts.“

 

Da das Blut wohl von dem Angreifer stammte und Flora keine Verletzung an seinen ebenmäßigen Lippen feststellen konnte, betrachtete sie ihn weiter. Die Augen waren auch bei Licht genauso dunkel wie draußen. Sehr viel älter als sie konnte er nicht sein und sie fragte sich, wo er wohl herkam und was geschehen war, daß er nun derart entkräftet war. Das beste wäre sicherlich, ihn einfach zu fragen und sich zuerst mal selbst vorzustellen. „Mein Name ist Flora, Flora Conners. Und wie heißen Sie?"

 

„Vincent", lautete die einsilbige Antwort.

 

„Vincent“, wiederholte sie. Nicht gerade ein geläufiger Name, aber er sah ohnehin nicht aus, als wäre er aus der Gegend. Wie ein Schotte oder Ire wirkte er dagegen auch nicht. „Wo kommen Sie her, Vincent?“

 

Statt darauf einzugehen, erhob er sich halb aus dem Sessel. „Lassen Sie mich gehen, bitte.“

 

Mit zwei Schritten war Flora bei ihm und packte ihn am Arm. „Nein, Sie sind doch noch viel zu schwach. Trinken Sie wenigstens eine Tasse heißen Tee und schlafen Sie etwas.“

 

Er schüttelte nur schwach den Kopf, blieb aber sitzen und ließ zu, daß Flora eine alte, ausgefranste Schafwolldecke um ihn drapierte. Sicher fror er, er mußte einfach frieren so dünn wie er war und bei der niedrigen Temperatur in ihrem Zimmer. Flora gab ihm den fertigen Tee in die Hand, doch er starrte nur auf die dampfende Tasse.

 

„Versuchen Sie doch ein bißchen zu trinken. Oder soll ich Ihnen eine Brühe kochen?“ Viele Vorräte hatte sie nicht, doch für eine Suppe würde es schon noch reichen.

 

„Nein.“ Er betrachtete sie lange und seltsamerweise war es Flora weder peinlich noch unangenehm. Sonst haßte sie es, angestarrt zu werden, wenngleich das auch nicht oft vorkam. Die Menschen hatten genug mit sich selbst und ihren eigenen Familien zu tun.

 

Um das Schweigen zu beenden beschloß Flora ein wenig von sich zu erzählen, natürlich mit dem Hintergedanken, daß er ihrem Beispiel folgen würde. Er hatte so etwas faszinierendes, geheimnisvolles an sich, das sie in seinen Bann zog. „Ich arbeite als Krankenschwester im Mercy-Hospital, seit sieben Jahren schon.“

 

Ihre Worte registrierte er nur mit einem Nicken.

 

„Ich lebe allein“, fuhr sie fort. Mit ihrer kompletten Familiengeschichte wollte sie ihn allerdings nicht konfrontieren. Ihren Vater kannte sie gar nicht und bis sie zwölf war, hatte sie mit ihrer Mutter in einem Armenhaus gelebt. Sie hatten stets nur so viel gehabt, um gerade so überleben zu können, bis hin zum Leichen waschen hatte Helen Conners jede Arbeit angenommen, die sie kriegen konnte und ihre einzige Tochter auf die Schule geschickt.

 

Dann hatte in einem besonders strengen Winter ein heimtückisches Fieber gewütet und mehr als die Hälfte der Bewohner des Armenhauses hingerafft, unter ihnen auch Helen. Flora war damals ebenfalls erkrankt und wochenlang hatte sie zwischen Leben und Tod geschwebt, bis ihr starker Wille doch noch gewann. Nur langsam hatte sie sich erholt und auf sich allein gestellt und fast mittellos – denn Helen hatte kaum mehr als ein paar Münzen besessen – blieb sie zuerst mal im Armenhaus. Flora suchte sich Arbeit, Putzstellen und Botengänge, die Schule konnte sie sich nicht mehr leisten, sie war schon froh, mehr Schuljahre geschafft zu haben, als die meisten anderen in ihrer Umgebung. Das wenige Geld, das sie verdiente, gab sie fast sofort aus für Essen und was gerade nötig war an Kleidung und Schuhen. Flora wußte, daß sie als Minderjährige eigentlich ins Waisenhaus gemußt hätte, doch diese Vorstellung war ihr zuwider und so bat sie die Wirtin des Armenhauses sie nicht zu verraten. Die alte Frau versprach es dem Mädchen, denn sie mochte Flora. Doch Flora wußte, daß sie nicht lange einer Entdeckung entgehen konnte.

 

Eines Tages packte sie ihre kargen Habseligkeiten und zog in ein etwas feineres Randgebiet der Stadt. Hier lebten Kaufleute und Geschäftsmänner, sogar ein Advokat hatte sich an der Straßenecke niedergelassen und in dem Hotel stiegen oft Handlungsreisende ab. Den ganzen Tag versuchte Flora eine Stelle als Dienstmädchen zu bekommen. Endlich, es dunkelte schon, ihre Füßen in den ausgetretenen Schuhen schmerzten und sie war am Ende ihrer Kräfte, wurde sie nicht sofort an der Tür abgelehnt, sondern herein gebeten. Mrs. Carmichael war eine Witwe in den Sechzigern und ihr bisheriges Dienstmädchen hatte vor einigen tagen wegen ihrer Hochzeit gekündigt. Kritisch fragte sie Flora nach ihren Fähigkeiten und nach ihrem Alter. Vierzehn wäre sie, log Flora und nach atemlosen Sekunden, in denen sie aus den durchdringenden grünen Augen der alten Witwe gemustert wurde, stellte die Dame sie ein. Zuerst natürlich nur zur probe, doch Flora war selig ein Dach über dem Kopf, ein Bett und eine warme Mahlzeit zu bekommen.

 

Sehr schwer war die Arbeit nicht, da Mrs. Carmichael schon seit Jahren allein lebte, gab es außer ihr und dem kleinen Hund, den sie immer mit sich herumtrug niemanden zu versorgen. Flora kochte für sie, kaufte auf dem nahen Markt ein, ging einmal die Woche zum Hafen, um frischen Fisch und die ankommende Post zu holen, hielt das Haus sauber und beschnitt die Rosensträucher auf der Veranda.

 

Über fünf Jahre lebte Flora bei der lebenslustigen alten Frau. Sie schlief in der kleinen Dachkammer und Mrs. Carmichael erlaubte ihr, die Bücher aus ihrer privaten Bibliothek mit nach oben zu nehmen. Sie war angenehm überrascht, als sie eher zufällig feststellte, daß ihr neues Mädchen lesen konnte und ermutigte sie zu weiteren Studien. Und Flora lernte gern. Dann eröffnete Mrs. Carmichael ihr eines Tages, daß sie sich entschlossen hatte zu ihrer ältesten Tochter nach Capri über zu siedeln. Das naßkalte Wetter in London bekam ihrem stärker werdenden Lungenleiden gar nicht und die von ihr konsultierten Ärzte hatten ihr dringend zu einem längeren Aufenthalt in wärmeren Gefilden geraten.

 

Flora verspürte neben dem Schrecken so plötzlich ohne Arbeit dazustehen auch Abschiedsschmerz. Sie mochte die alte Dame sehr, Mrs. Carmichael war eine richtige Lady und in den vergangenen Jahren waren sie und ihr kleiner Hund fast so etwas wie eine Familie für sie gewesen. Am Tag der Abreise brachte sie Mrs. Carmichael zum Hafen. Die alte Dame hatte Tränen in den Augen, als sie das Mädchen umarmte und dann mit ihrem Hund unterm Arm die Rampe der Fähre emporstieg und von der Reling Flora noch einmal zuwinkte.

 

Das Haus hatte Mrs. Carmichael ihrem Advokaten anvertraut, der sich um den Verkauf kümmern würde. Für einen kurzen Moment spielte Flora mit der Überlegung auf die nächsten Eigentümer zu warten und um eine Stelle als Dienstmädchen vorzusprechen. Doch sie konnte kaum erwarten, daß sie genauso gütig wie die alte Dame wären, außerdem hatte sie inzwischen genug von der Rolle der Magd. Ihre Aussichten waren besser als vor fünf Jahren. Sie war nun 18, ihre Garderobe hatte sich verbessert und zum Abschied hatte ihr Mrs. Carmichael 5 Pfund geschenkt, ein kleines Vermögen für Flora, die niemals zuvor so viel Geld besessen hatte.

 

Dennoch war es schwer, eine neue Arbeit zu finden. Flora hatte nur ihre Berufserfahrung als Dienstmädchen und diese Stellen waren schnell vergeben. Das sie lesen und schreiben konnte, nützte ihr nun nicht viel, sie hatte keine Ausbildung in kaufmännischen Lehren. Sie schlief in billigen Pensionen und zog von morgens bis spät abends auf der Suche nach Arbeit durch die Stadt. Irgendwann hörte sie dann zufällig, daß im Mercy-Hospital immer Arbeitskräfte gesucht wurden, Frauen, die sauber machten und Pflegerinnen für die Kranken. Sofort machte sie sich auf den Weg, ihr Geld war fast aufgebraucht und sie hoffte inständig, eine Stelle zu bekommen. Und die bekam sie auch, zuerst war es kaum mehr als eine Putzstelle, doch Floras rasche Auffassungsgabe überzeugten die Oberschwester und so erhielt das Mädchen eine richtige Ausbildung als Krankenschwester.

 

An das alles dachte Flora in diesem Moment, während sie den fremden Mann betrachtete. „Ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt, daß Sie mir das Leben gerettet haben.“

 

Er schaute zu Boden, reagierte nicht auf ihre Bemerkung.

 

Vielleicht weil er verlegen war, überlegte Flora. Das konnte gut sein, schließlich wurde sie jetzt selbst langsam verlegen, mit einer solchen Situation hatte sie keinerlei Erfahrung. „Sicher sind Sie müde, kommen Sie, schlafen Sie, ich überlasse Ihnen mein Bett.“

 

Schwach schüttelte er den Kopf. „Ich muß weg.“

 

„Nein“, wiedersprach sie energisch. So wie er aussah, würde er die Nacht draußen nicht überstehen. Unter seinem leisen Protest verfrachtete sie ihn schließlich mit zwei decken auf die Couch und fast sofort schlief er ein.

 

Erst jetzt gestattete Flora sich ihrer eigenen Müdigkeit nachzugeben und schlüpfte in ihr Bett.

 

 

 

Als sie aufstand, schlief ihr geheimnisvoller Besucher noch. Für einen bangen Moment betrachtete sie genau seine Brust und ließ den angehaltenen Atem entweichen, als sie das schwache Heben und Senken gemerkte. Er lebte, auch wenn seine blasse Gesichtsfarbe besorgniserregend war.

 

Sie wollte ihn nicht wecken, mußte allerdings zur Arbeit, daher schrieb sie eine kurze Nachricht, in der Hoffnung, daß er lesen konnte und legte sie vor ihn auf den Tisch. Dazu legte sie das Brot, das sie noch hatte und den restlichen Käse.

 

Viel Gelegenheit sich Gedanken um ihn zu machen, hatte sie nicht, in der Nacht war es unter den Hafenarbeitern zu einer Auseinandersetzung gekommen und mit zahlreichen Blessuren lagen nun sieben Männer im großen Saal.

 

Im ersten Bett unter dem Fenster lag ein grobschlächtiger Mann, der wildes Zeug faselte. Flora kannte das, das kam oft bei schweren Verletzungen vor, besonders, wenn der Betreffende schon Medikamente bekommen hatte. Er hatte zudem reichlich Blut verloren, die Wunde an seinem Hals hätte ihn leicht das Leben kosten können, wenn er  nicht rechtzeitig aufgegriffen und ins das Hospital gebracht worden wäre. Immer wieder schrie er, ein Dämon habe ihn angegriffen und gebissen.

 

Flora hielt ihn für einen der in die Auseinandersetzung verstrickten Hafenarbeiter. Vermutlich hatte eine Holzlatte mit einem Nagel die Verletzung am Hals verursacht. Nicht selten führten solche Streitereien zu schwerwiegenden Wunden, das hatte Flora oft schon gesehen.

 

Gegen Mittag wechselte sie die Blutkonserve bei ihm und als er dabei die Augen öffnete und sie ansah, begann er wieder zu schreien. Flora zuckte nicht zurück, versuchte ihn mit leisen Worten zu beruhigen und ihm zu versichern, daß er im Krankenhaus und alles in Ordnung wäre, doch da er nicht reagierte, ignorierte sie ihn.

 

In ihrer knappen Mittagspause bekam sie zufällig ein Gespräch zwischen zwei anderen Schwestern mit. Die eine Stimme gehörte ganz klar der dicken Klatschbase Betty, die andere erkannte Flora nicht sofort. „... du hättest diesen Biß sehen soll, was auch immer das für eine Bestie war, die ihn da erwischt hat, es fehlte nicht viel und sie hätte ihm den ganzen Kopf abgebissen.“ Betty hatte also wieder was zu tratschen.

 

Aus den Augenwinkeln sah Flora, wie sich die andere, eine noch sehr junge, feinknochige Frau mit seidigem Blondhaar zu ihr hinüber beugte, den Mund staunend geöffnet. „Ehrlich?“

 

Betty nickte. „Ich schwörs dir, hätte ich nicht den Frühdienst gehabt und den Mann gesehen, würde ich es ja selbst nicht glauben. Mir lief es kalt den Rücken runter als ich ihn sah; das ganze zerrissene Hemd in Blut getränkt und es lief immer weiter und weiter. Kein Wunder, daß der arme Teufel nun nur noch schreit und ganz verrückt geworden ist.“

 

Die andere schauderte. „Du machst mir Angst, Betty.“

 

Eigentlich mischte sich Flora nicht ein, wenn Betty ihre Klatschgeschichten erzählte. Ab und zu war es unterhaltsam, ihr zuzuhören, ihr nicht wissen glich sie stets mit viel Phantasie aus, so wohl auch diesmal. Das sie allerdings damit Angst und Schrecken verbreitete war sicherlich nicht besonders sinnvoll. Das sah die Oberschwester wohl genauso, denn die hatte, wie Flora auch, gerade ihre Mittagsmahlzeit eingenommen und da Betty wie immer laut genug gewesen war, den größten Teil des Gesprächs mitbekommen. Nun stand sie vor den beiden Schwestern, die Arme in die knochigen Hüften gestemmt. „Halt sofort den Mund, du dummes Ding. Dir wird ich helfen, so einen Humbug zu erzählen. Los auf, bei Mrs. Roberts muß die Bettwäsche gewechselt werden.“

 

Betty stob davon, die andere Schwester sah aus großen Augen zu ihrer Vorgesetzten auf. „Stimmt es denn nicht, was Schwester Betty erzählt?“

 

Die Oberschwester setzte sich neben die junge Frau und legte ihr eine Hand auf den Arm. Das Mädchen war erst seit drei Wochen hier und viel zu gutgläubig. „Schwester Sarah, ich sage Ihnen jetzt, was wirklich passiert ist: Der arme Mann, von dem Schwester Betty sprach, war in eine heftige Auseinandersetzung verwickelt, aus der er mit schweren Verletzungen hervorging, die wohl von einer mit Nägeln besetzten Holzleiste herrühren. Ein Hundebiß sieht nämlich anders aus, das können Sie mir glauben.“

 

„Und wenn es nun kein Hund war, sondern...“

 

„Schwester Sarah, auch auf Sie wartet Arbeit und ich möchte jetzt nichts mehr davon hören.“ Mit diesen Worten stand die Oberschwester wieder auf und rasch drehte Flora sich um, um sich wieder ihrem Essen zu widmen. Es war richtig gewesen, daß die Oberschwester dazwischen gegangen war, Sarah war ohnehin schon sehr ängstlich und verbrachte viel zu viel Zeit mit Betty, die in ihr endlich eine begeisterte Zuhörerin gefunden hatte.

 

Erst am Abend dachte Flora wieder an das Gespräch. Ihr Dienst war nun beendet und sie nahm die Haube ab. Bei dem Gedanken allein nach Hause zu gehen, hatte sie ein mulmiges Gefühl. Was, wenn wieder jemand versuchte sie zu überfallen. Oder schlimmer noch, wenn Betty recht hatte und eine wilde Bestie sich hier herumtrieb?

 

Energisch schüttelte sie den Kopf und schalt sich im Stillen. Seit wann glaubte sie denn Bettys Klatschgeschichten. Nur weil gerade keine Schwester Spekulationen über ein Verhältnis mit einem Arzt bot, dachte Betty sich eben was anderes aus. Außerdem war es noch gar nicht richtig dunkel, wenn sie sich beeilte, war sie zu hause, ehe die Laternen angezündet wurden.

 

Flora ging rasch und unterwegs sah sie ein paar andere Leute, die ebenfalls jetzt von der Arbeit kamen. In lange abgenutzte Wollmäntel gehüllt, die sie eng um sich gezogen hatten, eilten sie die asphaltierte Straße entlang zu ihren Wohnungen, wo ein wärmendes Feuer und vielleicht eine Familie auf sie warteten.

 

Unwillkürlich dachte Flora an ihren seltsamen Besucher. Ob er wohl noch da war? Ein wenig würde sie es schon bedauern, wenn er einfach so verschwunden wäre. Obwohl sie den ganzen Tag Menschen um sich hatte, war sie abends doch sehr allein und oft wünschte sie sich, jemanden zum reden zu haben. Seit Mrs. Carmichaels Weggang hatte sie keine interessanten Gespräche mehr geführt. Mit ihren Arbeitskolleginnen verstand sie sich größtenteils zwar sehr gut, doch war keine dabei, die sie als Freundin bezeichnen würde.

 

Flora öffnete die Tür und ein erfreutes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Vincent lag noch immer auf der Couch. „Hallo“, sagte sie und eilte zu ihm.

 

Langsam öffnete er die Augen und sah sie an. „Ich muß weg.“

 

Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und die Hand, nach der Flora nun griff, um seinen Puls zu fühlen, eiskalt. „Sie müssen ins Krankenhaus.“

 

Schwach schüttelte er den Kopf. „Das geht nicht.“

 

Ihr Blick fiel auf den Tisch, er hatte das Brot und den Käse nicht angerührt und von dem nun längst kalt gewordenen Tee kaum mehr als ein, zwei Schluck getrunken. „Doch, Sie sind völlig entkräftet.“

 

„Es geht nicht“, wiederholte er nur.

 

„Ich habe etwas Geld.“ Viel war es nicht, daß sie gespart hatte, doch für eine Behandlung würde es wohl reichen. Denn die brauchte er auf jeden fall, so, wie er dalag, wirkte er mehr tot als lebendig.

 

Erneut schüttelte er den Kopf. „Das hilft mir nicht, sie würden mich töten.“

 

„Nein, bestimmt nicht, das...“

 

„Sie verstehen nicht.“ Er schluckte und fuhr sich über die trockenen Lippen. Die dunklen Augen waren nun genau auf Flora gerichtet und trotz seiner offensichtlichen Schwäche war sein Blick ganz klar.

 

Instinktiv spürte Flora, daß es hier um mehr als die Angst vor einem Spitalaufenthalt ging. Sie legte ihre Finger auf seine Hand und drückte sie leicht. „Erzählen Sie es mir, Sie können mir vertrauen. Was auch immer Sie getan haben, ich werde Sie nicht verraten.“ Vielleicht war dieses Versprechen zu vorschnell gegeben, möglicherweise war er ja ein gesuchter Verbrecher. Aber irgendwie glaubte Flora nicht daran.

 

„Ich brauche Blut“, sagte er.

 

„Blut?“ Leicht irritiert blickte sie ihn an. Wie meinte er das?

 

Die Erklärung folgte sogleich: „Ich bin ein Vampir.“

 

Was ein Vampir war, wußte Flora, darüber hatte sie in mehreren Büchern gelesen. Allerdings waren es größtenteils Romane gewesen, die alte Mrs. Carmichael hatte eine ungewöhnliche Vorliebe für Horrorgeschichten gehabt. Werwölfe, Vampire und andere Untote, oft hatte sie in ihrem Schaukelstuhl vor dem Kamin gesessen, ihren Hund auf dem Schoß und Flora hatte ihr eine Schauergeschichte nach der anderen vorgelesen. Doch obwohl sie die eine oder andere wage wissenschaftliche These gelesen hatte, so hatte sie doch nie geglaubt, jemals einem leibhaftigen Vampir zu begegnen. Sie war einfach fest davon überzeugt, daß es keine Vampire gab. Womöglich hatte sein schlechter körperlicher Zustand dazu geführt, daß er sich diese Phantasie einbildete, für real hielt. Es kam oft vor, daß Menschen im Delirium phantasierten und Flora dachte an den schwer verletzten Mann vom morgen. Der hatte von einer Bestie erzählt, die ihn gebissen hatte.

 

Ein kalter Schauer rann plötzlich über Floras schmalen Rücken hinab. Sie erinnerte sich, daß Vincent gestern Blut an der Lippe gehabt hatte, daß nicht von ihm selbst gestammt hatte. Und dieser verletzte Mann, es konnte durchaus ihr Angreifer gewesen sein.

 

Vincent bemerkte ihr Erschrecken und daß sie aufspringen wollte. Mit erstaunlicher Kraft hielt er ihre Hand fest. „Bitte, hab keine Angst vor mir, ich werde dir nichts tun.“

 

Flora schluckte, dann rief sie sich selbst zur Ordnung. Wenn er wirklich ein Vampir war und die Absicht hatte, sie zu beißen, hätte er das in der vergangenen Nacht bereits können. „Du hast mich gerettet...“ begann sie, nun auch zu der vertrauteren Anrede übergehend.

 

„Ja und ich habe den Mann erwischt und gebissen, aber ich habe ihn nicht getötet.“

 

„Ich weiß“, sagte sie und fügte auf seinen fragenden Blick hinzu: „Er liegt im Krankenhaus und redet wirres Zeug von einer Bestie, die ihn angefallen und gebissen hat.“

 

„Das war ich“, erklärte er ruhig. „Und vielleicht bin ich ja wirklich eine Bestie, denn dazu wurde ich verdammt.“

 

„Du meinst, auf dir liegt ein Fluch?“

 

„Ja.“ Für einen Moment zögerte und Flora fürchtete schon, er würde sich nun völlig zurück ziehen, doch dann begann er zu erklären: „Ich stamme aus Rumänien, meine Familie besitzt dort seit Generationen ein altes Schloß. Doch mein Großvater verliebte sich als junger Mann in die Tochter der Nachbarn, die bezaubernd schöne Amelie. Für ein Jahr waren sie glücklich, dann kam Amelie bei einem Reitunfall ums Leben, mit einem Pferd, das mein Großvater ihr geschenkt hatte. Ihre Mutter gab ihm die Schuld und nichts konnte sie in ihrem Zorn und Schmerz beschwichtigen. Sie verfluchte ihn und seine Nachkommen. Er hatte damals nur den gerade eine Woche alten Sohn von ihm und Amelie, meinen Vater. Doch der Fluch ging auch auf ihn über und er wurde wie mein Großvater ein Vampir. Und daher bin ich auch ein Vampir, dazu verdammt, ein Geschöpf der Nacht zu sein, seit nunmehr 200 Jahren schon.“

 

Überrascht riß Flora die Augen auf, sie hatte ihn für nur etwa Ende zwanzig gehalten, aber dann stimmte es wohl, daß Vampire nicht alterten. „Gibt es denn nichts, was diesen Fluch lösen könnte?“

 

„Ich weiß es nicht genau.“ Er fuhr sich über die trockenen Lippen und für einen kurzen Moment sah Flora eine weiße Zahnspitze aufblitzen. „Angeblich kann starke wahre Liebe ihn lösen. Doch bisher gelang es nicht, meine Mutter starb wenige Monate nach meiner Geburt, als bei einem schweren Unwetter Teile unseres Schlosses einstürzten und sie erschlugen. Auch die zweite Frau meines Vaters lebte nur kurz, nachdem sie ihn geheiratet hatte. Sie ertrank beim Wasserholen, als sie abrutschte und in den Fluß fiel.“

 

„Das sind doch alles Unfälle, so etwas passiert eben. Tragisch, sicher, aber...“

 

„Nein, es ist der Fluch“, sagte er mit trauriger Stimme. „Die Männer der Familie sind zum Vampir verdammt und die Frauen, in die sie sich verlieben, dem Tode geweiht.“

 

Besonders abergläubisch war Flora nicht und ganz so überzeugte sie seine Geschichte nicht. Sicher, er log nicht und glaubte an diesen Fluch, doch sie wollte ihm gern helfen. Das war ihre Pflicht, außerdem war Rumänien weit entfernt. „Sag mir, was ich für dich tun kann.“

 

„Ich brauche Blut“, erklärte er nach kurzem Zögern.

 

„Ich werde dir welches besorgen.“

 

Sie wollte aufstehen, doch er hielt ihre Hand noch für einen Moment fest und sah ihr eindringlich in die Augen. „Bitte sei vorsichtig.“

 

„Versprochen.“ Sie drückte kurz seine Finger, dann streifte sie ihren Mantel über und eilte in die Nacht hinaus, zurück zum Krankenhaus. Wolken hatten sich vor die Mondsichel geschoben, so daß es noch dunkler war, doch das registrierte Flora nicht bewußt. So schnell sie konnte lief sie die engen Gassen hindurch, bis sie endlich atemlos den Seiteneingang des Mercy-Hospitals erreichte.

 

Wo die Blutkonserven aufbewahrt wurden, wußte sie genau und mit zitternden Fingern schloß sie die Tür auf. Wie gut, daß sie schon so lange hier arbeitete und deshalb als einzige Schwester außer der Oberin einen eigenen Schlüssel hatte.

 

Knarrend schwang die schwere Tür auf und rasch schlüpfte Flora hindurch, schloß sie hinter sich, tastete im dunklen nach der Lampe und zündete sie an. Es war eiskalt in dem Raum, der als Lager für die Blutkonserven diente und der starke Karbol-Geruch, den sie bei ihrer Arbeit schon lange nicht mehr wahrnahm, stach ihr in die Nase.

 

Flora füllte die mitgebrachte Leinentasche vorsichtig mit den Beuteln, in denen dunkel das Blut schwappte. Sie beeilte sich, auch wenn sie kaum eine Entdeckung befürchten mußte. Wenn nicht gerade ein Notfall eingeliefert wurde, ging des nachts niemand in die Blutbank. Doch Vincent brauchte das Blut, je eher, desto besser und auf dem gleichen Weg, den sie gekommen war, huschte sie wieder hinaus.

 

Als das dunkel der Nacht ihre schmale Gestalt mit seiner geheimnisvollen Hülle schluckte, wagte sie aufzuatmen. Niemand hatte sie gesehen und es war nicht zu befürchten, daß der Diebstahl auffiel oder gar, daß sie verdächtigt wurde. Blut wurde schließlich immer mal wieder gebraucht und gerade bei dringenden Fällen wurde oft vergessen, wieviel Tüten verbraucht worden waren.

 

Leicht außer Atem kehrte sie in ihre Wohnung zurück und noch ehe sie den mantel auszog, gab sie Vincent einen Beutel Blut, der diesen sogleich öffnete und an die Lippen setzte. In den nächsten Minuten konnte sie geradezu zusehen, wie er aufblühte; seine Gesichtsfarbe blieb zwar recht blaß, war aber nicht mehr so geisterhaft wächsern, er wirkte stark und vital und stand auf.

 

Unsicher nahm er Floras Hände und sah ihr tief in die Augen. „Ich danke dir.“

 

Sie schluckte und hielt seinem Blick stand. „Ich würde dir gern helfen, den Fluch zu lösen.“

 

„Du hast keine Angst vor mir?“ fragte er leise.

 

Klopfenden Herzens schüttelte Flora den Kopf. Sein Gesicht war ihrem ganz nah und sie starrte auf seinen ebenmäßigen Lippen, hinter denen sich die spitzen Zähne verbargen, mit denen er so leicht ein Leben auslöschen konnte. „Nein, ich habe keine Angst vor dir“, hauchte sie atemlos. „Nichts, was du sagst oder tust kann mich erschrecken.“

 

Die Freude über ihre Worte erhellte seine aristokratischen Züge und die wunderschönen dunklen Augen schienen von innen heraus zu leuchten. Er neigte den Kopf ein wenig und beugte sich so weit vor, daß er sie ganz leicht auf den Mund küssen konnte.

 

Verwirrt von dem Strudel der Gefühle, der sie erfaßte, umarmte Flora ihn mit aller Kraft. So etwas hatte sie noch nie empfunden, ja sich nicht mal in ihren Träumen ausgemalt, daß sie sich so verlieben würde, noch dazu in einen Mann, den sie kaum kannte und der ein Vampir war. „Ich möchte den Fluch lösen, ich weiß, daß meine Liebe stark genug ist.“

 

Er befreite sich aus ihrer Umarmung und wandte sich ab.

 

Erschrocken griff Flora nach seiner Hand. „Liebst du mich denn nicht?“

 

Ganz sanft umfaßte er ihr Gesicht mit seinen schlanken Händen und betrachtete sie lange. „Gerade weil ich dich liebe, darfst du nicht riskieren, den Fluch auf dich zu ziehen. Wenn du stirbst, wird das mein Leben endgültig zerstören. Mit dem Wissen an deinem Tod Schuld zu sein, könnte ich nicht leben.“

 

Sie lächelte. „Aber ich lebe und habe nicht vor, das so bald zu ändern. Du hast doch gesagt, daß wahre, starke Liebe den Fluch zu lösen vermag.“

 

„Ich wünsch mir so sehr ein normales Leben, ein normaler Mann zu sein, dein Mann zu sein...“ sagte er leise und mit unendlicher Trauer.

 

„Das alles wirst du haben.“ Sie hob eine Hand und fuhr mit den Fingern zart über seine Wange. „Laß uns in deine Heimat reisen.“

 

„Aber...“ Er machte eine ausladende Handbewegung, die das kleine Zimmer umschloß. „Was ist mit deinem Leben hier, deinem Besitz, deiner Arbeit.“

 

Nun mußte sie doch lachen. „Sehe ich etwa so aus, als hätte ich viele Reichtümer? Alles, was ich habe, sind etwas mehr als 8 Pfund, die ich in den letzten Jahren gespart habe, die kann ich nun gut für unsere Reise gebrauchen. Und meine Arbeit gebe ich gern auf.“

 

„Wirklich?“

 

Sie nickte und um seine letzten Zweifel auszuräumen, küßte sie ihn. „Ja. Wird das Blut reichen, bis wir in Rumänien sind?“

 

„So viel brauche ich nicht, es wird schon gehen und eine zeitlang kann ich sogar ohne überleben.“

 

Sie hatte gesehen, wie schwach er ohne Blut gewesen war, also galt es keine Zeit zu verlieren und das sagte sie ihm auch. Viel hatte Flora nicht zu packen, sie besaß nur wenige Kleider, keinerlei Schmuck oder sonstige Zierart. Sie packte eine Tasche mit Proviant – für sich Brot und Käse, für Vincent die Blutkonserven – und polsterte sie mit einer Decke und einem alten Kleid. Die Münzen und Pfundnoten trug sie lieber in einem Brustbeutel unter ihrer Bluse, das war sicherer.

 

Gerade mal eine Stunde war nach ihrem Entschluß vergangen, da standen Vincent und Flora auf dem Bahnhof und an dem kleinen Schalter bezahlte sie ihre Fahrt. Mit dem Zug konnten sie den größten Teil ihrer Reise nach Rumänien zurück legen. Sie waren die einzigen Reisenden, denn der kleine Zug transportierte vor allem Waren und so mußten sie sich mit einer Herde Schafe in einen Wagen zwängen. Von dem etwas strengen Geruch einmal abgesehen, hatte dies aber den Vorteil, daß es schön warm war und sie saßen eng aneinandergeschmiegt an die Rückwand gelehnt auf einer recht dicken Lage Stroh. Die Schafe drängten sich anfangs neugierig schnuppernd um sie, verloren aber bald das Interesse und blökten nur von Zeit zu Zeit.

 

Das gleichmäßige Ruckeln schläferte Flora langsam ein und an Vincents Schulter gekuschelt fühlte sie sich geborgen. Er selbst war nicht müde, wachte über ihren schlaf und betrachtete sie verzückt. Sie war so schön, so unschuldig und reinen Herzens. Und ihre Liebe war ehrlich und stark, das spürte er deutlich.

 

Kurz bevor der Zug in den Bahnhof einfuhr, nahm sich Vincent einen Beutel Blut, das würde ihm Kraft für die nächsten Stunden geben. Er weckte Flora in dem er sie zart auf die Stirn küßte. Für einen Moment war sie orientierungslos, doch dann hörte sie das Stampfen und Pfeifen der Lokomotive und ihr fiel alles wieder ein.

 

Sie stiegen aus und fragten sich zum nächsten Kutschenstand durch. Mit seinem schwarzen langen Cape und dem edlen Erscheinungsbild sah Vincent wie ein Handlungsreisender aus und Flora, die eingehakt an seiner Seite ging, hielten ihre Betrachter für seine ihn begleitende Ehefrau.

 

Sie hatten Glück, in den nächsten zehn Minuten würde eine Kutsche abfahren, die sie ganz in die Nähe vom Vincents Familienbesitz bringen würde. Mit ihnen reisten noch eine ältere, strickende Frau, die einen kleinen Jungen bei sich hatte, der, wie sie ungefragt erzählte, ihr Enkel war und mit dem sie nun zu ihrer Tochter fuhr.

 

Die restliche Strecke waren sie gezwungen, zu Fuß zurückzulegen, doch Vincent versicherte ihr, daß es nicht mehr sehr weit war. Flora hoffte es, denn soeben hatte er den letzten Beutel Blut geleert und hier gab es keine Möglichkeit, neues zu besorgen.

 

Nach etwa einer Viertelstunde, die sie schweigend über brach liegende Felder nebeneinander hergeschritten waren, ragte plötzlich das schloß vor ihnen auf. Es war aus grauem Stein erbaut, ein Burgfried stand imposant an der linken Seite und an jeder Ecke waren Türmchen. Die heruntergelassene Zugbrücke über dem das Schloß umgebenden Wasser, wirkte alt und verwittert.

 

An Vincents Arm durchschritt Flora den Eingang und sah den dunklen Innenhof, mit dem in diesem Moment eine Veränderung vor sich ging: Ein helles Leuchten zog durch das Gebäude und die eben noch vertrockneten Sträucher und Rosenbüsche blühten in üppiger Pracht auf. Die Mauern wirkten nicht länger verwittert und bröcklig, sondern stark und strahlend.

 

Vincent umarmte Flora, hob sie hoch und wirbelte sie herum. „Der Fluch ist gelöst, ich bin frei. Oh ich liebe dich, wie sehr ich dich doch liebe!“

 

Sie küßte ihn lange und innig und ihre Zunge spürte dabei, daß sich auch seine Zähne zurück gebildet hatten. „Ich liebe dich“, flüsterte sie zwischen zwei Küssen und glücklich nahm sie ihn bei der Hand, um ihr neues Heim zu erkunden.

 

 

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Maren Frank).
Der Beitrag wurde von Maren Frank auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Maren Frank als Lieblingsautorin markieren

Buch von Maren Frank:

cover

Das Geheimnis der Insel von Maren Frank



Der in vielen Wissenschaften gelehrte Zauberer Arktikus unternimmt mit seiner ebenfalls zauberkundigen jungen Assistentin Sina eine Reise aufs Meer. Doch schon bald geraten sie in ein schlimmes Unwetter und ihr Boot kentert. Eine Gruppe Delfine bringt sie zu einer Insel, doch der Anführer der Delfine warnt sie, dass auf dieser Insel nicht alles so paradiesisch ist, wie es auf den ersten Blick scheint.
Bei den Schwestern Ajana und Izzy finden Arktikus und Sina Unterschlupf. Sie lernen Drachen, Meermenschen und Hexen kennen, schwimmen mit Delfinen, helfen einem Riesen und entdecken, dass auf der Insel vieles ganz anders ist, als es auf den ersten Blick scheint. Es gilt das Rätsel der Insel zu lösen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (4)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Horror" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Maren Frank

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Pferdefee von Maren Frank (Kinder- und Jugendliteratur)
Bohrender Schmerz - Teil 1 von Klaus-D. Heid (Horror)
Ein Date, ein Tag im Dezember 2001 und ein DejaVu... von Kerstin Schmidt (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen