Debabrata Mukherjee

Die Fälschung

Der Dieb kam durch die Balkontür ins Zimmer und wurde unangenehm überrascht. Als er merkte, dass ich zufällig im Bett war, ging er wieder so leise aus dem Zimmer hinaus, wie er hineingekommen war. In der Eile wollte er fast ohne Beute entkommen. Das Portemonnaie, das auf dem Wohnzimmertisch lag, hat er aber mitgenommen. Was war eigentlich drin in meinem Portemonnaie? Ich versuchte, alles zu rekapitulieren. “Nein, so schlampig ich zur Zeit bin, habe ich fast keine Chance, mich daran zu erinnern.” Aber meine Gesundheitskarte von der Krankenkasse war doch in meinem Portemonnaie, weil ich sie vor ein paar Tagen gebraucht habe. Nein, Bargeld habe ich kaum dabei gehabt. Meine EC-Karte und eine Telefonkarte für 50 Mark waren da. Auch wenn man meine Geheimzahl gewusst hätte, hätte man kaum die Möglichkeit gehabt, von meinem Konto einen Pfennig abzuheben, weil mein Konto gleich am ersten jeden Monats bis zum Limit überzogen worden war. Bei diesem Verlust spielte das Geld überhaupt keine entscheidende Rolle. Aber die Telefonnummer von der Dame, die ich neulich in der Straßenbahn kennen gelernt hatte, habe ich dann auch nicht mehr. Dabei wusste ich nicht mal, wie die Dame überhaupt heißt. Nur deswegen war ich auf den Dieb ein bisschen sauer.
 
Also, ich stand auf und wollte gerne sehen, wie der Dieb eigentlich aussah. Ich ging zur Balkontür und beobachtete den Dieb, wie er die Straße überqueren wollte. Er hat nicht gemerkt, dass von der rechten Straßenseite ein Lastwagen direkt auf ihn raste. Die Bremsen quietschten. Ein Krach und ein Zusammenstoß. Ich sah den Dieb auf der Straße reglos liegen.
 
Ich rannte zum Telefon und rief die Feuerwehr an.

In ein paar Minuten sind sie alle da. Die Polizei, die Feuerwehr und der Notarzt. So schnell wie möglich hat man den Verletzten ins Krankenhaus abtransportiert. Und bald lief das Leben auf der Straße genau so wie früher, als ob gar nichts passiert wäre.
 
 
[Bei der Meldestelle]
 
Der Beamte hinter dem Schalter gab die Angaben im Computer ein und wartete einen Augenblick. Dann machte er große Augen, schaute mich sehr misstrauisch an. Er sagte zu mir: “Es tut mir sehr leid, ich darf Ihnen keine Bescheinigungen mehr ausstellen.”
 
“Wieso” fragte ich. “Die brauche ich aber sehr dringend.”
 
“Nein, das ist nicht mehr möglich, weil der Computer sagt, Sie sind genau heute vor drei Monaten als verstorben registriert.”
 
“Wer hat mich denn als tot angemeldet?”
 
“Da brauchen Sie sich den Kopf nicht zu zerbrechen. Das geht bei uns automatisch, wenn Sie gestorben sind.”
 
“Hören Sie mal...! Ich stehe vor Ihnen persönlich und ich brauche eine Bescheinigung.”
 
“Das Krankenhaus, wo sie am 1. April gegen 5 Uhr 20 am Herzversagen gestorben sind.”
 
“Aber, mein Herr! Ich bin persönlich gekommen, um die Bescheinigung abzuholen.”
 
“Jeder kann so reden. Seit vierzig Jahren sehe und höre ich das gleiche fast jeden Tag. Nichts hat sich geändert.”
 
“Wie? Was meinen Sie eigentlich damit?”
 
“Wenn ich Ihnen so was abkaufen muss, dann kann ich diesen Laden gleich dicht machen.”
 
“Aber...!! Ich...!!”
 
“Außerdem gibt es in unserem Land Meldepflicht. Seien Sie froh, dass Sie noch keine Anzeige gekriegt haben.”
 
“Was hätte ich denn melden sollen”
 
“Na, dass Sie schon futsch sind, ich meine, gestorben sind.”
 
“Aber ich bitte Sie! Ich bin... Äh, ich lebe noch!”
 
“Das ist Ihre Meinung. Wegen Fahrlässigkeit und Versäumnis hätte man Sie verurteilen können. Aber ich bin kein Unmensch. Ich drücke ein Auge zu.”
 
“Wissen Sie was, ich brauche jetzt gar nichts mehr. Nun möchte ich gehen und meine Ruhe haben.”
 
“Auf einmal? Und ich habe umsonst geredet! Auf Kosten unserer Steuerzahler? ...!”
 
 
[Im Krankenhaus]
 
“Da sind Sie aber leider falsch. Hier ist die Notaufnahme. Wenn Sie Informationen über die Patienten, die in diesem Krankenhaus stationär behandelt worden sind, haben wollen, müssen Sie sich an die Verwaltung wenden”, sagte sie.
 
“Und wie komme ich dorthin?”

“Das kann ich Ihnen auch nicht genau beschreiben. Dort drüben ist der Lageplan. Auf Wiedersehen!”
 
“Wiedersehen! Mei, es ist alles kompliziert hier.”
 
 
[Bei der Verwaltung]
 
“Wie hieß der Patient?”
 
“Rudolf Renner.”
 
“Und wer sind Sie?”
 
“Ich? Ich bin Rudolf Renner.”
 
“Moment mal! Sagten Sie Rudolf Renner? Warten Sie bitte draußen im Warteraum! Wenn es soweit ist, werden Sie aufgerufen.”
 
 
[Im Warteraum wartete ich sehr ungeduldig.]
 
“Wie lange dauert es denn noch?”
 
Da dröhnte eine Ansage durch den Lautsprecher:
 
{Herr Renner, bitte treten Sie ins Zimmer Nr. 030 ein!}
 
 
[Die Schwester hinter dem Schreibtisch mit PC.]
 
“Was wollen Sie denn eigentlich hier?
 
“Ich bin Herr Renner.”
 
“War der Patient Herr Renner ein Verwandter von Ihnen?”
 
“Nein, Ich bin es selber.”
 
“Das sehe ich ganz deutlich und klar, dass Sie es selber sind. Aber was wollen Sie denn eigentlich hier?”
 
“Ich brauche nur eine Auskunft. Ich habe gehört, dass der Patient Rudolf Renner gestorben sei, in Ihrem Krankenhaus.”
 
“Ja, das stimmt. Es tut uns außerordentlich leid. Er hat aber nicht viel leiden müssen. Gleich nach der Einlieferung war er dahin. Als er hier ankam, konnten die Ärzte nur noch den Tod feststellen.”
 
“Das gibt’s nicht. Ich sage es Ihnen sehr deutlich, dass ich Rudolf Renner bin. Und ich lebe noch. Schauen Sie mal, ich zwicke hier am Arm, und es tut mir weh. Also, es ist kein Traum, dass ich lebe.”
 
“Was sagen Sie da? Unsere Ärzte haben einen Fehler gemacht, den Tod festzustellen? Seit 35 Jahren arbeite ich hier in diesem Krankenhaus, wer von diesem Krankenhaus als Leiche entlassen wird, kommt nie wieder lebendig zurück. Versuchen Sie nicht, mir irgendwelches Märchen zu erzählen! Und glauben Sie ja nicht, dass Sie da eine Ausnahme sein könnten. Unsere Ärzte sind in dieser Hinsicht Weltspitze.”
 
“In welcher Hinsicht, bitte?”
 
“Na, den Tod festzustellen.”
 
“Daran zweifle ich kaum.”
 
“Also, was wollen Sie denn eigentlich?”

“Ich wollte nur wissen, wer tatsächlich dieser verdammte Rudolf Renner ist?”
 
“Es tut mir leid, darüber darf ich Ihnen keine Auskunft erteilen. Erstens sind wir hier kein Informationsbüro, und zweitens haben wir Datenschutz. Was die Krankheit der Patienten betrifft, haben wir absolute Schweigepflicht. Wenn Sie aber eine Sterbeurkunde haben wollen, dann müssen Sie sich an die Meldestelle wenden.”
 
“Ich lebe ja noch. Ich brauche doch keine Sterbeurkunde.”
 
“Glauben Sie? Wissen Sie, ich gebe Ihnen einen guten Rat. Gehen Sie lieber zum Psychiater. Die Symptome sind eindeutig klar. Wer behauptet, dass er noch lebt, obwohl er längst gestorben ist, ist psychisch krank. Sie sollen zu ihrer Krankenkasse gehen und sich beraten lassen.”
 
 
[Bei der Krankenkasse]
 
“So etwas gibt es nicht, dass unsere Krankenkasse nach dem Tod eines Kassenmitglieds auch noch Beiträge verlangt. Wie ist der Name bitte? Rudolf Renner? Unser tiefstes Beileid haben wir schon schriftlich ausgedrückt.”
 
“Ich heiße Rudolf Renn...”
 
“Kann passieren, dass zwei Leute den gleichen Namen haben. Wie bei Zwillingen! Sie sehen gleich aus, aber sie haben nur die unterschiedlichen Namen. Wenn Sie zufällig auch wie unser verstorbenes Mitglied heißen sollten, könnten wir nichts dafür.”
 
“Seien Sie bitte so nett und sagen Sie, wer Ihr Vorgesetzter ist!”

“Wieso? Was wollen Sie von ihm?”
 
“Ich möchte endlich mal meine Angelegenheit geklärt haben.”
 
“Was suchen Sie beim Chef, wenn ich für Sie was erledigen kann? Wenn Sie eine Mitgliedschaft beantragen wollen, brauche ich lediglich Ihren Ausweis.”
 
 
[Ich händigte ihr meinen Ausweis und wartete sehr erwartungsvoll. Die Dame schien sehr perplex zu sein.]
 
“Das gibt’s nicht!”
 
“Was denn?”
 
“Woher haben Sie den Ausweis unseres verstorbenen Mitglieds? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich übergebe lieber der Polizei diesen Fall!”
 
 
[Im Polizeirevier]
 
“Ich brauche von Ihnen nichts. Ich will nur meine Ruhe haben.”
 
“Auf einmal! Moment mal! Das geht aber wirklich nicht. Ohne Bezahlung? Ohne Verhandlung? Glauben Sie mir!”
 
“Ich kann nicht zahlen. Ich habe geringfügiges Einkommen. Ich bin Pleite.”
 
“Selber schuld! Wenn Sie sich schämen, Hilfe zu beantragen. Wozu haben wir Ämter und Beamte? Alle netten und hilfsbereiten Beamten?”

“Ich bezweifle nicht, dass sie nett sind. Aber, ich bin total fertig. Ich kann nicht mehr.”
 
“Wenn Sie nichts können, auch kein Problem! Dafür haben wir auch verschiedene Einrichtungen. Auf jeden Fall sind Sie in unserem Rechtsstaat nie allein in der Tinte sitzengelassen. Hier kriegen Sie alles, aber auch nicht umsonst, bitte schön. Ordnung muss sein!”
 
“Ja, schon. Aber ich will doch nur meine Ruhe haben.”
 
“Nein, das ist absolut unmöglich. Wo würde das alles hinführen, wenn jeder so sagen würde wie Sie?”
 
“Ich will doch gar nichts. Ich möchte auch nicht wagen, was zu sagen.”
 
“Diese verdammte Gleichgültigkeit der Leute! Was haben Sie gesagt? Sie brauchen Ruhe? Dann füllen Sie bitte diese Formulare aus! Jawohl! Die Formulare sind gratis. Die Bearbeitungskosten müssen Sie aber leider noch zahlen. Na dann, viel Glück, und auf Wiedersehen!”

In der modernen Gesellschaft ist nicht mehr zurechtzufinden, wenn man die Identität verliert.Debabrata Mukherjee, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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