Debabrata Mukherjee

Die Einladung

Etwa gegen zehn Uhr morgens rannte ich zum Briefkasten. Schon durch das Sichtfenster merkte ich, dass Post für mich da war. Ich fing an zu phantasieren. Vielleicht eine Abmahnung von den Gläubigern, vielleicht eine neue Anforderung zur Nachzahlung vom Finanzamt oder aber eine nette Grußkarte von dem Urlaub meiner Geliebten, die gerne immer ohne mich Urlaub macht, um den Liebesstreß vergessen zu können, oder vielleicht nur die Kontoauszüge, die seit längerer Zeit nur mit einem Minuszeichen versehen waren. Ich machte den Briefkasten auf. Zwei Briefe waren für mich drin. Eine Werbung der Klassenlotterie, die für mich uninteressant war und eine Einladung von einem FKK-Club in Bayern. In dem Brief stand eine knappe Zeile:
 
Sie sind bei uns herzlich eingeladen
vom 4.5. bis 21.5. Bon Voyage.
 
Ich war schon ein bißchen überrascht und gleich aufgeregt. Außer in den Büchern und im Fernsehen habe ich sehr lange keinen nackten Körper einer Frau in der Intimität miterlebt. Nun ist mal die Gelegenheit da, wenigstens was für die Augen zu tun. Ich ging zum Telefon und wählte die im Brief angegebene Nummer an. Ich bestätigte, dass ich gerne pünktlich da sein würde. Nur einen kleinen Haken bei der ganzen Geschichte gab es. Und das war ich selbst und die Sache mit dem Ausziehen. Wenn ich eine Figur wie Adonis hätte, wäre alles natürlich ganz anders. Außerdem würde ich, wie alle Männer, durch den Anblick anderer Männerkörper sicher Komplexe bekommen, meiner wäre viel zu klein. Und ich würde mich besonders über die Größe meines wertvollen Dinges ärgern, obwohl ich daran überhaupt nicht schuld bin und heute alles nicht mehr beeinflussen kann. Jeder Mann leidet irgendwann im Leben mal unter diesem Neid. Ich bin da auch keine Ausnahme. Deswegen bat ich den Veranstalter darum, für mich doch noch eine Ausnahme zu machen. Meine Bitte wurde bewilligt. Als Schriftsteller sollte meine Aufgabe sein, die Gefühle der Leute, die drei bis vier Wochen miteinander ohne Hülle zu tun haben, so genau wie möglich zu schildern. Der Veranstalter schickte mir einen Brief nach Indien.
 
»Ihre Bitte wäre erst dann berücksichtigt, wenn alle Mitbeteiligten damit einverstanden wären.«
 
Aber so eine Entscheidung war nicht leicht zu treffen. Daher hat es so lange gedauert, einen positiven Bescheid zu bekommen. Ich freute mich unheimlich darauf. Pünktlich zu der angegebenen Zeit war ich an Ort und Stelle. Der Wächter wollte mich nicht reinlassen, obwohl ich ihm den Einladungsbrief vorgezeigt hatte.
 
“Darum geht es doch überhaupt nicht. Aber so angezogen darf keiner ins Gelände.”
 
Ich machte ihn sehr höflich darauf aufmerksam, dass ich dafür eine Sondergenehmigung erteilt bekommen hätte. Ich bin andererseits sehr neugierig geworden. Ob der Wächter auch in der Tat auch was anhatte, wollte ich genau wissen. Unglaublich! Er hatte außer Krawatte gar nichts an. Nachdem er die Einladung penibel überprüft hatte, kam er aus seiner Bude heraus und gab mir die Hand.
 
“Sie sind also der Schriftsteller aus Kalkutta? Herzlich Willkommen bei uns! Wenn ich nebenbei eine kleine Bemerkung machen darf! Angezogen werden Sie sich bei uns sicher nicht sehr wohl fühlen. Sie werden psychisch darunter leiden und sich schämen, die anderen jeden Tag nackt sehen zu müssen.”
 
“Trotzdem!” antwortete ich, “bei uns ist es sittenwidrig, so nackt rumzulaufen. Ich danke Ihnen, dass Sie mir überhaupt erlaubt haben, so wie ich es bin, bei Ihnen bleiben zu dürfen.”
 
“Heute ist aber Ruhetag. Die meisten Gäste sind nach Hause gefahren.”
 
“Nackt?”
 
“Um Gottes willen, nein. Da draußen sind sie alle feinangezogen. Morgen sind sie wieder alle da. Und hier sind sie alle wieder ohne Hülle.”
 
Ich bekam ein kleines Zimmer mit Dusche. Um die Reisestrapaze auszuschlafen, legte ich mich sofort aufs Bett. Ich war sogar zu faul, meine Schuhe auszuziehen.
 
Gegen Morgen weckte mich jemand durch das heftige Türklopfen. Ich machte die Tür auf. Ein junger Herr stand draußen im Flur. Nackt. Er sagte zu mir: “ Sir, das Frühstück ist schon vorbereitet, ziehen Sie sich aus und kommen Sie bitte baldmöglichst! Alle warten nur auf Sie.”
 
“Moment Mal! So war es nicht vereinbart. Ich darf zwar umziehen, aber niemals vollkommen ausziehen.”
 
“Entschuldigung!”, sagte der junge Mann, “Ich bin gar nicht gewöhnt, Sir, anders zu sagen. Bitte kommen Sie!”
 
Ich begleitete ihn ohne weiteren Wortwechsel bis zum Eßsaal. Dort saßen etwa dreißig Leute. Alle erwachsenen Männer und Frauen verschiedenen Alters. Keine Kinder.
 
Als ich eintrat, klatschten alle zur Begrüßung heftigen Beifall. Eine hübsche blonde junge Dame begrüßte mich sehr höflich und wollte mich mit den Anwesenden bekannt machen. “Seht ihr, liebe Leute! Es ist mir ein Vergnügen, euch den Herrn neben mir vorzustellen. Ihr habt inzwischen sicher schon gemerkt, dass der Herr unter uns die einzige Person ist, die noch angekleidet ist. Wir haben ihm eine Sondergenehmigung erteilt, weil wir die Landessitte des Herrn in Betracht ziehen mußten. Also, das Ausziehen bleibt für ihn eine freiwillige Sache. Überwindet er die Schamgrenze oder die Hemmung, darf er sogar jeder Zeit ausziehen.”
 
Eine rauchige Frauenstimme war zu hören: “Dann paßt er zu uns überhaupt nicht. Was für ein Typ ist er? Wo kommt der her? Was hat er eigentlich bei uns zu suchen?”
 
“Aus Kalkutta.”
 
“Kalkutta kenne ich nur aus einem Lied. Kalkutta liegt am Ganges...”, sagte jemand aus der Menge.
 
“Heute wird gleich nach dem Frühstück über das Thema >ob die Nacktheit nützlich oder schädlich ist, und über das Für und Wider. < ausführlich diskutiert. Wir werden versuchen, dem Herrn aus Kalkutta klar zu machen, dass die Nacktheit hier in unserem FKK-Gelände weder mit Moral noch mit der Unsitte zu tun hat.”
 
Ich saß wie versteinert im Kleid und wollte sehr aufmerksam verschiedene Meinungen über dieses Thema sammeln. Ich formulierte innerlich die Argumente, die ich präsentieren würde.
 
Nach dem Frühstück war es soweit. Die nette, freundliche Dame eröffnete die Diskussion. Das Thema wurde erweitert um zwei weitere Fragen. Warum braucht man überhaupt FKK? Und was für Leute kommen eigentlich dorthin? Ich sollte aufgeklärt werden über die Nützlichkeit und die wahre Bedeutung der Nacktheit in der freien Natur. Ich komme aus einem Land, wo über die Nacktheit nicht geredet wird, obwohl wir in der Mythologie über Götterbilder verfügen, die total nackt sind. Wenn die Götter nackt sind, müssen wir sie beten. Aber wenn die Menschen nackt sind, dann werden die Kritiker laut. Über Sex wird nie öffentlich diskutiert. Es ist immer noch ein Tabuthema. Man trifft auf Straßen in meinem Land oft nackte Leute, die sich gar nicht leisten können, Kleider zu kaufen. Deswegen sind diese Leute nackt. Sie wollen nicht gerne nackt rumlaufen, aber sie müssen. Aber hier in Europa? Wo man sich Kleider leisten kann, will man nicht anziehen. Schau mal die Modebranche an! Früher war die Mode so, dass man große Mühe hatte, in der Stoffmasse die Person ausfindig zu machen. Außer dem Gesicht blieb damals alles verdeckt. Aber heute? Heute hat man nur Fetzen am Körper, dazu noch mikroskopisch klein. Wenn hier das Klima nicht so kalt wäre, hätte man anscheinend gar keine Kleider mehr gebraucht. Kaum scheint hier die Sonne, läßt man die Hülle fallen. Eins verstehe ich nicht. Bei uns scheint die Sonne jeden Tag und wir bedecken uns, suchen dringend den Schatten. Hier braucht man aber Geld, um die Sonne nackt tanken zu dürfen. Das ist hier kein billiger Spaß. Sofort haben die Geschäftsleute, eine neue Marktlücke entdeckt. Nach dem Bad in der Sonne sehen die Leute sehr komisch aus, besonders die Frauen. An ihren Körpern stimmt die Farbharmonie nicht mehr. Die zwei bedeckten Körperteile bleiben blaß wie vorher und die offene Körperfläche nimmt die Farbe einer gegrillten Aubergine an. Die meisten Leute hier wissen nicht, dass der lange Aufenthalt in der direkten Sonne Hautkrebs verursachen kann. Und dadurch entsteht wiederum eine neue Marktlücke. Die Industrie investiert viel Geld für die Cremeforschung oder für das Sonnenschutzmittel, das kaum eine schonende Wirkung hat.
 
Ein Herr, der oft in meinem Land war, sagte: “Als wir geboren wurden, hatten wir nichts an und wenn wir dahin müssen, werden wir gar nichts anhaben müssen. Meiner Meinung nach ist diese Nacktheit nicht nur eine Schau, sondern sie ist ein Omen, wieder zur Natur zurückzukehren. Ich kann überhaupt nicht begreifen, warum wir uns bedecken wollen. War der Mensch, der die Körperbedeckung entdeckt hatte, ein deformierter Mensch? Er wollte wahrscheinlich die Fehl- oder Mißbildung seines Körpers nicht gerne preisgeben. Schau mal die Tierwelt an! Kein Tier hat je was an. Trotzdem sind die Tiere der Natur gut angepaßt. Die Krankheiten, die wir durch die Körperbedeckung erzeugen, gibt es normalerweise bei den Naturvölkern nicht.”
 
“Was wollen Sie denn eigentlich? Wollen Sie, dass die Menschheit auf die Kleidung verzichtet und wieder in die Adam-und-Eva-Zeit zurückgeht?”
 
Es wurde viel hin-und-her diskutiert und führte zu keinem Endergebnis. Auf jeden Fall durfte ich mich im Gelände angezogen aufhalten. In mein Heft notierte ich besondere Ereignisse. Heimlich zeichnete ich auffallende Konturen der nackten Männer- und Frauenkörper. “Mein Gott”, dachte ich, “nun ist wohl klar, warum wir unsere Körper bedecken müssen. Nicht wegen der Schamzonen, sondern weil es am ganzen Körper keine Harmonie gibt. Viele haben blubbernden Hinterteil oder überproportionalen Hängebauch, von Busen der Frauen will ich hier gar nicht reden. Nur die Statuen aus Marmor hätten ideale Traumbusen. Und wenn die Männer urologische Probleme haben, sind sie auch in der Bekleidung superhäßlich. Dann ist endlich die Zeit gekommen, wo ich von den Leuten Abschied nehmen mußte. Sie haben zu meiner Ehre eine Party gegeben.
 
Gegen Abend ging ich ins Badezimmer. Ich seifte mich mehrmals ein, wusch mich gründlich ab. Ich guckte mich im Spiegel sehr kritisch an. Wie kann man so eine plumpe Figur präsentieren? Es ist ja eine Zumutung. Gleichzeitig ist es eine Schande, so einen Körper je besitzen zu müssen. Aber irgendwann muß man auf die Mitmenschen, die so freundlich und nett waren, auch Rücksicht nehmen. Wenn ich nur nicht diese Hautfarbe hätte! Ich werde heute trotzdem den Leuten einen großen Gefallen tun und beweisen, dass ich nicht mehr so schüchtern bin wie am Anfang. Drei Wochen lang haben mich diese netten Leute still geduldet. Vielleicht gibt es unter den Leuten sicher jemand, der mich gerne hätte nackt sehen wollen. Dem neuerfundenen Wunderpotentzmittel Viagra schenke ich kaum Interesse, da mir eine Frau im Leben noch fehlt. Und ich brauche zum Glück meine Männlichkeit nicht unter Beweis zu stellen. Wenn ich aber dieses Mittel genommen hätte und ich meine Gefühle nicht unter Kontrolle gehabt hätte, wäre mir die heutige Lage sehr peinlich gewesen. Heute aber werde ich über meinen Schatten springen, egal, was es auch kommen mag.
 
Da klopfte jemand an der Tür. “Hallo, hallo, kommen Sie bitte raus! Alle warten auf Sie.” Ich versuchte den Türklopfer zu beruhigen: “Gleich, einen Moment noch.” Ich warf zum letzten Mal einen Blick auf mich, parfümierte alle Ecken und Kanten. Ich atmete tief ein, zähmte den inneren Schweinehund und machte die Badezimmertür auf.
 
Draußen warteten alle auf mich.
 
Ausgerechnet heute in Partyanzügen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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