Silvia Pree

Es kann jeden treffen...

Irene stand minutenlang vor der Praxis Ihres Hausarztes.
Sie keuchte fast.
Ihr Herz raste.
Und ihre Hände waren feucht.
Schließlich grüßte sie jemand.
Die Stimme traf sie völlig unerwartet.
Sie drehte sich erschrocken um.
Ja, Frau Pamminger.
Wie geht’s Ihnen?
Auch beim Arzt?
Irene schluckte.
Zwang sich zu einem verkrampften Lächeln.
Ich hol nur einen Befund.
Ihre Augen straften die freundliche Stimme Lügen.
Beide traten ein.
Sie waren zuerst da.
Die freundliche Frau ließ Irene den Vortritt.
Irene grüßte die Ordinationshilfe.
Ich möchte den Befund abholen…
Die Arzthilfe nickte.
Holte die Karteikarte aus dem Kasten.
Warf einen Blick hinein.
Ooh…
Frau Pamminger.
Ich glaube der Herr Doktor muss zuerst mit Ihnen sprechen.
Dringend…
Irene spürte wie sich ihr Innerstes verkrampfte.

Am Nachmittag holte sie die Kinder von der Schule.
Sie lärmten am Rücksitz.
Irene bekam das fast nicht mit.
Sie hörte nur immer wieder die Stimme ihres Arztes.
…da ist ein Tumor in Ihrer rechten Brust.
Sie müssen sofort ins Spital.
Ich schreibe Ihnen eine Überweisung.
Irene hatte ihn hilflos angeblickt.
Fast tonlos ihre Frage.
Was kann man tun?
Der Arzt war ihrem Blick ausgewichen.
Schwer zu sagen.
Man wir im Spital die nötigen Schritte einleiten.
Irene dachte an den Knoten in der rechten Brust.
Vor einem Jahr war er ihr schon aufgefallen.
Eine Zyste.
Sie hatte es sich immer wieder gesagt.
Obwohl ihre Tante an Brustkrebs gestorben war.
Und obwohl sie immer wieder Schmerzen in der Brust gehabt hatte.
Starke Schmerzen.
Und jetzt waren auch ihre Lymphknoten in der Achselhöhle angeschwollen.
Hatte sie zu lange gewartet?

Die Kinder schrieben ihre Aufgaben.
Ihnen fiel nichts auf.
Irene war wie versteinert.
Sie nahm nichts wahr.
Nichts außerhalb ihrer Gedanken.
Sie stand auf.
Schloss die Tür zum Wohnzimmer.
Rief ihre Schwägerin an.
Verzeih, dass ich dich so überfalle…
Kannst du die Kinder nehmen?
Ein paar Tage.
Helga maulte auf.
Das ist die Woche aber sehr schlecht.
Hättest du nicht früher reden können?
Was ist überhaupt los?
Fährst du weg?
Irene nahm ihren Mut zusammen.
Das Ungeheuerliche auszusprechen.
Ich muss ins Spital.
Ich habe Krebs.
Den erschreckten Aufschrei ihrer Schwägerin hörte sie nicht mehr.
Nur ihr eigenes hemmungsloses Schluchzen.
Und den Satz in ihrem Kopf.
Der laut hämmerte.
Ich muss sterben!

Helga war wortkarg.
Sie holte die Kinder noch am Abend.
Hast du Wenzel schon Bescheid gesagt?
Irene blickte wütend auf.
Es interessiert ihn nicht.
Und ich werde nie zulassen…
…dass die Kinder zu ihm und seiner Schlampe kommen!
Hast du verstanden?
Helgas entsetzter Blick glitt an ihr ab.
Aber er ist noch immer dein Mann!
Er sollte es wenigstens wissen…
Er sollte es wenigstens wissen.
Der Satz ging Irene nicht aus dem Kopf.
Jetzt war der Weg frei für ihn und seine Freundin!
Keine Scheidung.
Kein Unterhalt.
Und die Kinder würden sie vergessen.
Sie war austauschbar.
Für die Kinder wie ihren Mann.
Mit zitternden Händen hielt sie einen ihrer Büstenhalter hoch.
Spitze.
Edler Satin.
Bald würde sie ihn nicht mehr brauchen.
Tränen stiegen in ihren Augen auf
Womit hatte sie das verdient?
Wenzel hatte sie verlassen.
Und jetzt das!
War das fair?

Irene lag im Krankenzimmer.
Auf der Onkologie.
Keine Operation im Moment .
Der Tumor war viel zu groß.
Die Lymphknoten waren schon befallen.
Wie sie geahnt hatte.
Ihr Vater war Arzt gewesen.
Nächste Schritte.
Bestrahlung.
Um den Tumor zu schrumpfen.
Und danach vielleicht eine Operation.
Sie würde ihre Haare verlieren.
Aufgedunsenes Gesicht.
Fahl-Gelbe Haut.
Sie dachte an Tante Mali.
Fruchtbar hatte sie ausgesehen.
Mit den Augen ganz tief in den Höhlen.
Ja, sie hätte selber gern Medizin studiert.
Sie hatte ein Gefühl dafür.
Aber ihre Eltern…
Nein.
Lieber auf die Knödelakademie.
Wozu studieren, wenn sie eh mal heiratet?
Der Lieblingssatz ihrer Mutter.
Verpfuschtes Leben.
Tränen…

Irene war eingenickt.
Wirre Träume.
Dunkle Schemen.
Angst.
Schließlich schreckte sie hoch.
Und erschrak.
Da saß jemand.
Sie richtet sich auf.
Wenzel!
Sie hatte ihn fast ein halbes Jahr nicht gesehen.
Oder gesprochen.
Blumen auf dem Bett.
Tränenspuren in seinem Gesicht.
Er sagte kein Wort.
Nahm ihre Hand.
Und begann zu weinen.
Wie ein kleines Kind.
Wie damals als sie das Kind verloren hatte.
Vor acht oder neun Jahren.
Sie war fast gestorben.
Irene erinnerte sich genau.
Sie war ihm also nicht egal.
Wer immer es ihm gesagt hatte!
Freundin hin oder her.
Er war da.
Hier und jetzt.
Und nur das zählte…

Vivienne

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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