Farhad Salmanian

Das verlorene Kind an der Meeresküste

Eine Erzählung von: Gholam Hossein Saedi 1

Übertragen aus dem Persischen von: Farhad Salmanian

1)

Am Nachmittag fuhren Saleh Kamsari und der Dorfältestensohn mit einem Kutter aufs Meer hinaus, drehten sie Runden an der die Küste entlang und sammelten Holz. Letzte Nacht war das Meer stürmisch gewesen und deswegen trieb an diesem Nachmittag viel Holz auf dem Wasser.
Saleh, der mit einem alten Ruder die Holzstücke zum Schiff heranzog, sagte dem Dorfäl-testensohn:"Ich hatte nie viel am Hut mit dem Meer und weiss nicht, wie es ist! Sogar wenn sich alle versammeln und überlegen würden, konnten sie nicht verstehen, wo all das Holz her-kommen konnte. Im Meer gibt es was Geheimnisvolles. Es gibt sein Äußeres und Inneres nicht preis. Manchmal sind viele Leute da, manchmal wenig. (Manchmal ist es voll und manchmal leer.) Bald hat es alles, bald nichts. Mir scheint, als ob das Meer mit uns Menschen spaßt. In diesem Augenblick schwimt all das Holz an der Oberfläche, doch schon im nächsten sind wir nicht mehr in der Lage, ein einziges Stück zu finden."
"Aus diesem Grund nennt man es Meer." sagte der Dorfältestensohn.
"Wenn man genau überlegt, versteht man, dass das Meer alles verursacht, was auf dem Fest-land geschieht. Das Meer fürchtet sich vor nichts. Es hat keine Angst. Aber alle fürchten sich vor ihm!", fuhr Saleh unbeirrt fort, seine Gedanken laut zu offenbaren.
"Was hast du mit diesen Dingen zu schaffen? Sammle lieber Holz, soviel wie du kannst!" sagte der Dorfältestensohn, dessen Geduld nun zu Ende war.
Saleh war verstimmt und warf das Ruder auf die Holzstücke, damit er sich eine Zigarette an-zünden konnte. Auf einmal erblickte er die Küste und rief: "Hey, schau mal! Dort am Ufer!" Der Dorfältestensohn drehte sich um und sah an der Küste einen Jungen, der sich mit langen Schritten von der Siedlung entfernte.
"Siehst du ihn?" fragte Saleh
"Wessen Kind ist das?" entgegnete der Dorfältestensohn.
"Weiß nicht. Er läuft genauso wie die Erwachsenen", bemerkte Saleh.
"Er ist weit von der Siedlung entfernt. Vielleicht kommt er aus einem anderen Ort!" sagte der Dor-fältestensohn.
"Gott allein weiß, wo er herkommt!" sagte Saleh.
"Vielleicht gehört er zu den Zigeunern oder Städtern?"
"In dieser Jahreszeit sind sie doch nicht hier!" entgegnete Saleh bestimmt.
"Was machen wir jetzt mit ihm?" fragte der Dorfältestensohn.
"Lass ihn uns fangen!" forderte Saleh den anderen auf.
"Aber das Schiff können wir nicht an Land ziehen!"
"Spring ins Wasser, schwimm ans Land und fasse ihn!" sagte Saleh. Dann nahm er das Ruder und schob das um das Schiff versammelte Holz zur Seite.
Der Junge gehorchte, zog sich das Hemd aus und sprang ins Wasser. Während Saleh die Holzstü-cke rings um das Schiff zur Seite schob, schwamm der Dorfältestensohn mit kräftigen Zügen an Land. Saleh heftete den Blick auf das Kind, das eilig auf das Meer und somit auf ihn zuschritt. Der Dorfältestensohn unterdessen, erreichte das Ufer, stieg aus dem Wasser und war nur noch ei-nige Schritte von dem Kind entfernt. Es trug ein dünnes zweifarbiges Hemd, hatte ungekämmte Haare und seine helle Haut glänzte im Sonnenschein. Es hielt ein Stück Knochen unter dem rech-ten Arm und ging mit langen Schritten weiter, ohne auf den Lärm hinter sich zu achten.
Der Dorfältestensohn pfiff. Ohne sich umzudrehen, lief das Kind schneller. Sein Verfolger beschleunigte ebenfalls den Schritt, drehte einen Halbkreis und erschien vor dem Kind, das abrupt stehen blieb. So standen sie eine Weile voreinander und schaten sich an.
Der Dorfältestensohn blickte in ein rundes Gesicht mit großen Augen.
"Wohin gehst du, mein lieber?" fragte er schließlich.
Das Kind antwortete nicht.
"Zu wem gehörst du?"
Das Kind wich einige Schritte zurück und Angst stand ihm im Gesicht geschrieben.
"Hast du Angst?"
Das Kind stand starr vor ihm und runzelte die Stirn. Der Dorfältestensohn lächelte, damit das Kind seine Angst überwindet. Das Kind betrachtete ihn genau und hielt den Knochen unter dem linken Arm. Der Junge ging langsam vorwärts. Das Kind bewegte sich nicht. Er bückte sich, kniete auf dem sandigen Boden, streckte die Arme aus und umarmte das Kind. Schließ-lich stand er auf. Sie schauten einander an. Noch einmal fragte der Junge, woher es käme und wohin es ginge. Wieder antwortete es nicht, und zog die Lippn zusammen.
"Wessen Kind bist du? Wer ist dein Vater?"
Das Kind lachte nur. Der Dorfältestensohn lachte ebenfalls.
"Was hast du da unter deinem Arm?" fragte er weiter.
Das Kind drehte sich um und starrte auf das dumpf rauschende Meer.
"Kannst du nicht reden?"
Wie zur Antwort runzelte das Kind wieder die Stirn und zog Lippe und Mund zusammen. Das Lächeln und die Worte des Dorfältesten sollten es beruhigen: "Nur die Ruhe, ich tue dir nichts!"
"Hey! Hey!" schollen Salehs Rufe zu ihnen hinüber:
Der Dorfältestensohn drehte sich um und schrie ungehalten:"Was ist denn los?"
Saleh fuchtelte mit den Armen zum Zeichen, dass sie endlich kommen sollten. Der Junge lud sich das Kind huckepack, trug ihn zum Ufer und stieg ins Wasser. Schnell verlor er den Boden unter den Füßen und nun begann er zu schwimmen. Hals und Kopf fest umklammert, bewegte das Kind die Füße im Wasser.
Als sie ans Schiff gelangten, bückte sich Saleh zu ihnen hinunter und zog das Kind hoch. Auch der Dorfältestensohn erklomm die Reling. Beide starrten das Kind einige Augenblicke an.
"Warum ist es so?" fragte Saleh.
" Was meinst du?" entgegnete der Junge irritiert.
"Schau mal seine Augen!" forderte ihn Saleh auf.
Der Junge bückte sich:"Wie ungewöhnlich! Es hat verschieden farbene Augen."
"Woher kommt es?"fragte Saleh.
"Es spricht kein Wort!", erwiderte der andere.
Saleh nahm das Kind, setzte es auf das Holz und sagte:"Was tun wir mit ihm?"
"Kennst du alle Kinder der Siedlung?" fragte der Junge.
"Nein. Meinst du, wir sollen es zur Siedlung bringen?" sagte Saleh.
"Was kann man sonst machen? Sollen wir es etwa ins Meer werfen?" empörte sich der Junge.
Sie wendeten das Schiff und machten sich auf den Weg zur Siedlung. Das Meer wurde stür-misch und das Holz drifftete auseinander. Saleh wendete sich an den Dorfältestensohn: "Pass auf das Kind auf, damit es nicht ins Wasser fällt!"
Der Junge drehte sich zum auf dem Holz eingeschlafenen Kind um und bettete es auf die Plan-ken des Schiffes.

2)

Als sie die Küste erreichten, waren die anderen Boote und Schiffe schon zurückgekehrt. Män-ner und Frauen luden Hölzer von den Schiffen ab. Sakaria und Mohammad-Ahmed-Ali waren beide damit beschäftigt, die Hölzer zu wiegen, während der Dorfälteste auf einem umgedrehten Boot saß und den Rosenkranz durch die Finger gleiten ließ. Als das Schiff von Saleh und dem Dorfältestensohn anlegte, sprang Saleh ins Wassr, stieg an Land und nahm das Kind unter die Arme. Der Dorfältestensohn eilte ihm nach und nahm die Leine, warf sie auf den Strand, und sie wateten gemeinsam ans Ufer. Abdoldschawad bemerkte sie zuerst und rief:"Nach getaner Arbeit ist gut ruhen, Saleh!" Dann fiel sein Blick auf das Kind:"Hey, Saleh! Wen hast du da aufgefischt?"
"Ein Kind!"antwortete Saleh ruhig.
Mit weit aufgerissenen Augen schrie Abdoldschawad:"Hey! Dorfältester! Hey Mohammad- e- Hadschi-Mosstafa! Hey Sahed! Ihr Leute! Saleh hat ein Kind vom Meer mitgebracht."
Die Leute eilten von überall herbei, versammelten sich um sie und musterten das Kind, das ruhig auf Salehs Armen saß, während Abdoldschawad hin und her sprang und sich freute.
"Hey! Sieh das Kind! Sieh das Kind!" rief er.
Ahmad-Ali, der von der etwas abseits stand, fragte: “Ist es wirklich aus dem Meer?”
“ Wo haben sie es aufgefischt?" fragte der Dorfälteste.
"Sieh seine Kleidung, es kann nicht aus dem Meer!" bemerkte Mohammad.
Sakaria, der erst jetzt ankam, drängte die anderen zur Seite und kam näher. Er streichelte das Gesicht des Kindes. " Was für eine helle Haut es hat! Wie unterschiedlich seine Augenfarbe leuchtet!"
"Los sagt die Wahrheit! Wo habt ihr es gefunden?" fragte Mohammad so, als könne er die Antwort erzwingen.
“Wo habt ihr es gefunden?" fragte der Dorfälteste nun auch gebieterisch.
"Es lief gerade vom Ufer auf das Wasser zu. Da haben wir es zu fassen bekommen", erklärte Saleh.
"Er lügt. Saleh Kamsaari lügt!" rief Sakaria.
"Warum sollten wir lügen? Sind wir denn nicht vom Meer zurückgekommen?" fragte Saleh.
"Bringt es wieder zum Meer zurück! Ein im Meer gefundenes Kind bringt Unheil!" schrie Ah-mad-Ali.
"Sagt nun die Wahrheit! Meine Sorge ist groß, dass sich Ahmad-Ali ärgert und wieder vom Unheil spricht! " sagte Sakaria.
"Wir haben es an der anderen Seite des Strandes gefunden", meldete sich der Dorfältestensohn zu Wort. Alle atmeten auf und nun kamen alle näher.
"Wessen Kind ist es denn?" wollte der Dorfälteste wissen.
"Es ist auf keinen Fall von unserer Siedlung." stellte Saleh fest.
"Gehört es zufällig nicht zu den Zigeunern?" fragte Sakaria.
"Sie sind aber noch nicht da!" sagte der Dorfältestensohn.
"Von wo ist es denn? Woher kommt es?" fragte Sakaria.
"Das weiß nur Gott!" entgegnete der Junge.
"Was machte es gerade, als ihr es gesehen habt?" fragte Mohammad-e- Hadschi-Mosstafa.
"Es spazierte völlig unbekümmert vor sich hin." antwortete Saleh.
“Das heißt, es kann laufen?!" stellte Abdoldschawad fest.
Saleh setzte das Kind auf den Boden und die Leute machten ihm Platz. Das Kind klemmte das Knochenstück unter den Arm und lief der Siedlung entgegen.
Die Menge setzte sich hinter ihm in Bewegung. "Sein Gang ist aber sonderbar!" bemerkte Mo-hammad-e-Hadschi-Mosstafa.
"Ja okey! Aber es kann doch nicht sprechen." bekräftigtete Saleh.
"Unmöglich, ein Kind, das gehen kann, kann auch sprechen!" empörte sich Sakaria.
"Aber dieses Kind kann nicht sprechen!? " rief Saleh.
"Wo will es denn so schnell hin? Lauft und fasst es!" sagte der Dorfälteste.
Der Dorfältestensohn rannte hinter dem Kind her, bekam es zu fassen und nahm es in die Ar-me. Dann kehrte er zu den anderen zurück. Sie umringten die beiden weiträumig. Der Junge setzte sich auf einen Holzstoß und stellte das Kind zwischen seine Beine. Eine der Frauen reichte Saleh ein Stück Brot, weil sie wissen wollte, ob es essen könne. Das Kind nahm das Brot und fing an, zu essen. Alle atmeten auf und kamen näher.
"Und was sollen wir nun mit ihm tun?" sagte der Dorfälteste.
"Man muss auf dieses Kind aufpassen und es behüten." warf Sakaria ein.
"Wer soll es denn behüten?" fragte der Dorfälteste.
"Jemand, der kein Kind hat. Jemand, der keine Kinder bekommen kann." meinte Sakaria.
"In unserer Siedlung hat jeder Kinder!" stellte Mohammad -e- Hadschi Mosstafa klar.
"Da barucht man sich keine Sorgen zu machen! Jede Nacht behütet es einer von uns. Vielleicht findet man seine Eltern bald," schlug Abdoldschawad vor.
"Das ist eine gute Idee! Wer nimmt es heute Abend mit nach Hause?" fragte der Dorfälteste.
"Am ersten Abend soll es bei dir zu Gast sein!" entgegnete Sakaria.
Der Dorfälteste überlegte und sagte:"Gut! Ich nehme es in mein Haus."
Die Sonne war schon untergegangen. Es wurde eben dunkel, als die Leute sich erhoben. Saleh Kamsaari übergab dem Dorfältestensohn das Kind und alle begaben sich auf den Weg zur Siedlung. Nach ein paar Schritten, holte Ahmad-Ali Saleh ein und sagte ihm:"Hey! Saleh! Wo habt ihr wirklich dieses Kind gefunden?"
"Ehrlich gesagt, das weiß ich selbst nicht!" flüsterte Saleh Kamsaari.

3)

Am Abend brachte man das Kind ins Haus des Dorfältesten. Seine Frau knetete im Trog Teig für einen Laib Brot. Der Dorfälteste, sein Sohn und Ahmad-Ali versammelten sich um den kürzlich angekommenen Gast, der sich an die Wand gesetzt und die Füße in Richtung der Lampe ausgestreckt hatte. Das Meer grollte laut zum Haus hinüber und der Wind schlug gegen Türe und Wände. Der Dorfälteste hatte die hölzernen Läden geschlossen, damit das Licht nicht ausgelöscht würde.
Sie aßen gemeinsam zu Abend. Dann sagte der Dorfälteste:"Was sollen wir nun mit ihm tun?"
"Wir müssen es schlafen legen." sagte seine Frau.
"So wie es da sitzt, scheint es nicht so, als ob es schlafen wolle?“ sagte er.
"Wenn es nur ein Wort sagen würde, könnte wir etwas von ihm erfahren. Weder spricht es, noch weint es!" bemerkte sein Sohn nachdenklich.
"Das macht doch nichts! Je schweigsamer umso besser!" sagte seine Frau.
"Was soll daran besser sein?" fragte der Sohn.
"Besser als wenn es zu plärren und zu weinen beginnt und wir es nicht trösten können!" ant-wortete die Frau.
"Du hast Recht! So ist es auch nicht gut. Es setzt wie große Leute da und starrt uns immer wie-der an, so dass man es mit der Angst zu tun bekommt." sagte der Sohn.
Das Pfeifen des Windes wurde stärker, als es an der Tür klopfte.
"Jemand ist an der Tür!" sagte die Frau.
Der Sohn stand auf und öffnete die Tür. Mohammads Frau und seine Schwiegertochter befan-den sich an der Tür. Im Namen Gottes lud die Frau des Dorfältesten sie ein und hieß sie herz-lich willkomen.
"Wir sind gekommen, um Ihren Besuch zu sehen." sagte Mohammads Frau. Sie traten ein, hockten sich eine Weile hin, während sie das Kind anstarrten, und setzten sich schließlich an das Petroleumlicht. Der Dorfälteste erhob sich und betrat das Hinterzimmer, um zu schlafen. "Kennt Ihr das Kind?" fragte die Frau des Dorfältesten die Neuankömmlinge.
"Nee, wir kennen es nicht! " gaben sie zur Antwort.
"Warum sind seine Augen so?" fragte die Schwiegertochter.
"Es ist wie ein Erwachsener" bemerkte Ahmad-Ali aus einer Ecke des Zimmers heraus.
"Was haben Sie nun mit ihm vor?" fragte Mohammads Frau.
"Nichts! Heute Nacht bleibt es bei uns. Morgen schicken wir es zu euch" antwortete die Frau des Dorfältesten.
Das Rauschen des Windes verstärkte sich, als es erneut an der Türe klopfte.
"Jemand ist an der Tür!" sagte die Frau des Dorfältesten.
Wieder erhob sich ihr Sohn und öffnete die Tür. Es waren Salehs Frau und Tochter, die vor der Tür standen.
"Hat euch Saleh gesagt, wo sie es gefunden haben?" fragte die Frau des Dorfältestensohnes.
"Ja. Er hat es uns erzählt und wir sind hierher gekommen, um das Kind zu sehen." erwiderte Salehs Frau.
"Schau mal seine Augen!" sagte die Schwiegertochter. Alle Augen richteten sich auf sein Ge-sicht.
"Seht ihr das Werk Gottes?"sagte die Frau des Dorfältesten.
"Was habt ihr denn mit ihm vor?" fragte Salehs Frau.
"Heute Nacht bleibt es bei uns. Morgen bei Mohammad- e- Hadsch-Mosstafa und übermorgen bei euch" erwiderte sie.
Der Wind verstärkte sich erneut, als abermals jemand an der Tür klopfte.
"Es ist noch jemand an der Tür" sagte die Frau des Dorfältesten.
Ihr Sohn öffnete von Neuem die Tür. Abdoldschawads Mutter hatte geklopft. Und wieder lud die Frau des Dorfältesten den Besucher mit einem Gruss ein. Die Alte erwiderte den Gruß und sagte: "Ich bin gekommen, um zu sehen, ob Sie wirklich ein Kind vom Meer mitgebracht haben."
"Ja, das haben wir!"sagte der Dorfältestensohn.
Sie kam näher, bückte sich, musterte ausgiebig das Kind an und setzte sich dann neben Ssa-lehs Tochter. Mohammads Frau forderte die Alte auf: "Schauen Sie nur wie es ist?"
"Wie eine Puppe! Es bewegt sich nicht" sagte sie.
"Benimmt sich wie ein Erwachsener" bekräftigte Salehs Schwiegertochter. Ahmad-Alis Stimme erklang aus dem Dunkeln heraus: "Schau mal seine Augen!"
"Was haben Sie jetzt mit ihm vor?" fragte Abdoldschawads Mutter.
"Heute Nacht bleibt es hier bei uns, morgen Nacht bei Mohammad-e- Hadschi-Mosstafa, übermorgen Nacht bei Saleh und in der nächsten Nacht ist es bei euch zu Gast." antwortete die Frau des Dorfältesten.
Der Wind fauchte mittlerweile um das Haus, als es zum vierten Mal an der Tür klopfte. Die Frau des Dorfältesten rief aus: "Wie schön! Noch ein Gast, das hatten wir lange nicht mehr!"
Ihr Sohn wendete diesmal viel Kraft auf, um die Türe zu öffnen. Der Wind riss sie aus sei-nen Händen und keine Menschenseele stand vor der Tür, nur ein heftiger Wind fegte ins Zimmer und löschte das Licht.

4)

Die Sonne war aufgegangen und die Männer der Siedlung waren noch nicht vom Meer zu-rückgekehrt, als die Frau des Dorfältesten das Kind zu Mohammads Haus brachte. Dessen Frau bereitete gerade das Futter für die Kühe vor, als sie den Gruß der Älteren hörte.
"Frau von Hadschi! Ich habe dir einen Gast mitgebracht" Mit diesen Worten schob sie das Kind vor sich her.
"Danke schön! Das hast du gut gemacht!" meinte die andere, nahm das Kind an der Hand und zog es ins Haus.
"Du weisst ja nicht, was für ein Unglück es gestern Abend noch über uns gebracht hat. We-der schlief es, noch ließ es uns ein Auge voll Schlaf nehmen. Bis zum Morgen ist es hin und her gegangen und war dauernd im Begriff irgendwie aus dem Haus zu flüchten." fügte sie dann hinzu.
"Am frühen Morgen, als die Männer zum Meer gehen wollten, banden sie ihm Hände und Füße und stellten es in eine Truhe und ich habe es freigelassen und mitgebracht" sagte die andere.
"Vielleicht hatte es Hunger gehabt?"
"Nee. Es hatte keinen Hunger und wollte nur rausgehen! Wenn ein wenig mehr Wind weh-te, verlor es die Ruhe und wollte nach draußen stürmen."
Mohammads Frau starrte das Kind und seine Begleiterin eine Weile an und sagte:"Gebe Gott, dass es heute Nacht nicht so wie gestern wird!"
"Das gebe Gott!" sagte die Frau des Dorfältsten, verabschiedete sich von der Jüngeren und ging hinaus.
Die Frau nahm das Kind am Arm, brachte es unter einen Schattenspender, setzte es an die Wand und ging wieder zum Blechtrog, um das Futter der Kühe umzurühren, das in einem Blechtrog kochte. Überall roch es bitter nach Holz und Dattelkernen. Während sie das Fut-ter im Trog umrührte, saß das Kind bewegungslos da und stierte zu ihr hinüber. Seine Au-gen hatte es so geweitet, dass sie nun die Hälfte des Gesichtes zu füllen schienen. Die Frau saß auf dem Boden neben dem Ofen, fixierte das Kind und sagte:"Du Kleiner! Warum schaust du so?"
Das Kind antwortete nicht.
"Nun ist niemand da. Sag mir leise, wessen Kind du bist und woher du kommst!" Ihre Wor-te klangen einschmeichelnd, als locke sie so eher das Geheimnis des Kindes hervor.
Das Kind schwieg beharrlich, stand auf, trat auf Mohammads Frau zu, ließ sich vor der Feuerstelle nieder und stierte in die züngelnden Flammen. Die Frau goß etwas Futter aus dem Trog auf ein Brett und reichte es dem Kind. Das Muhen einer Kuh ertönte hinter der Mauer, während das Kind das Futter zu löffeln begann.

5)

Spät in der Nacht klopfte es bei Mohammad an der Tür. Seine Frau öffnete. Ein Zigeuner und seine Frau standen vor der Tür. Der Mann rauchte Zigarette und die Frau durchsuchte im Dunkeln ein Bündel. Mohammads Frau eilte in den Wohnraum und rief: "Hey! Hadschi! Sie sind gekommen, um das Kind abzuholen!"
Mohammad, der kurz zuvor eingenickt war, sprang auf und hastete an die Tür.
"Salam-Aleikom! Willkommen! Willkommen! Kommen Sie herein! Kommen sie herein!" begrüßte er die Fremden.
Die beiden Zigeuner traten schweigend über die Schwelle des Hauses und warteten gedul-dig. Mohammads Frau zündete eine Lampe an und brachte sie ins Gastzimmer. Die Zigeu-ner saßen an der Wand und Mohammad öffnete die Fenster. Ein angenehmer Luftzug kühl-te die Luft im Raum ab. Schließlich setzten sich die beiden den Fremden gegenüber.
"Endlich sind Sie aufgetaucht." sagte Mohammad. Der Zigeuner blickte erst Mohammad, dann seine Frau an und lachte.
"Du bist sehr froh. Nun gut! Jetzt geben wir dir dein Kind wohlbehalten und gesund zu-rück." Der Zigeuner legte den Kopf schief und sah seine Frau diesmal noch verblüffter an. Beide lachten.
"Haben Sie ein bisschen Wasser für uns?" fragte der Mann.
Mohammads Frau ging ins Hinterzimmer und kam mit einem großen Glas Wasser zurück. Sie tranken das Wasser und stellten das leere Glas an das Licht.
"Gestern Nacht hat es nicht geschlafen und nun schläft es dafür richtig. Wenn Sie gehen möchten, werden wir es wecken." sagte Mohammads Frau.
Die Fremden sahen sich an, als würde sie die Situation sehr belustigen, schwiegen jedoch.
"Als Saleh Kamsaari und der Dorfältestensohn aufs Meer gefahren waren, hatten sie das Kind gefunden" versuchte Mohammads Frau den bieden zu erklären.
"Saleh Kamsaari?" fragte der Zigeuner. Und seine Frau wandte den Kopf ab. Nicht lange darauf bog sich ihr Körper vor Lachen.
"Kennt Ihr Saleh Kamsaari?" fragte Mohammad nun unsicher geworden.
"Nein!" sagte der Zigeuner.
"Und den Dorfältestensohn?" fragte Mohammad weiter.
"Den Dorfältestensohn? " gluckste der Zigeuner, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und begann von Neuem zu lachen.
"Warum benehmt Ihr euch so?" wunderte sich Mohammad.
Die beiden standen auf.
"Lass uns das Kind holen!" sagte Mohammads Frau schnell.
Sie ging ins Nebenzimmer und bevor sie zurückkam, hatten die Zigeuner die Tür geöffnet und waren lachend in der Dunkelheit verschwunden.

6)

Als die Sonne aufging, brachte Mohammads Frau das Kind zu Saleh Kamsaari. Seine Frau war zum Teich Wasser holen gegangen. Seine Tochter hatte sich an die Backgrube gesetzt und strich den dünnen flachen Brotteig an die Wände des Ofens. Mohammads Frau ließ das Kind auf dem Hof zurück und setzte sich neben Salehs Tochter. Nach einer Weile sagte sie: "Heute seid Ihr dran! Ich habe es gebracht, damit es nachts bei euch bleibt."
"Meiner Mutter geht es nicht gut. Ich glaube nicht, dass sie auf das Kind aufpassen kann." sagte Salehs Tochter.
"Aber sie hat versprochen, auf das Kind aufzupassen."
"Ihr Körper ist geschwollen. Wie soll sie da aufpassen? "
"Pass du darauf auf! "
"Aber ich muss schon meine Mutter versorgen."
"Wir warten, bis deine Mutter kommt! Dann werden wir beschließen, was zu geschehen hat. Nun gib dem Kind schon ein Stück Brot!" sagte Mohammads Frau. Salehs Tochter schnitt ihm ein Stück Brot ab und gab es dem Kind. Ein paar Augenblicke später betrat Salehs Frau mit einem Wasserkrug den Hof. Mohammads Frau begrüßte sie und sagte: "Ich habe dieses Zigeunerkind mitgebracht, damit du auf ihn aufpasst. Heute seid Ihr dran!"
"Aber mir geht es nicht gut. Ich habe Herzklopfen. Kann mich nicht bewegen. Wie soll ich es behüten?"
"Wenn du auf das Kind nicht aufpassen kannst, muss deine Tochter oder Saleh selbst es tun!"
"Wie wäre es, wenn Sie auch heute Nacht aufpassen?"
"Unmöglich, liebe Frau! Sie können sich nicht vorstellen, was es uns gestern Nacht angetan hat."
"Was denn?"
"Gegen Mitternacht kamen zwei Zigeuner, klopften an die Tür, betraten das Haus und baten uns um Wasser. Dann tranken sie es und wir glaubten, dass sie seine Eltern seien. Aber sie haben das Kind nicht mitgenommen, sondern gingen ohne ein weiteres Wort hinaus. Und eben da erwachte das Kind und drehte es immer wieder Runden durchs Zimmer. Der Boden und die Wände bewegten sich mit ihm wie ein Boot auf dem Wasser und schaukelte auch uns. Uns wurde angst und bange!"
"Und was habt Ihr gemacht?" sagte Salehs Tochter.
"Wir riefen einander. Ich rief Hadschi, er rief seinen Sohn und wieder rief ich beide." sagte Mohammads Frau.
"Und was hat es gemacht?" fragte Salehs Frau und dabei zeigte sie auf das Kind.
"Nichts. Es drehte nur seine Runden im Zimmer und ging hin und her. " sagte Mohammads Frau.
"Was mag wohl der Grund gewesen sein?" fragte Salehs Tochter.
"Die Zigeuner, glaube ich, stecken dahinter!" meinte Mohammads Frau.
Alle schwiegen mit einem Mal. Der Wind trug die Töne von Musikinstrumenten und Trommeln vom Meer her zu ihnen herüber.

7)

Abends brachten Mohammad und Saleh das Kind zu Sahed. Er saß im Dunkeln vor seiner Hütte und kaute Tabak. Der Dorfälteste rief: "Hey! Sahed! Salam-on-Aleikom! Wir haben dir einen Gast mitgebracht!"
"Aleikom-o-Ssalam! Herzlich Willkommen! Gut gemacht!" grüßte auch Sahed.
"Es ist ein Gast, der dich nicht sehr stören wird. Weder will er was zu Essen, noch braucht er viel Platz zum Schlafen." sagte Saleh.
"Egal wer und wie er ist, er ist auf jeden Fall herzlich willkommen!" sagte Sahed.
Der Dorfälteste schubste das Kind vor sich her auf Sahed zu und sagte: "Dieser Gast ist aber so klein."
"Das macht gar nichts, Dorfältester!" sagte Sahed. Dann setzte er das Kind auf seinen Schoß, nahm eine Handvoll Tabak aus seinem Beutel und bot ihn den Männern an: "Kaut ihr scharfen Tabak?"
Saleh nahm ein wenig Tabak und schob ihn sich in den Mund. Mohammad sagte: "Tau-send Dank! Und behüt’ dich Gott!"
Eilig entfernten sich die Männer. Sahed drehte sich um, und sah sich das Kind an, dessen Augen wie eine Speckschwarte glänzten und dessen kleines Gesicht zu scheinen schien. Das Kind runzelte die Stirn und Sahed sagte: "Was runzelst du die Stirn so? Gefalle ich dir nicht? Niemand findet Gefallen an mir. Ertrag mich einfach, nur heute Nacht! Dein Leben ähnelt meinem. Warum bist du zur Welt gekommen? Auch du bist geboren worden, um Hunger auszuhalten, um in einer armseligen Hütte zu schlafen, um mit Wüstenwinden zu sprechen? Vielleicht trommelst du auch für die Irren und die Verrückten?!"
Das Kind stand auf. Sahed lachte und sagte:"Hast du keine Lust zu meinen Worten? Wohin willst du denn? Geh nicht! Es ist überall dunkel. Ich habe kein Licht, um für dich zu leuch-ten."
Das Kind drehte sich um und entfernte sich einige Schritte. Sahed setzte ihm nach, die Ar-me weit geöffnet, und rief dem Kind hinterher: "Was willst du machen? Willst du dich ver-laufen? Willst du, dass dir im Dunkeln etwas zustößt? Willst in den Abu-Eijub Teich fallen und ertrinken? Heute Nacht, in der du mein Gast bist, bleib hier! Was soll ich morgen den Leuten sagen? Soll ich sagen, dass ich auf einen kleinen Gast nicht aufpassen konnte?"
Das Kind wendete sich Sahed wieder zu, setzte sich auf den Boden und Sahed nahm ihm gegenüber Platz. Sie starrten einander an. Vom Abu-Eijub Teich her erklang ein seltsamer Laut, als zapple etwas im Wasser.
"Heute ist es eine schlechte Nacht. Hörst du? Steh auf, damit wir in die Hütte gehen! " sagte Sahed.
Das Kind erhob sich von neuem und diesmal floh es. Wieder setzte Sahed ihm nach. Er griff nach jedem Schatten, den er erblickte. Ununterbrochen rief er: "Wohin willst du? Was willst du machen? Bleib stehen! Nur einen Augenblick bleib stehen! Ich möchte dir Brot geben, möchte dir Wasser geben, möchte dir Ghotaab(2) geben. Ich will dir ein Vater sein. Bleib stehen!"
Als sie an den Abu-Eijub Teich gelangten, sprang Sahed vor, ergriff das Kind und um-schlang es mit seien Armen. Aus dem Teich schallte ein Lachen.
Sahed keuchte: "Du verstehst nicht, was du machst. Lass uns zur Hütte gehen! Ich möchte für dich trommeln. Intressierst du dich nicht dafür? Jetzt gehen wir zur Hütte. Versprich, dass du nicht mehr fliehst! Sonst werde ich dir Hände und Füße binden, dich in die Trom-mel legen und an einer dunklen Stelle aufhängen!"

8)

Mittags ging Ahmad-Ali zum Hause von Sakaria. Er saß unter dem Windturm und war da-bei, das Fischfangnetz zu flicken. Ahmad-Ali rief Sakaria. Sakaria blickte hinter der Wand hervor und lud ihn ein, hereinzukommen.
Ahmad-Ali nahm seine Kopfbedeckung ab und sagte: "Ich bin gekommen, um zu sehen was du machst."
"Ich flicke gerade ein Netz."
"Laß mich dir helfen!"
Sakaria schob die andere Seite des Fischernetzes mit ein wenig Faden zu Ahmad-Ali hin-über. Mit ausgebreitetem Fischfangnetz auf den Knien begann dieser zu erzählen: "Am Mittag war niemand in der Moschee bereit, das Kind heute Nacht in seinem Haus aufzu-nehmen."
"Was haben sie denn mit ihm vor?" fragte Sakaria.
"Nichts. Sie lassen es in der Siedlung." sagte Ahmad-Ali.
"Sie haben recht. Es hat das Leben aller Leute, bei dem es gewesen war, durcheinanderge-bracht." sagte Sakaria.
"Und nun...? Wenn sie es in der Siedlung lassen, kommt es heute Nacht bestimmt in meine Hütte?!" sagte Ahmad-Ali.
"Was kann man sonst machen?" fragte Sakaria.
"Ich kann nicht in der Hütte bleiben. Ich muss wohl aufs Meer fahren." antwortete Ahmad-Ali.
"Aufs Meer fahren? Heute Nacht ist das Wetter nicht gut. Außerdem ist das Meer unruhig!" stellte Sakaria fest.
"In der Moschee kann ich doch nicht schlafen. Dort werde ich wahnsinnig." sagte Ahmad-Ali.
"Bleib doch die Nacht bei Sahed!" schlug Sakaria vor.
"Dorthin gehe ich nicht. Sahed wacht mitten in der Nacht auf und trommelt." sagte Ahmad-Ali.
"Wo willst du denn nun heute Nacht bleiben?" fragte Saleh.
"Ich kann niergendwohin gehen. Wenn du erlaubst, komme ich zu dir. Ich werde mich bis zum Morgen ins Hinterzimmer setzen und für dich Netze flicken."sagte Ahmad-Ali.
"Gut! Komm zu mir! Du kannst bei mir bleiben. Ich gebe dir auch eine Wasserpfeife zum Rauchen. Du brauchst keine Netze zu flicken. Du kannst dich ruhig schlafenlegen! Mach aber keinen Lärm!" sagte Sakaria.
"Ich weine manchmal, wenn ich in meiner Hütte allein bin und an mein Leben denke! Ich versichere dir aber, dass ich heute Nacht nicht weinen werde." sagte Ahmad-Ali.

9)

Als die Sonne unterging, ging Ahmad-Ali zum Hause von Sakaria und versteckte sich im Hinter-zimmer. Saleh Kamsari und der Dorfältestensohn brachten das Kind vor die Moschee und legten einige Stücke Ghotaab in seinen Schoß. Als das Kind damit beschäftigt war, kehrten sie auf Ze-henspitzen um und rannten davon. Einige Augenblicke später wurden die Türen aller Häuser ge-schlossen.
Es war ein unruhiger Abend. Windböen wühlten das Meer auf. Irgendwann erhob sich das Kind und machte sich auf den Weg. Erst ging es zum Hause des Dorfältesten und kratzte an dessen Tür. Der Dorfälteste und seine Frau, die sich hinter der Tür versteckt hielten, begannen darum zu beten, dass das Kind geht. Nach einer Weile wandte sich das Kind zu Mohammads Haus. Seine Frau, die hinter der Tür lauerte, drohte dem Kind und beschimpfte es. Daraufhin schritt es zu Abdoldscha-wad. Dessen Mutter saß auf dem Dach und rief ihren Sohn durch die Öffnung des Windturms, als sie das Kind erblickte. Abdoldschawad kam nach oben und schüttete einen Eimer Wasser auf den Kopf des Kindes.
Zu dieser Zeit erhob sich in der Siedlung ein Getümmel, als gruben Tausende von Ratten Stollen in die Erde. Ängstlich presste Ahmad-Ali, der sich in Sakarias Hinterzimmer hingelegt hatte, sein Gesicht auf die Erde. Die Stimme der Trommel von Sahed erhob sich vom Abu-Eijub Teich.

10)
Am Morgen fanden sie das Kind in der Hütte von Ahmad-Ali und brachten es vor die Moschee. Abdoldschawad ging und benachrichtigte den Dorfältesten und Mohammad. Wolken bedeckten den Himmel und das Meer brauste auf, als alle Leute sich versammelten.
"Gestern Nacht hat niemand bis zum Gebetsruf vor der Morgendämmerung ein Auge zugetan." bemerkte Sakaria.
"Was ist Schlaf? Beinahe wären wir vor Angst gestorben!" rief der Dorfälteste.
"Wir müssen uns das Kind vom Halse schaffen! Das ist die einzige Lösung!" bemerkte Sakaria mit Nachdruck.
"Saleh ist schuld daran, weil er es in die Siedlung gebracht hat." sagte Abdoldschawad.
"Ich war nicht alleine. Auch der Dorfältestensohn war bei mir." sagte Saleh schnell.
"Wir dachten, das wäre ein normales Kind!" rechtfertigte sich der Dorfältestensohn. "Es ist nun mal passiert. Denken wir lieber daran, wie wir es wieder los werden!" forderte Sakaria die anderen erneut auf.
Abdoldschawad schlug vor, dass sie es mitnehmen und draußen vor der Siedlung lassen sollten.
"Das wird Gott nicht gefallen. Vielleicht zerreißt es ein wildes Tier!" gab der Dorfälteste zu Be-denken.
"Es ist ein kleiner Zigeuner und ihm wird nichts passieren." sagte Ahmad-Ali.
"Saleh, nimm das Kind! Wir bringen es auf den Weg, den die Zigeuner immer nehmen, wenn sie vorbeikommen." sagte Sakaria.
Saleh trug das Kind und nach einander verließen die Männer die Siedlung. Das Brausen des Meeres verstärkte sich und ein warmer Wind wirbelte auf der Straße Staub auf. Schweigend gin-gen die Männer vorwärts. Alle paar Schritte wechselten sich die Männer ab, und nahmen das Kind auf den Arm. Als sie die Biegung bei den Hügeln passierten, erreichten sie eine Salzebene.
"Diesen Weg nehmen die Zigeuner!" rief Zakaria.
"Lassen wir es also hier in ein Eckchen! " sagte Saleh.
Sie setzten das Kind auf den Boden und legten den Beutel mit Stücken von Ghotaab daneben. Es blieb regungslos sitzen und blickte auf die Salzebene. Auf Sakarias Zeichen hin entfernten sich die Männer langsam und passierten schließlich eine Biegung.
"Gehen wir noch schneller!" sagte Abdoldschawad.

Nun beschleunigten sie ihre Schritte. Nach einer längeren Strecke auf ihrem Rückweg, drehte sich Sakaria plötzlich um. "Ach! Es läuft uns nach!" rief er aus.
Alle blickten sich um. Das Kind folgte ihnen mit zügigem Schritt.
"Und jetzt?" sagte Mohammad.
"Wir nehmen einen Umweg. Dann verfolgt es uns und wird sich unterwegs zur Siedlung verlau-fen!" sagte Saleh.
Die Männer schlugen einen anderen Weg ein und stiegen den Hügel neben der Straße hinauf und erst als sie sich auf halber Höhe befanden, drehten sie sich um. Zielstrebig näherte sich das Kind der Siedlung, ohne auf sie Acht zu geben.
Die Wolken verzogen sich und die Sonne spiegelte sich lachend auf dem Meer. Die Männer starr-ten einander beunruhigt an. Sie standen ratlos nebeneinander und wendeten ihren Blick der Sied-lung zu.


1 Gholam Hossein Saedi: Geb. 1935 in Teheran, gest. 1985 in Paris. Psychiater, Verfasser von vielen Erzählbändern und Theaterstücken
2 Eine Art Süßigkeit, die aus Blätterteig und Öl gebacken wird.

 

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