Ralf Deutschmann

Die Brunnen von Zardino - Eine Erzählung

1. Antonia

Am 11. September des Jahres 1610 wurde auf dem dosso dell’albera, einem kleinen Hügel nahe dem Dorf Zardino im Tal des Sesia im Piemont, die Hexe Antonia verbrannt. Antonia wurde der Häresie angeklagt, überführt und nach viermonatiger Verhandlung vor dem heiligen Offizium der Stadt Novara der Reue unfähig befunden und damit der weltlichen Gewalt überstellt, die sie schließlich zum Tode verurteilte. Natürlich verurteilt die Kirche selbst niemanden und spricht auch niemanden frei. Erst recht tötet sie niemanden. Nach einem vorgeschriebenen Ritual befanden die Richter der Inquisition lediglich darüber, ob die angeklagte Hexe der Reue fähig sei, man ihr damit die Möglichkeit eines öffentlichen Schuldbekenntnisses geben könne oder ob sie der Reue unfähig und damit unrettbar dem Teufel verfallen war. In letzterem Fall wurde sie der weltlichen Gewalt übergeben, die dann das Urteil über sie sprach. So führte die Kirche zwar den Prozeß und nahm das Urteil bereits vorweg indem sie der weltlichen Instanz kaum eine Chance gab, anders als in ihrem Sinne zu entscheiden, jedoch vermied sie auf diese elegante Weise die Hände selbst zu beflecken.

Während der Verhandlung, die am 12. April 1610 mit der Denunziation des Pfarrvikars Don Teresio aus Zardino vor dem heiligen Offizium begann, wurde Antonia ganze drei mal von dem Inquisitor Gregor Manini befragt. Bei ihrer zweiten und dritten Befragung wurde sie auf Geheiß Maninis von zwei Knechten gefoltert. Bereits nach kurzer peinlicher Befragung gab Antonia bereitwillig Antwort auf alle Fragen des Inquisitors. Zwar nicht vollkommen in seinem Sinne, jedoch so, daß man mit einigem guten Willen ihre Aussagen als Geständnis deuten konnte.
Antonia leugnete nicht während der Messe in gotteslästerlicher Weise gelacht zu haben. Zwar konnte sie sich nicht an einen konkreten Fall entsinnen und behauptete, daß es sicher nichts mit Don Teresio oder seiner Predigt zu tun gehabt hätte, falls sie es tatsächlich getan haben sollte. Aber die Aussage Don Teresios wurde zumindest nicht mehr in Zweifel gezogen und Antonia als Gotteslästerung unterstellt.
Antonia leugnete auch nicht im vergangenen Jahr mit einem lanzi, einem Landsknecht, auf dem Marktplatz von Zardino getanzt zu haben. Dabei war sie nur zufällig zugegen, als die lanzi Zardino traktierten und die Bewohner auf dem Marktplatz antreten ließen. Hatte sie sich als junges Mädchen wehren sollen, als einer der rauhen Männer, die selbst vor den Dorfältesten keinen Respekt hatten, sie in seinem Übermut zum Tanze zwang? Daß der Pfarrvikar Don Teresio, der sich während der Anwesenheit der lanzi in seinem Haus verkroch, obwohl diese die Kirche mehr als einmal schändeten, ihr daraufhin die Messe und die Kommunion verwehrte, hatte sie niemals so recht verstanden.
Wirklich schwerwiegend werteten Manini und die anderen Richter der Inquisition, daß Antonia sich in Madonnengewand in einen Bildstock hatte malen lassen. Tatsächlich hatte der Zardineser Bauer Diotallevi Barozzi geschworen einen Bildstock mit einem Bildnis der heiligen Madonna von der göttlichen Hilfe aufstellen zu lassen, nachdem er den Brand seines Hofes als einziger unversehrt überlebt hatte. Der von Diotallevi beauftragte Maler Bertolini d’Oltrepò begegnete auf seinem Weg nach Zardino unglücklicherweise drei jungen Mädchen beim Gänsehüten, von denen Antonia eine war. Fasziniert von ihrer Schönheit überredete er sie, ihm für den Bildstock Modell zu sitzen. Daß die Madonna von der göttlichen Hilfe nun Antonias Antlitz und ihre schwarze Haarpracht trug, war für Antonia, den Maler Bertolini und auch für Diotallevi ein eher belangloser Umstand. Nicht jedoch für Don Teresio, der sich mit hochrotem Kopf weigerte den Bildstock zu segnen.

Antonia war durch die Verewigung in Madonnengestalt für jedermann aus Zardino sichtbar zur Unperson, zur persona non grata geworden. Noch sprach niemand öffentlich von Hexe, aber sie wurde gemieden und immer häufiger machten Gerüchte die Runde. Von Kindern, die die Sprache verloren wenn Antonia das Haus betrat in dem diese wohnten. Von Unglücksfällen, die sich ereigneten nachdem Antonia vorüber gegangen war. Und schließlich über Biagio, dem Blöden, der sich in Antonia verliebte und ihr einige Zeit unablässig hinterherrannte. Antonia hatte sich niemals über Biagio lustig gemacht, wie es fast alle aus Zardino taten. Sie verstand, daß Biagio von seinen Halbschwestern, den Zwillingsschwestern Agostina und Vincenza Borghesina, mit seinem geringen Verstand als Knecht mißbraucht und mißhandelt wurde. Obwohl ein Stier von einem Mann, ertrug Biagio alle Beschimpfungen und auch körperliche Gewalt mit stoischer Ruhe und verrichtete jede noch so geringe und anstrengende Arbeit, die ihm von den Schwestern aufgetragen wurde, ohne Murren. Antonia versuchte ihm, der kaum vernünftig sprechen noch lesen oder schreiben konnte, einige wenige Worte beizubringen. Freilich ohne großen Erfolg, außer jenem, daß Biagio in sporadischen Anfällen bisweilen lauthals nach ihr rufend durch Zardino lief. Die Borghesinas schlugen ihn daraufhin mit Dreschflegeln mehr als einmal fast bis zur Bewußtlosigkeit und verboten ihm den Kontakt mit Antonia und auch ihren Pflegeeltern, den Nidasios, was weder Biagio noch Antonia beherzigten. Antonia aus Mitleid, Biagio weil er es einfach nicht verstand. Dies vertiefte die Kluft zwischen den Borghesinas und den Nidasios, die ohnehin aufgrund von Streitigkeiten um Land- und Wasserrechte bereits zerstritten waren, ins Bodenlose. Antonia hatte nun mehrere direkte Feinde. Den Pfarrvikar Don Teresio und die Zwillingsschwestern Agostina und Vincenza Borghesina.

Die Geschichte eskalierte schließlich, als sich Antonia in einen camminante, einen Vagabunden der Landstraße verliebte, der von Zeit zu Zeit auch in Zardino anzutreffen war, nämlich weil er sich darauf verstand kleine Trupps armseliger Kreaturen zusammenzustellen, die er als risaroli, als Reisarbeiter an die Bauern der Gegend verkaufte. Vermutlich erzählte der camminante Gasparo Bosi, der auch unter dem Namen Tosetto bekannt war, Antonia von der Welt außerhalb Zardinos, von Mailand, vom Meer und von Afrika. Er, der in jedem Dorf mit mehr oder weniger großem Erfolg jeder Schürze hinterherlief, verdrehte der schönen aber naiven Antonia den Kopf mit Träumereien und Versprechungen. Sie trafen sich oft unter dem Kastanienbaum auf dem dosso dell’albera, einem der beiden Hügel vor dem Dorf, denen man seit jeher eine magische Aura zusprach. Und dies wurde Antonia nun zum Verhängnis. Denn als sie eines Abends, kurz nach dem Untergang der Sonne, sich von ihrem Schatz verabschiedet hatte und auf dem Heimweg nach Zardino war, begegnete sie einigen Christlichen Brüdern, die zu jener Zeit in ihren roten Kutten mit weißen Kreuzen darauf sich als Hüter und Verteidiger der christlichen Werte verstanden, in Wahrheit jedoch fast ausschließlich den entflohenen risaroli hinterher jagten um sie wieder einzufangen oder auf der Stelle richten, das heißt zu verstümmeln oder gar zu töten. Es war an einem Donnerstag. Sie befragten Antonia wo sie zu so später Stunde denn herkommen würde und sie antwortete in ihrer Unschuld wahrheitsgemäß. Die Christlichen Brüder schauten sich vielsagend an und ließen sie laufen. Aber es stand nun fest, daß Antonia eine Hexe war, denn jeder Bewohner der Bassa, der Gegend um Zardino bis nach Novara, wußte, daß am Donnerstag bei Sonnenuntergang die Hexen unter dem Kastanienbaum auf dem dosso den Hexensabbat tanzten.

All diese schrecklichen Ereignisse wurden von zuverlässigen Zeugen bezeugt. Allen voran Don Teresio, Pfarrvikar von Zardino, unermüdlicher Streiter für die Kirche, Eintreiber des Zehnten und von Almosen für alle möglichen guten Zwecke, vor allem für die Renovierung der Kirche und den Bau eines Pfarrhauses. Er machte sich am 12. April 1610 auf den Weg nach Novara, um dem Inquisitor Manini des heiligen Offiziums der Stadt anzuzeigen, daß in Zardino eine Hexe mit Namen Antonia Renata Giuditta Spagnolini ihr Unwesen trieb und gleichzeitig zu bezeugen, welcher Art die Taten waren, die eindeutig bewiesen, daß es sich tatsächlich um eine Hexe handelte. Wem konnte man glauben, wenn nicht einem Vertreter der rechten Kirche. Ebenso unfehlbar die Christlichen Brüder, die glaubhaft versichern konnten, daß sie Antonia mehrfach vom Hexensabbat hatten kommen sehen. Freilich hatten sie niemals bei den Ritualen zugeschaut oder gar den Teufel selbst gesehen, aber es stand wohl außer Frage, daß eine junge Frau wie Antonia keinen noch so vernünftigen Grund anführen konnte, der ihre Anwesenheit auf dem dosso dell’albera an einem Donnerstag zur Stunde des Sonnenuntergangs erklären konnte. Schließlich sagte Agostina Borghesina auch im Namen ihrer Schwester aus und erzählte die Geschichte des verhexten Biagio und von seltsamen Ereignissen, die ihr von anderen zu Ohren gekommen waren. Und selbstverständlich hätten auch andere Bewohner Zardinos diese Geschichten bestätigen können, wenn dem Inquisitor Manini diese Aussagen nicht bereits ausgereicht hätten um die Befragung Antonias einzuleiten.
Natürlich gab es auch Fürsprecher für Antonia. Den Feldhüter von Zardino Pietro Maffiolo zum Beispiel, der aufgrund seiner großen, hageren Statur von den Kindern des Dorfes schon immer verspottet wurde. Nur eben von Antonia nicht. Er bezeugte, daß Antonia eine normale junge Frau wie jede andere war, erzählte dem Inquisitor von den Land- und Wasserstreitigkeiten zwischen den Borghesinas und den Nidasios und bestätigte, daß Antonia sich seit einiger Zeit mit dem Tosetto traf. Manini jedoch schenkte Maffiolo keinen Glauben, unterstellte ihm unzüchtige Motive und schickte den so gedemütigten wieder nach Hause. Auch Antonias Freundin Rosalina konnte die Existenz des camminante, der sich einer Aussage vor dem Offizium entzog, bestätigen und ließ sich auch von Manini nicht einschüchtern. Dennoch findet sich ihre Aussage nur als Randnotiz in den überlieferten Prozeßakten wieder.
Schließlich sprachen auch Antonias Pflegeeltern Francesca und Bartolo Nidasio für sie und vielleicht hätte Manini ihren Aussagen ein wenig mehr Gewicht gegeben, hätte Bartolo nicht am Ende der Befragung versucht, dem Inquisitor zum Tausch gegen Antonia ein Schwein anzubieten. Außer sich vor Zorn warf Manini die Nidasios hinaus und ließ sie nie wieder zu sich vor.
Antonia selbst wurde erst am 14. Mai 1610 zum ersten Mal von dem Inquisitor verhört. Zu dieser Zeit waren die Befragungen der anderen Zeugen bereits abgeschlossen. Vermutlich ging es bereits bei dieser ersten Befragung schon gar nicht mehr darum die Wahrheit zu ergründen, sondern lediglich ein Geständnis aus Antonia zu pressen. Zeigte sie sich anfangs noch sehr stolz und selbstsicher und verneinte jeglichen Kontakt mit dem Teufel und mit Hexenwerk, so brach sie nach den Tagen im stinkenden Verließ des Offiziums bei schlechtem Essen und inmitten unzähliger Ratten, die unablässig versuchten an ihr zu nagen, bereits beim zweiten Verhör und bei den ersten Folterungen zusammen. Sie gestand, wenn auch nicht dem Teufel direkt begegnet zu sein, so doch, daß es möglich sei, daß sich ihr der Teufel in Gestalt ihres Geliebten Tosetto genähert und sie mit allerlei falschen Versprechungen geblendet hatte. Diese und ähnliche Geständnisse genügten Manini schließlich den Prozeß zu beschleunigen und auf eine Verurteilung der Hexe von Zardino hinzuarbeiten.
Antonia wußte im Grunde nicht wirklich, wessen sie eigentlich beschuldigt wurde, verstand erst wenige Tage vor ihrem Tod, wie es tatsächlich um sie stand. Sie konnte nicht wissen, daß sie nicht nur von einem engstirnigen, fanatischen Pfarrvikar geopfert wurde um die kirchliche Stellung in diesem kleinen, unbedeutenden Dorf zu festigen. Auch, daß sie als esposta, als Findelkind, von den Nidasios mit neun Jahren aus dem klösterlichen Heim von Novara in das Dorf Zardino geholt, ganz natürlich auf Mißtrauen stieß, war nicht wirklich entscheidend. Nicht einmal der Streit um Land- und Wasserrechte zwischen den Nidasios und den Borghesinas. Wirklich verhängnisvoll war für Antonia, daß sie mitten in einen Machtkampf zwischen dem Bischof der Diözese Novara Carlo Bascapè und dem Inquisitor Gregor Manini geriet. Beide waren noch nicht sehr lange im Amt. Bascapè als Vertreter eines eher reformistischen Flügels der Kirche, beinahe als Lutheraner diffamiert, war bei Papst Paul V. in Ungnade gefallen und nach Novara versetz oder besser verbannt worden. Manini dagegen sah sich als würdiger Nachfolger des Inquisitors Buelli, der den Palast um das heilige Offizium in Novara mit seiner Folterkammer und seinen Verließen erbauen ließ, jedoch noch vor der Vollendung seines Lebenswerkes an einem Herzanfall verstorben war. Manini war papsttreu und drängte auf die Eigenständigkeit der Inquisition, auf die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit von den kirchlichen Hierarchien, also auch dem Bistum.
Als Don Teresio in Novara eintraf um Antonia als Hexe zu denunzieren, befand sich Bischof Bascapè gerade in Rom, wo er auf die Heiligsprechung seines Freundes und Lehrers, des seligen Karl Borromeo wartete. Manini glaubte in der schnellen Abwicklung eines offensichtlich spektakulären Hexenprozesses die Chance zu erkennen, der Inquisition zu ihrem Recht und damit zu ihrer Unabhängigkeit zu verhelfen. Tatsächlich begab sich auch Manini Ende Juli des Jahres 1610 nach Rom um den Papst unter Vorlage seiner Erfolge zur öffentlichen Unabhängigkeitsbezeugung für die Inquisition zu bewegen. Zu Maninis Erstaunen zeigte Paul V. jedoch kein besonderes Interesse an dem Machtkampf zwischen Inquisitor und Bischof und schickte Manini mit der Bitte, er möge den Fall doch im Einvernehmen mit Bascapè regeln, wieder zurück nach Novara. Als auch Bascapè aus Rom zurückkehrte, noch vor der Heiligsprechung Karl Borromeos und von Papst Paul V. ein weiteres mal gedemütigt, nutzte Manini die Gunst der Stunde und legte dem völlig apathischen Bischof ein kurzes Schreiben vor in dem er um freie Hand im Prozeß gegen die Hexe Antonia bat. Bascapè unterzeichnete ohne sich auch nur einen Gedanken um diesen Fall zu machen. Manini triumphierte und besiegelte das Schicksal Antonias.

„In civitate Novariae die 12 mensis Aprilis 1610. Processus haeresis contra quendam Antoniam de Giardino. Expeditus die 20 mensis Augustus ejusdem anni. In nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti amen. Coram Rev.ssimum D.um frater Gregorius Manini de Gozano diocesis Novariensis Inquisitor haereticae pravitatis …“ Mit diesen Worten beginnt das Sitzungsprotokoll des kirchlichen Prozesses gegen Antonia, der mit ihrer Verurteilung zum Tode endete. Antonia, die selbst bei dieser Sitzung und auch bei der Urteilsverkündung nicht zugegen war, sollte eben auf jenem dosso dell’albera, der auf Zardino herabblickte und der Schauplatz ihrer Hexensabbate gewesen war, bei lebendigem Leib verbrannt werden. Es sollte an einem Samstag geschehen, damit alle kommen und sich an ihrer Hinrichtung ergötzen konnten, zu einer Stunde nach Sonnenuntergang, damit die Flammen des Scheiterhaufens weithin, bis in den letzten Winkel der Bassa, sichtbar waren. Man ordnete an, den alten Kastanienbaum auf dem dosso zu fällen und sein Holz für den Scheiterhaufen zu verwenden. Es sollte sorgfältig getrocknet werden, damit es nicht so sehr qualmte. Schließlich sollte auf die Asche des Scheiterhaufens Salz gestreut und ein Holzkreuz mit der Inschrift: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes“ errichtet werden.
Und so geschah es. Hunderte, ja tausende tobender Menschen begleiteten Antonia auf ihrem Weg zum Scheiterhaufen. Es war ein heißer und langer Sommer gewesen und es hatte seit April nicht mehr geregnet. Die Menschen litten unter der Hitze und gaben der Hexe die Schuld am Ausbleiben des Regens. Fast wäre Antonia vom Pöbel aus der Kutsche gezerrt und erschlagen worden, noch bevor sie als weithin sichtbares Mahnmal verbrannt werden konnte. Dabei hatte man eigens den Henker Bernardo Sasso aus Mailand kommen lassen, um dem Schauspiel noch mehr Gewicht zu geben. Meister Bernardo jedoch wußte, daß der Feuertod wohl die schrecklichste Art des Sterbens war und flößte Antonia kurz vor ihrer Verbrennung einen Kräuterextrakt ein, der sie weitestgehend betäubte und sie ihre Qual kaum mehr spüren ließ.

Dies war die Geschichte von Antonia von Zardino, die im Jahre 1610 als Hexe verbrannt wurde, in wenigen Worten erzählt. Ihre Geschichte wäre wohl schon lange in Vergessenheit geraten, zählte sie nicht zu den wenigen, bis ins letzte Detail dokumentierten Hexenprozessen, die uns aus jener Epoche überliefert sind. In Vergessenheit geraten ist jedoch Zardino. Kaum ein Stein erinnert noch an das kleine Dorf am Sesia Ufer und auch die beiden kleinen Hügel, der dosso und sein Gegenstück, der daseo, sind im Laufe der Jahrhunderte verschwunden. Dort, wo heute die Autobahn Voltri-Gravellona oder seit ihrer Verbindung mit den Alpenpässen auch Voltri-Sempione genannt, unterhalb des Monte Rosa verläuft, in unmittelbarer Nähe oder sogar direkt unter ihr, dort liegt der Flecken der einst Zardino war. Aber auch wenn der ewige Dunst einmal den seltenen Blick in die Sesia Ebene frei gibt, so erkennen wir heute kein Haus und keinen Stein, der von Zardino Zeugnis geben könnte. Selbst die Brunnen, die das Leben und Sterben von Zardino und seiner Bewohner maßgeblich bestimmt haben, sind heute nicht mehr aufzuspüren. Und vielleicht hätte auch ich kein Wort über Antonia und Zardino verloren, wenn diese Geschichte nicht ein Nachspiel gehabt hätte, welches weder durch Intrigen noch durch Machtkämpfe kirchlicher Strömungen bestimmt war, sondern einzig und allein von der Engstirnigkeit der Menschen und ihrem Wahn für alles einen Schuldigen suchen und finden zu müssen. Einem Wahn, der zu jener Zeit die Hexenprozesse nährte und die Menschen bis heute unablässig verfolgt.


2. Der Feind

Nach der Hinrichtung Antonias fing es an zu regnen. Endlich. Wie sehr hatten sich die Menschen nach diesem heißen und trockenen Sommer nach Regen gesehnt. Man nahm es als Zeichen, daß die Hexe nun ihre Macht verloren hatte, vergaß dabei jedoch, daß die Sommer in der Bassa sehr oft lang und heiß und trocken waren und es in dieser Region eigentlich kaum etwas ungewöhnliches war, daß der Übergang zum Herbst, durch schwere Unwetter eingeleitet, nur wenige Tage andauerte. Schnell wusch der Regen die Spuren des Scheiterhaufens hinweg, hinterließ lediglich einen schwarzen Fleck, ein Gemisch aus Asche und verbrannter Erde. Bald erinnerte kaum noch etwas an das Ereignis vom 11. September 1610. Und doch war die Landschaft durch die Entfernung des uralten Kastanienbaums vom dosso nun unwiderbringlich und nachhaltig verändert. Schutzlos der Korrosion preisgegeben, schmirgelte der trockene Wind der Bassa von nun an umso mehr an den Konturen des dosso und als seien sie siamesische Zwillinge verlor auch der daseo nach und nach im Laufe der Jahre und Jahrhunderte in gleichem Maße an Höhe. Zwei Früchte der Erde, die langsam verfaulten und in sich zusammen fielen. Derweil ging das Jahr 1610 zu Ende, wie unzählige Jahre zuvor. Kaum war die Ernte eingebracht, die Reisfelder bereinigt, verschwanden die risaroli in der Anonymität ihrer unglückseligen Existenz. Es wurde ruhig in den Dörfern der Bassa, es wurde kalt, der Monte Rosa streckte seine eisigen Arme langsam aber sicher in die Täler, machte seinem Namen Ehre. Als der Schnee schließlich alles bedeckte, wirkte Zardino, wie auch die benachbarten Dörfer, wie ausgestorben. Auch wenn die Jahreszeiten vor dem Piemont keinen Halt machten, war warme Kleidung rar, der Tod allgegenwärtig, der sich in der Stille, die nun den gesamten Landstrich überzog, bemerkbar machte.

Die Menschen gingen sich aus dem Weg. Nicht nur in Zardino. Aber so viel es kaum auf, daß die Nidasios noch immer im Dorf wohnten, obwohl sie durch den Tod ihrer Pflegetochter nicht nur im Geiste schmerzhaft getroffen, sondern durch den Prozeß auch finanziell runiert waren. Die Inquisition hatte ihnen für die Verpflegung Antonias im Verließ des Offiziums, die man kaum als solche hätte bezeichnen dürfen, die Verhöre, den Prozeß, den Henker Bernardo Sasso und auch für die Errichtung des Scheiterhaufens eine Summe von 700 Mailänder Lire in Rechnung gestellt, die das Vermögen der Nidasios bei weitem überstieg. Sie hatten fast alles verkaufen müssen was sie besaßen und ihr Land und ihren Hof dem Offizium überschrieben. Nur dem glücklichen Umstand, daß sich bis zum Winter niemand hatte finden lassen, der die Felder der Nidasios bewirtschaften wollte, hatten sie es zu verdanken, daß sie den Winter über noch in ihrem Haus überleben konnten.
Bis in den März hinein lag der Schnee und die Kälte hatte das Piemont fest im Griff. Ein ungewöhnlich langer und strenger Winter. Dann kam der Frühling und kaum waren die letzten Schneereste geschmolzen, begann auch schon der Sommer des Jahres 1611, ein Sommer, der dem vorangegangenen in nichts nachstand, heiß und trocken und scheinbar unendlich lang. Dennoch machten sich die Bewohner von Zardino zunächst kaum Sorgen, denn an Wasser mangelte es auch in besonders trockenen Zeiten in diesem Teil der Bassa nicht, was einzelne nicht davon abhielt dennoch um Wasserrechte zu streiten. Die Reisfelder wurden über ein Kanalsystem durch den Sesia versorgt, den man auch zum Waschen von Kleidung oder Töpfen oder Holzgeschirr nutze. Zu mehr wurde der Fluß nicht gebraucht, denn Zardino verfügte über zwei Brunnen, die das Dorf seit ewigen Zeiten mit frischem Wasser versorgten.

Nördlich des Dorfes, bereits 50m auf dem Weg zum dosso, fand sich fast auf freiem Feld ein von Menschenhand bis zum Grundwasser getriebener Brunnen. Von einem niedrigen, nur fußhohen Mäuerchen aus ungehauenen Steinen umgeben, fiel er in der freien, leicht ansteigenden Ebene kaum auf, wenn nicht gleich daneben ein mächtiger Holzbalken aus dem Boden ragte, an dem ein starker Eisenring befestigt war. An diesem Ring wiederum hing ein langes Seil, dessen Ende einen alten, schweren Holzkübel trug, der bis unter die Wasseroberfläche reichte. Die Wasseroberfläche freilich lag sehr tief. Nur während weniger Sommertage und nur weniger Minuten um die Mittagsstunde, reflektierten auch Sonnenstrahlen von dem Wasserspiegel in der Tiefe. Sonst waren es nur der Himmel, Wolken oder die Dunkelheit. Es verwundert kaum, daß dieser Brunnen auch il negro, der Schwarze genannt wurde. Sein Wasser war klar, stets kühl und frisch. Und doch kamen die Menschen aus Zardino nur selten aus dem Dorf heraus um dem Brunnen einen Besuch abzustatten, es sei denn sie kamen mit ihren Tieren hier vorbei. Dann wurde die Gelegenheit genutzt um die Kühe oder auch den Hund mit dem Wasser des Schwarzen zu tränken.
Einzig Don Teresio kam regelmäßig. Seine Kirche lag näher zum Brunnen als zum Sesia und so war es nur natürlich, daß er das Wasser des Brunnens nutze um die Kirchenfenster zu reinigen, die Holzbänke, die Mauern und auch den Altar. Als einer der wenigen im Dorf verwendete er das Wasser auch zu seinem eigenen Labsal und behielt es lieber für sich, daß es sich auch in den Weihwasserbecken wiederfand, was so manchen Dorfbewohner zumindest befremdet hätte.
Aber es gab ja noch einen zweiten Brunnen. Im Gegensatz zum Schwarzen befand er sich wenn auch nicht im Zentrum, so doch fast inmitten des Dorfes , dem südlichen Ende des Dorfes ein wenig näher und ein wenig tiefer gelegen. Genau genommen handelte es sich hier nicht wirklich um einen Brunnen, sondern eher um eine Quelle, deren klares und kühles Wasser sanft aus einem Felsspalt sprudelte um von einer etwa kniehohen Mauer, die sich an den Felsen anschloß, gestaut zu werden. In gleichem Maße, wie es dem Becken zufloß, versickerte es auch wieder im Boden, sodaß der Füllstand des Brunnens sich im Laufe der Jahre kaum veränderte und den Menschen auch im Sommer die notwendige Lebensenergie spendete. Dieser Brunnen bzw. diese Quelle war den Bewohnern von Zardino heilig, ein Quell des Lebens, selbst lebendig und stets gleißend im Licht der Sonne. Sie nannten ihn il bianco, den Weißen, als leuchtendes Gegenstück zu dem düsteren Loch vor dem nördlichen Ende des Dorfes.

Die Welt war wieder in Ordnung in Zardino, in den Tagen des heißen Sommers 1611. Kaum jemand verschwendete noch einen Gedanken an die Hexe Antonia, deren Verbrennung bereits mehr als ein halbes Jahr zurück lag. Auch daß die Nidasios noch immer am Rande Dorfes, direkt am Sesia, ihr unglückliches Dasein fristeten und angstvoll darauf warteten, aus ihrem Haus, das längst dem Offizium gehörte, geworfen zu werden, bewegte niemanden. Man machte einen Bogen um das Anwesen.
Don Teresio läutete fleißig jeden Tag die Glocken zur gleichen Stunde und trieb die Bewohner Zardinos jeden Sonntag wie eine Viehherde zur Messe. Er war ein eifriger Verfechter seines Glaubens und vor allem des Kirchensäckels. Seine Predigten waren glühend, verfolgten jedoch letztendlich immer das gleiche Ziel, die Menschen von Zardino an die Begleichung des Zehnten auch an die Kirche zu erinnern, sowie der Bitte um Spenden für die Erhaltung der Kirche und den Bau eines neuen Pfarrhauses. Letzterem konnte sich kaum jemand entziehen, der die Messe besuchte, da Don Teresio im Anschluß an seine Predigten den Klingelbeutel nicht nur unter seinen Schafen herumreichte, sondern mit Argusaugen darüber wachte, daß er bei jedem Einzelnen auch wirklich klingelte. Don Teresio kam fast immer auf Geld zu sprechen. Auf ihr Geld. Und natürlich erfreute er sich damit nicht gerade einer ungeteilten Beliebtheit. Man achtete ihn als Vertreter der Kirche und des Glaubens, aber man fürchtete ihn auch. Seine Predigten enthielten stets mehr oder weniger offen ausgesprochene Drohungen. Warnungen vor dem Fegefeuer oder der Exkommunikation, mit denen er die Menschen beim rechten Glauben halten, mit denen er ihren Geldbeutel öffnen wollte. Aber auch vor der Inquisition warnte er und nicht selten erinnerte er an die Hexe Antonia. Don Teresio hatte sie bei der Inquisition angezeigt und der Häresie beschuldigt und es gab nicht wenige, die ihm dafür dankten, daß er sie von dieser Heimsuchung befreit hatte. Dennoch war dies auch ein Zeichen, daß Don Teresio es mit seinen Drohungen ernst meinte.

An einem Donnerstag im Juni des Jahres 1611 blieb mit einem Mal das Läuten der Kirchenglocken aus. Zwar wurde es sofort bemerkt und vereinzelt wurde darüber auch getuschelt, aber noch war dies kein wirklich bemerkenswertes Ereignis, über das es sich lohnte mehr als nur ein Wort zu verlieren. Das änderte sich schnell, als Don Teresio am folgenden Sonntag auch nicht zur Messe läutete. Das hatte es noch nicht gegeben. Don Teresio hatte die ganzen Jahre über niemals auch nur einen Sonntag ohne Messe verstreichen lassen. Einzige Ausnahme vielleicht, als die Landsknechte das Dorf unsicher machten und die Kirche von ihnen geschändet wurde. Aber auch wenn er das Dorf einmal verlies, so achtete er immer darauf, daß er am Sonntag wieder zurück war, um die Messe einzuläuten. Verwundert versammelte man sich den ganzen Sonntag über in mal kleineren, mal größeren Gruppen, um über den Verbleib des Pfarrvikars zu sprechen. Niemand hatte ihn das Dorf verlassen sehen. Niemand konnte etwas über sein Verbleib berichten. Am Nachmittag entschloß man sich, den Dorfältesten zu beauftragen, an Don Teresios Tür zu klopfen. Nach einigen lauten Rufen nach dem Vikar und intensiver Ermunterung seitens der Dorfbewohner, öffnete der Älteste die Tür des Pfarrhauses, trat ein und ging von einem Raum zum anderen. Don Teresio war nicht aufzufinden.
Man begann nun zu tuscheln und erste Vermutungen über den Verbleib Don Teresios aufzustellen. Zunächst vorsichtig, dann immer lauter, immer offener, immer abenteuerlicher. Vielleicht hatte er das Dorf für immer verlassen um einem Ruf nach Rom zu folgen. Aber hätte er dies nicht voller Stolz in Zardino bekannt gemacht? Oder war er gar dem Ungeheuer zum Opfer gefallen, das im letzten Jahr nach längerer Zeit der Ruhe, die Gegend der Bassa wieder unsicher machte? Jede Zeit und jede Gegend der Welt hat ihr Ungeheuer, so auch die Bassa. Das Ungeheuer, das von Zeit zu Zeit sein Unwesen in den Wäldern treiben sollte, indem es Kindern stahl und sie verschlang oder vor allem wehrlose Frauen durch sein Stampfen und Schnauben im Gehölz erschreckte, existierte in den Köpfen der Menschen dieser Gegend bereits seit hunderten von Jahren. Natürlich hatte es niemand jemals wirklich zu Gesicht bekommen. Dennoch gab es unzählige Beschreibungen seines Aussehens, seiner Untaten und Gewohnheiten, die man nur vom Hörensagen kannte, da jede Begegnung mit dem Ungeheuer für den Unglücklichen unweigerlich mit dem Tode endete. Ganz offenbar hatte es das Ungeheuer stets darauf abgesehen dem Menschen zu schaden, war ein Wesen von erheblicher Schläue und Bosheit, Hinterlist aber auch Scheu. Bald schon verhärtete sich das Gerücht, Don Teresio sei diesem Ungeheuer zum Opfer gefallen, als er unvorsichtigerweise allein in den Wald gegangen war. Man werde ihn wohl niemals wieder sehen oder allenfalls irgendwo seine Überreste finden, die von seinem Schicksal berichten würden.
Mit jedem Tag, den Don Teresio wie vom Erdboden verschluckt blieb, mehrten sich die Geschichten, die sich um sein Verschwinden rankten. Bald stellte man sich die Frage, warum das Ungeheuer ausgerechnet jetzt seinen Schlaf unterbrochen hatte, wo es sich zur Zeit aufhielt und natürlich, ob es weitere Opfer geben werde. Und als schließlich irgend jemand bemerkte, daß das Ungeheuer bereits ein Jahr zuvor aufgetaucht sei, dem Jahr, in dem die Hexe Antonia in Zardino ihr Unwesen trieb und in dem man sie verbrannte, gab es kaum ein anderes Thema mehr. Plötzlich war die Erinnerung wieder lebendig, man hatte einen Anhaltspunkt, wußte nun die Wahrheit über Don Teresios Verbleib, man hatte den Feind erkannt. Antonias schwarze Seele war zurückgekehrt. Sie hatte sich an Don Teresio gerächt, indem sie ihn an das Ungeheuer, das vermutlich ihr Verbündeter war, verraten hatte. Wen würde es noch treffen? Wer würde noch von der Untoten heimgesucht werden? Die Menschen von Zardino wurden vorsichtig, ängstlich, mißtrauisch.

Dann weigerten sich die Kühe eines Bauern das Wasser des Schwarzen Brunnens zu trinken. Zunächst machte sich nur ein leichter, dumpfer Geruch über dem Brunnen, aber auch des Wassers selbst bemerkbar. Doch schon bald stank es um den Brunnen herum stark süßlich und säuerlich zugleich, als hätte ganze Scharen von Tieren ihr Innerstes in den Brunnen entleert, die Menschen mußten einen Bogen um ihn machen, um nicht augenblicklich von Übelkeit übermannt zu werden. Das Wasser des Schwarzen Brunnen begann zu faulen. Wenig später versiegte der Weiße Brunnen und sein Becken trocknete innerhalb weniger Stunden völlig aus. Zardino geriet nun fast in Panik, es gab keinen Zweifel mehr, das Böse war zurückgekehrt.
Das Dorf war nun ohne frisches Brunnenwasser. Zwar konnte man das Wasser des Sesia zu dieser Zeit durchaus noch als Trinkwasser nutzen, aber es war doch nicht dasselbe. Die Menschen waren verwöhnt. Man mußte einen gewissen Weg gehen, um den Fluß zu erreichen und das Wasser anschließend wieder zurückschleppen. Einige Kilometer flußaufwärts gab es eine Furt, die häufig von den Menschen der Gegend zu Fuß, zu Pferd oder mit dem Karren durchquert wurde, die dabei den Fluß durch aufgewirbelten Sand trübten. Und dann war da noch der sogenannte Zuber, eine flache, von der Strömung abseits gelegene Stelle im Fluß, in der die Frauen des Dorfes die Wäsche waschen konnte ohne sie der Gefahr auszusetzen von der Strömung mitgerissen zu werden. Doch viel mehr noch beschäftigte die Bewohner von Zardino, wie das alles zusammenhing und mehr noch, wie es weitergehen würde. Don Teresio war verschwunden, il negro vergiftet, il bianco versiegt. Antonias Geist rächte sich für die erlittenen Schmerzen und ihren viel zu frühen Tod. Immer häufiger hörte man nun von unheimlichen Geräuschen im Wald, von Unglücksfällen, die zuvor kaum bemerkt worden wären, von Kindern, die nicht mehr sprechen wollten.
Und plötzlich bemerkten die Menschen, daß die Nidasios noch immer im Dorf wohnten. Sie, deren Pflegetochter als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, die seither abseits der Dorfgemeinschaft standen und fast völlig ignoriert wurden, sie rückten nun ins Zentrum der Gespräche, an denen sie sich selbst nicht beteiligten. Sie, die an der dem Sesia zugewandten Seite des Dorfes noch immer wohnten, obwohl ihnen das Dach über dem Kopf schon lange nicht mehr gehörte und die deshalb unter der Wasserlosigkeit der Brunnen recht wenig zu leiden hatten, die sich eingeschlichen hatten um den Weg für ihre verfluchte Tochter zu bereiten, die offenbar mit dem Teufel im Bunde standen im das Dorf ins Unglück zu stürzen. Das Dorf hatte nicht mehr nur einen ungreifbaren Feind, sondern die wahrlich Schuldigen saßen mitten im Dorf, spotteten über die redlichen, erfreuten und ergötzten sich an deren Verzweiflung.


3. Der Untergang

Die Christlichen Brüder ließen nicht lange auf sich warten. Es war Sonntag abend, Don Teresio war jetzt seit genau zehn Tagen verschwunden, seit vier Tagen faulte der Schwarze vor sich hin, seit zwei Tagen gab der Weiße kein Wasser mehr. Sie waren zu dritt, saßen auf Pferden, die jedermann im Dorf kannte, trugen die roten Kutten und Kapuzen mit den großen weißen Kreuzen auf der Brust und auf dem Rücken, in einer Hand eine lodernde Fackel. Nur verstohlen klappten einzelne Fensterläden einen Spalt auf um die Reiter auf ihrem Weg durch das Dorf zu beobachten. Bald waren sie auf dem Hof der Nidasios angekommen und ihr Führer und Sprecher rief nach Bartolo und Francesca.
„Hier stehen drei der Christlichen Brüder von Zardino. Bartolo und Francesca Nidasios - wir sind gekommen um Euch zu befragen, was Ihr mit den Begebenheiten zu schaffen habt, die unser Dorf in den letzten Tagen anheim gesucht haben. Tretet heraus und antwortet uns.“
Es dauerte einige Zeit, die Christlichen Brüder mußten ihren Ruf mehrmals wiederholen, dann öffnete sich langsam die Tür des Hauses und Bartolo trat heraus.
„Bartolo Nidasios – wir fragen Euch, was Ihr über den Verbleib unseres verehrten Pfarrvikars Don Teresio wißt, der seit dem Donnerstag vor der vergangenen Woche vermißt wird.“
Bartolo war kein Mensch, der sich so leicht einschüchtern ließ. Ein wenig einfältig vielleicht, aber nicht ängstlich. Obwohl er wußte, daß die Christlichen Brüder für jeden bedrohten Menschen eine große Gefahr darstellten und sie ob ihrer Taten niemals zur Rechenschaft gezogen wurden, war er dennoch entschlossen sich, sein Leben und das seiner Frau tapfer zu verteidigen.
„Nichts weiß ich über Don Teresios verbleib, nur, daß ich nicht bestürzt über sein Verschwinden bin.“
Die Brüder wechselten einen kurzen Blick.
„Haltet Eure Zunge im Zaum, Bartolo Nidasios. Wir haben nicht vergessen, daß Ihr eine Hexe in unser Dorf geschleppt habt.“
„Bah. Antonia hat niemandem ein Leid zugefügt. Nicht Euch und auch nicht Don Teresio. Und dennoch hat er sie Denunziert. Sie haben sie verbrannt obwohl sie unschuldig war. Jeder der gegen sie gesprochen hat, ist mitschuldig an ihrem Tod. Und jetzt wollt ihr auch uns beschuldigen. Uns, die wir ohnehin schon alles verloren haben und nur darauf warten auf die Straße geworfen zu werden. Was wollt ihr noch?“
Bartolo hatte sich in Rage geredet, doch die Christlichen Brüder ließen sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Bartolo Nidasios. Es besteht der Verdacht, daß Ihr den Schwarzen Brunnen vergiftet und den Weißen zum Versiegen gebracht habt. Was habt Ihr zu diesem Vorwurf zu sagen?“
Bartolo lachte ein verzweifeltes Lachen.
„Glaubt ihr wirklich, was ihr da sagt? Ich habe damit nichts zu schaffen. Sucht Euch einen anderen Schuldigen.“
Bartolo wollte sich bereits umdrehen, da rief ihn der Anführer der Christlichen Brüder noch einmal an.
„Bartolo Nidasios. So leicht kommt Ihr uns nicht davon. Wir sind überzeugt, daß Ihr wie Euer unglückseliges Mündel mit dem Teufel im Bunde steht. Ich rate Euch gut: schafft uns den Vikar wieder herbei und laßt die Brunnen wieder gutes Wasser geben. Und dann hinfort mit Euch. Sonst werden wir selbst Euch den Teufel aus dem Leibe treiben.“
Nach diesen Worten wendeten die Christlichen Brüder ihre Pferde, ritten langsam wieder vom Hof, während Bartolo ihnen noch kurz hinterher blickte. Dann verschwand er im Haus. Er wußte, daß diese Drohung ernst gemeint war. Die Christlichen Brüder kannten keine Gnade, wenn sie erst einmal Blut geleckt hatten. So mancher risaroli wurde nicht nur gejagt, aufgegriffen und wieder seinem rechtmäßigen Herrn zugebracht, sondern auch mißhandelt, verstümmelt oder gar getötet. Bartolo besprach sich mit seiner Frau. Waren sie nicht bereits am Ende? Sie hatten nichts mehr. Wohin sollten sie gehen? Sie würden unweigerlich in der Gosse landen. Vielleicht würde sie, die sie schon immer die Reisarbeiter im Sommer beschäftigt hatten, schon bald selbst als risaroli arbeiten müssen. Doch bedeutete das Verbleiben im Dorf, nun da sie von der Dorfgemeinschaft der Hexerei beschuldigt, als mit dem Teufel im Bunde verdächtigt wurden, eine lebensbedrohliche Gefahr. So blieb ihnen die Wahl zwischen zwei Übeln, von denen sie in ihrem Unglück kaum in der Lage waren zu entscheiden, welches das geringere sein sollte. Am Morgen des folgenden Tages hing vor der Tür der Nidasios, aufgehängt an den Füßen, fest geknüpft an einem Dachbalken, ein totes, schwarzes Huhn. Die Kehle war durchtrennt, das Blut vollständig herausgelaufen, die Schwelle der Tür in eine große Blutlache getränkt. Die Nidasios trauten sich nun den ganzen Tag nicht mehr vor die Tür.
Derweil versammelten sich nach und nach immer mehr Bewohner Zardinos auf dem großen Platz inmitten des Dorfes. Man tuschelte, man mutmaßte, man verdächtigte. Alle wußten es genau. Die Nidasios hatten Don Teresio getötet, ihn im Fluß ertränkt oder mit Äxten erschlagen und im Feuer verbrannt. Sie hatten Antonias Tod und ihr eigenes Unglück gerächt. Ganz sicher war Antonias Geist dabei gewesen, hatte die Brücke zu Hölle gebildet und den Teufel um Hilfe gebeten. Dann hatten sie alle, Bartolo und Francesca, der Geist Antonias und der Teufel selbst, durch allerlei Hexerei den Schwarzen vergiftet und den Weißen zum Versiegen gebracht. Man mußte diesen gottlosen Teufelsanbetern endgültig das Handwerk legen. Noch heute Nacht sollten sie brennen.
Nach Einbruch der Dunkelheit kamen sie. Diesmal waren es neun Christliche Brüder, vermutlich alle, die es damals in Zardino gab. Fünf von ihnen saßen zu Pferd, die anderen kamen zu Fuß. Dies hatte den einfachen Grund, daß es in Zardino zu dieser Zeit nur fünf Pferde gab. Die Christlichen Brüder kamen nicht allein. Viele begleiteten sie, bewaffnet mit Knüppeln, Dreschflegeln, Bohnenstangen und vielen Fackeln. Während die Christlichen Brüder auf dem Weg zum Hof der Nidasios kaum ein Wort verloren, kamen die übrigen Bewohner Zardinos mit unverholenem Geschrei. Sie riefen nach der Austreibung des Teufels, dem Tod der mit ihm verbündeten, nach Rache für Don Teresio, dem gestern noch mit Ablehnung, ja sogar Haß begegnet wurde, der heute ein Märtyrer zu sein schien. Vor dem Hof der Nidasios machten sie halt, warteten auf der Straße, gröhlend und ihre Knüppel schwingend. Nur die Christlichen Brüder wagten sich vor um dem Teufel die Stirn zu bieten. Sie riefen nach Bartolo und Francesca, die sich freilich in Todesangst verbarrikadiert hatten und sich nicht zeigten.
Es dauerte nicht lange, bis sie des Wartens überdrüssig wurden. Sie schwenkten ihre Fackeln und warfen sie schließlich unter dem Jubel der Meute auf die Scheune, die in kürzester Zeit unrettbar in Flammen stand. Noch einmal forderten sie die Unglücklichen auf aus dem Haus zu treten und sich zu verantworten. Dann wurden Ihnen von den Menschen auf der Straße weitere Fackeln gereicht, die ohne zögern auf das Wohnhaus geworfen wurden. Bald brannte auch das Haus lichterloh. Die Menge gröhlte begeistert. Es war schon fast zu spät, da öffnete sich die Tür und zuerst Francesca, schließlich auch Bartolo kamen heraus gelaufen um ihr Leben vor den Flammen zu retten. Die Menge kannte kein Erbarmen. Nun endlich wurden sie mutig, stürmten den Hof und begannen mit ihren Knüppeln, Dreschflegeln und all den anderen Mordwerkzeugen auf die beiden armseligen Kreaturen einzuschlagen. Francesca war schnell am Ende, sie lag auf dem Boden und versuchte wenigstens ihren Kopf mit den Armen zu schützen. Aber es gab kein Entrinnen, keine Gnade, nur den Tod. Bartolo konnte sich noch einmal den wütenden Bestien entziehen, nachdem er einige schwere Schläge hatte einstecken müssen, aber sie hatten jeden Fluchtweg abgeschnitten, es gab nur den Weg zurück ins Haus, wohin ihm niemand folgte. So wählte er die Befreiung durch das Feuer und starb unter schrecklichen Qualen schreiend den Flammentod, den Antonia Monate zuvor bereits hatte erleiden müssen.
Die Menge nahm die Todesschreie Bartolos kaum wahr. Sie feierte ihren Erfolg mit irrem Tanz, geriet dabei fast in Ekstase und man hörte erst auf Francescas Körper zu malträtieren, als kaum mehr erkenntlich war, daß diese leblose Masse aus Knochen, Haut und Eingeweiden einmal ein Mensch gewesen war. Als es vollbracht war, verließen die Christlichen Brüder schweigend und selbstzufrieden diesen Ort des Grauens. Ein Signal auch für die anderen Menschen. Nach und nach erstarb das Siegesgeschrei und sie begaben sich einer nach dem anderen auf den Heimweg, während das Feuer noch die halbe Nacht wütete.
Der folgende Tag war ein Tag voll entsetzlicher Ruhe. Die Menschen nahmen ihr Tagwerk wieder auf, aber sie gingen sich aus dem Weg, schauten sich kaum in die Augen, in denen sie nur ihrer eigenen Schuld ins Antlitz hätten schauen müssen. Wer an den noch qualmenden Überresten des Hofes der Nidasios vorbei gehen mußte, schlug das Kreuz, halb vor Angst vor dem Teuflischen, das nun fühlbar über diesem Ort lag, halb aus belastetem Gewissen, in der Hoffnung, daß irgendeine Macht ihnen vergeben möge.

Zardino hatte das Böse ausgelöscht. Und dennoch oder gerade deshalb war nichts wie zuvor. Wie ein Mahnmal, für alle erkennbar, blieben die Überreste des Hofes der Nidasios unverändert, da niemand diesen Ort betreten mochte um nicht verflucht zu werden. Selbst die Überreste Francescas blieben lange dort, wo man sie erschlagen hatte, das Fleisch verweste und irgendwann blitzte nur noch ein Haufen weißer Knochen auf dem verbrannten Boden, ein Bild des Schreckens.
Und Zardino? Zwar legte sich nach einiger Zeit der faulige Geruch, der aus den Tiefen des Schwarzen an die Oberfläche geströmt war, aber das Wasser des Brunnens blieb für lange Zeit ungenießbar. Und auch der Weiße gab lange Zeit kein Wasser, bis irgendwann wieder ein kleines Rinnsal aus dem Felsen sickerte, das aber kaum mehr ausreichte um den Brunnen zu füllen. Das Dorf war und blieb verflucht. Und auch die Menschen selbst waren verflucht. Die Schuld, die jeder einzelne auf sich geladen hatte, machte die Menschen einsam, mißtrauisch gegeneinander. Von Zeit zu Zeit meinte man wieder einen Schuldigen an dem Unglück identifizieren zu müssen, dann schlossen sich einige wenige zusammen und trieben den oder diejenige aus dem Dorf. Die Christlichen Brüder beteiligten sich nicht mehr an diesen Treibjagden, sondern tauchten nur noch sporadisch auf, wenn mal wieder einer der risaroli entflohen war. Nach und nach verließen die Menschen auch von sich aus das Dorf, die Höfe verfielen und als auch die letzten Alten gestorben waren, war Zardino nur noch ein dunkler Fleck in der Landschaft der Bassa, der auch von Reisenden gemieden wurde. Zardino war untergegangen.


4. Die Überreste von Zardino

350 Jahre später erinnerte kaum noch etwas an das Dorf Zardino. Kein Stein eines Hauses, keine Straße war geblieben. Der dosso und auch der daseo waren verschwunden, es gab nur noch eine grüne Ebene am Rande des Sesia.
Als man 1967 eine neue Straße durch das Sesia Tal baute, stieß man auf die Überreste eines uralten, tiefen Brunnens, der von einer etwa kniehohen Mauer umgeben war. Der Brunnen führte kein Wasser mehr. Vermutliche war er aufgrund der Absenkung des Grundwasserspiegels im Laufe der Jahrhunderte endgültig ausgetrocknet. Bei Ausgrabungen entdeckte man einen Zulauf und einen Abfluß und man fand auch ein Skelett, dessen Alter auf mehr als 300 Jahre ermittelt wurde. Man rekonstruierte, daß das Skelett bzw. der Mensch, zu dem die Knochen einst gehörten, den Zulauf des Brunnens verstopft hatte. Der Schädel des Skeletts wies mehrere Frakturen auf. Ob diese allein von dem Sturz in den Brunnen herrührten oder ob der Mensch einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, ließ sich nicht mehr feststellen. Manche Geheimnisse bleiben eben für immer ein Geheimnis.

Heute verläuft unterhalb des Monte Rosa die Autobahn, die von Venedig aus an Mailand und schließlich an Novara vorbei Richtung Aostatal führt und in unmittelbarer Nähe oder sogar direkt unter ihr, dort liegt der Flecken der einst Zardino war. Aber auch wenn der ewige Dunst einmal den seltenen Blick in die Sesia Ebene frei gibt, so erkennen wir heute nichts mehr, das von Zardino Zeugnis geben könnte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.04.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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