Ilka Schaar

Kinderkrebsstation

Sonntagmorgen, kurz vor 3.00h. Der Wecker
klingelte heute ungewohnt laut und schrill. Zumindest kam es mir so
vor, als ich schlaftrunken die Augen öffnete und zum Nachttisch langte.
Die Augen noch nicht ganz offen, der Körper von einer merkwürdigen
Lähmung überzogen und der Kopf in doppelten Ausmaßen schlich ich ins
Bad. Die letzte Nacht war mal wieder viel zu kurz, das sah man deutlich
an meinen Augen.
20 Minuten später hatte ich geduscht, die Augenringe mit eiskalten
Wasser bekämpft, was allerdings nicht sehr viel brachte, die Klamotten
an und schnell noch eine Scheibe Brot vernichtet, klingelt es auch
schon an der Tür, wie jeden Morgen.
"Guten Morgen, na, gut geschlafen?" tönte mir die piepsige Stimme
meiner Kollegin Andrea entgegen. Nein! Jeden Morgen diese grausame
Fröhlichkeit! Das war mir heute zu viel. "Nein, wie soll man in 3
Stunden ausschlafen?" fuhr ich sie mir übelster Laune an. "Oh, ich
merke schon, Du warst wieder unterwegs. Okok, ich bin besser still, bis
Du Deinen ersten Kaffee hast." sagte sie kleinlaut und ungewohnt leise.
"Danke, ich habe wirklich schlechte Laune, ist vielleicht besser. Sei
mir nicht böse." erwiderte ich schon etwas gedämpfter.

3.45h standen wir wie jeden Morgen pünktlich vor der Kinderkrebsstation
in Hamburg Eppendorf, an der Uniklinik, kurz UKE. Marek, Aische und
Jannina kamen ca 10 Minuten nach uns an. Wir waren eine prima Truppe,
selten habe ich in einer Putzkolonne so schnell, genau und sauber
arbeiten können. Die 2 Jahre der Zusammenarbeit machte uns fast
unschlagbar.
Ein leises Trappeln auf dem Flur signalisierte uns, das wir gleich
anfangen müssen. Erster Gedanke: 'Kaffee!' Die Tür ging auf und wie
immer begrüßte uns Oberschwester Heidi mit einem düsteren Gesicht.
"Guten Morgen. Auf der D heute nichts putzen, die ist isoliert." Ich
nickte ihr ein 'ok' entgegen und wir gingen schnurstracks in unsere
"Umkleide", wenn man diesen Abstellraum so nennen darf. Dort stand, wie
immer, eine volle Kanne schwarzer, heißer Kaffee. Ohne ein Wort zu
sagen standen wir alle mit einem Becher Kaffee in der Hand um die
Putzwagen. Langsam konnte ich meine Augen ganz öffnen, denn so richtig
hatte ich mich an das Licht noch immer nicht gewöhnt. Mein Kopf
brummte, als hätte ich die letze Woche durchgemacht. 'Hilft alles
nichts.' dachte ich mir und griff zu meinem Kittel, zog mir die
Handschuhe an, schnappte mir meinen Wagen und zog los, Richtung Station
C, wo die Kinder lagen, die dem Tode geweiht waren. Also ich um die
Ecke sah, fehlte mir etwas. Ein kleines Mädchen, Jaquline, wartete
sonst jeden Morgen sehnsüchtig auf meine Anknuft. Sie war gerade mal 9
Jahre alt und hoffnungslos krank. Leukemie im Endstadium. Sie stand
ständig unter Tabletten, die Chemo hatte ihr übel zugesetzt. Keine
Haare auf dem Kopf und auch sonst wirkte sie immer eingefallen, aber
dennoch immer froh und munter, das bewunderte ich so an ihr. Ich hatte
sie sehr ins Herz geschlossen. Ihr Schicksal war härter als es ein
Mensch überhaupt verdient. Ihre Eltern waren kurz nach ihrer zweiten
Chemo bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ihre Tante interessierte
sich nicht für sie - sie stand ganz alleine auf dieser Welt und hatte
das Krankenhaus als Zuhause akzeptiert. Schon 4 Jahre ihres Lebens
verbrachte sie hier. Aber heute stand sie nicht dort. Ich sah mich um
und niemand schien auf Station zu sein. Vorsichtig öffnete ich eine
Zimmertür, um zu sehen, ob die Kinder da sind. Die Kinder waren da, mir
fehlte nur Schwester Angelika, die mir sonst immer meine Anweisungen
gab, wo ich hin muss und wo nicht. Eine fast gruselige Stille. Mir
trieb es die Gänsehaut über den Körper. Ganz langsam - von oben nach
unten. Ich schüttelte mich kurz, um wieder zur Besinnung zu kommen.
Das Wischwasser angemischt, den Wischer in der Hand und im Kopf noch
immer die schrecklichsten Befürchtungen, was mit Jaquline sein könnte.
Ich fing meine Arbeit an. Das schlimmste war immer der Flur, der
scheinbar von Tag zu Tag länger wurde. fast 500m Linoleum. Von links
nach rechts - von recht nach links. Plötzlich zuckte ich zusammen, ein
ohrenbetäubendes Klirren über den totenstillen Flur hallte. Ich sah
mich um. Dort stand Schwester Angelika. Auf dem Boden vor ihr ein
Tablett mit zerbrochenen Ampullen. Sie sank weinend zusammen. Ich ging
zu ihr hin, um sie zu beruhigen, wobei ich mich innerlich fragte, was
sie wohl hat, denn so schlimm ist der Verlust von ein paar Ampullen
doch nicht.
"Geli, guten Morgen. Was ist denn los?" fragte ich sie. "Die kleine
Jaquline... sie ist.... sie wird bald...." mehr bekam sie nicht raus,
als sie wieder in Tränen ausbrach. Ich nahm sie in den Arm und
versuchte sie zu beruhigen. Eine Weile später hörte sie auf zu weinen
und begann, die Scherben aufzusammeln. "Lass doch, ich komm gleich mit
dem Wischer" sagte ich zu ihr und brachte sie erstmal ins
Schwesternzimmer. Ich setzte sie auf einen freien Stuhl, stellte ihr
einen Kaffee hin und sagte ihr, sie solle sich erstmal beruhigen.
Neugierig und betroffen fragte ich sie noch, wo Jaquline denn sei.
"Drüben auf der C1, Zimmer 9. Ich lies den alles stehen und ging rüber
zur C1. Ich stand noch einige Minuten vor der Tür, bevor ich sie
öffnete. Ich kämpte mit den Tränen, die Jaquline auf keinem Fall sehen
sollte. Ich ging hinein. Jaquline schien zu schlafen. Ich ging zu ihrem
Bettchen, welches liebevoll mit Teddybären und Puppen übersäht war. Da
stand ich nun, starrte zu ihr runter und kämpte wieder mit den Tränen.
Sie schlug die Augen auf und sah mich an. "Nicht weinen" sagte sie und
lächelte mich an. Ich konnte nicht anders. Ich nahm sie in den Arm und
begann zu weinen. Sie tröstete mich und meinte, es sei doch nicht so
schlimm, sie hätte eh niemanden auf der Welt, der sich um sie kümmerte.
Mir fehlten die Worte. Wir schwiegen und sie hielt mich im Arm, soweit
sie noch konnte. Seit zwei Jahren sah ich Tag für Tag, wie sie
schwächer wurde. Aber ich sah auch, wie sie nie den Mut verlor und
immer strahlend und fröhlich über die Gänge huschte. Oft habe ich sie
tagsüber besucht, wenn die anderen Eltern mit ihren Kindern spielten
saß ich mit ihr in einer Ecke uns laß ihr Geschichten vor. In Gedanken
vertief fragte sie mich plötzlich "Elayne? Tut sterben eigentlich weh?"
Ich sah sie an und sah der erste mal Tränen in ihren Augen. "Nein"
sagte ich. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. "Bald werde ich
es wissen." sagte sie und lächtelte mich wieder an. Doch diese Leere in
ihren Augen werde ich nie vergessen. Sie schloss die Augen und sank in
einen tiefen, nie endenden Schlaf. Ich drückte sie fest an mich und
sagte ihr ein letzes mal, das ich sie nie vergessen werde.

© bei mir, Ilka Schaar

2003

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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