Jana Meyer

Das Mädchen im Regen



Der
Regen prasselt. Er fiel und hörte nicht auf, zu fallen. Seit Stunden schon.
Seit Tagen lief das Wasser die nassen Straßen entlang und sammelte sich in den
immer breiter werdenden Pfützen, die wuchsen und den Asphalt unter sich
ertränkte. Bäche wurden zu Flüssen. Teiche zu Seen. Seen zu Meeren. Der Himmel
öffnete seine Schleusen und ungehalten tropfen die Engelstränen von den Wolken,
die dunkel und schwer am Firmament hingen. Der Regen spülte den Schmutz von den
Wänden der Häuser, die losen Blätter vom Rasen, die Wärme aus der Luft. Der
Himmel beweinte die Menschen, die achtlos an allem vorübergingen, das nicht mit
Geld zu messen war. Das keinen Wert besaß, den man kaufen konnte.


Er
betrachtete traurig die zarten Blumen, die mit zerfetzten Blüten auf dem Weg
lagen, den er jeden Tag ging. Egal, ob die Sonne schien. Egal, ob es regnete.
Egal, ob es schneite. Er war immer hier, schritt langsam an den Blumen entlang
und redete mit dem Wind. Wenn es regnete, dann lächelte er nur traurig.
Manchmal bückte er sich und berührte die toten Blumen, die auf den Beeten
lagen, ertrunken in ihrem Lebenssaft. In solchen Moment fühlte er sich einsam.
Wenn dann noch Menschen an ihm vorbeihetzten, ohne ihn zu beachten oder ihn
anzurempeln und mit Flüchen zu überschütten, dann fühlte er sich noch einsamer
und älter, als er eigentlich erst war. Dann war er vor seinen Augen ein alter
Greis, der zu nichts nutze war. Dabei war er erst zwanzig. Vielleicht ein wenig
jünger. Das wusste er selbst nicht so genau. Irgendwann hatte er aufgehört zu
zählen. Seinen Geburtstag hatte er vergessen.


Er
hielt seinen Schirm über eine kleine Blume, die noch aufrecht zwischen ihren
zerstörten Brüdern und Schwestern stand. Kleine Wassertropfen perlten von ihren
Blütenblättern und fielen lautlos auf die nasse Erde, um später mit dem Meer zu
wandern. Er fuhr sanft mit den Fingern über ihre Blüte. Dann brach er sie.
Einfach so. Ohne Zögern. Ohne Reue. Er hatte Mitleid mit dieser kleinen
Pflanze. Seine Geschwister zu sehen, wie sie tot waren, war sicher nicht schön.
Die Blume musste sehr gelitten haben. Er hatte sie befreit. Er konnte nur
ahnen, wie es war, wenn man eine Familie besaß. Die Menschen kamen und gingen,
selten lächelten sie. Doch er blieb immer allein. Er wusste nicht, was es
bedeutete, mit einem Menschen zu sein. Ein paar Mal war er auf sie zugegangen,
hatte versucht in ihre Gemeinschaft zu treten. Aber man konnte ihn nicht mit
dem Geld vergleichen, das ihnen so wichtig war. Seitdem fühlte er sich nicht
nur einsam. Er war einsam. Allein.


Also
ging er weiter den Weg entlang. Trauernde Blicke für die abgeknickten Pflanzen.
Sehnsüchtige Blicke für die Menschen. Nichts sagenden Blicke für sich selbst.
Hier und da kämpfte noch eine kleine Blume gegen die Wellen, die sie umbrachten.
Einige verloren schnell den Kampf. Anderen half er. Sie sahen so hilfebedürftig
aus. Er konnte sie weinen hören. Und schreien. Also half er ihnen.


Wenige
Schritte noch bis zu der Bank, wo er immer ruhte. Das lackierte Holz war nass
und roch neu. Sie hatten sie weggeholt und gegen eine andere ausgetauscht.
Gegen eine Neue. Alt gegen neu. So war das Leben. Als er zwischen den Bäumen
hindurch sah, konnte er schon ihre nassen Haare sehen. Das Mädchen. Es war
wieder da. Wie jeden Tag. Ob die Sonne schien oder es regnete oder es schneite.
Sie war immer da. Er setzte sich neben sie und seufzte dabei. Es würde eine
Weile dauern, bis er sich an die neue Bank gewöhnt hatte. Die alte war doch so
schön gewesen. Hatte nicht mehr so gefunkelt wie die Jetzige. Aber sie hatte so
gut zu dem Park gepasst, der ab und zu ein wenig alt war. Manche Dinge ließen
sie so, wie sie waren. Das Mädchen hatten sie auch noch nicht vertrieben.


„Es
ist komisch auf der Bank zu sitzen.“, sagte sie leise und sah in den Vorhang
aus Regen.


„Mmh.“


„Ich
würde gerne die Alte wiederhaben wollen.“


„Mmh.“


„Du
auch?“


Er
nickte leicht. Sie hatten noch nie miteinander gesprochen. Es war das erste
Mal. Es gab immer ein erstes Mal. Bei so vielen Dingen. Es war dann immer etwas
Besonderes. Doch ihre Worte waren etwas anderes. Sie waren unglaublich. Fast
wie ein Wunder. Und er lächelte sanft.


„Ich
beobachte dich schon eine Weile.“, sagte das Mädchen und jetzt sah sie ihn an.
Sie lachte. Aber ihre grauen Augen waren leer und stumpf. Er drehte langsam
seinen Kopf zu ihr. Er konnte sich nicht darin spiegeln.


„Ich
bin oft hier.“, antwortete er.


„Ich
weiß. Fast jeden Tag, stimmt’s?“


„Kann
sein.“


„Du
bist nicht gerade gesprächig.“, bemerkte sie und er wurde ein wenig rot. Dann
strich sie sich eine ihrer nassen Strähnen aus dem Gesicht, an dem der Regen
herunterlief.


„Ich
habe niemanden, mit dem ich reden kann. Manchmal glaube ich, ich habe das
sprechen verlernt.“


„Aber
man kann doch das sprechen nicht verlernen.“


„Scheinbar
schon.“


„Das
wäre aber Schade.“, meinte sie mit einem Lächeln. „Du hast eine so schöne
Stimme.“


„Mmh.“


„Du
siehst sehr einsam aus. Geht denn niemand mit dir spazieren?“, wollte das
Mädchen wissen.


„Du
bist doch auch immer alleine.“


„Das
ist eine lange Geschichte.“


„Ich
habe Zeit.“, entgegnete er.


„Aber
auf dich wird sicher jemand zu Hause warten?“


Er
sah sie nur traurig an. „Auf mich wartet niemand. Ich bin allein.“


„Das
tut mir Leid.“


„Ich
habe auch niemanden.“


„Dann
haben wir etwas gemeinsam.“, sagte er und sie lachte.


„Aber
man sollte schöne Dinge zusammen haben, meinst du nicht?“


„Mmh.
Schon möglich. Darf ich dich was fragen?“


„Aber
natürlich. Ich frage dich doch auch.“ Sie hielt ihr Gesicht in den Regen.


„Warum
sitzt du immer hier?“


„Warum
nicht? Du bist doch auch hier.“, stellte sie als Gegenfrage.


„Aber
es muss doch einen Grund haben.“


„Vielleicht.
Ich weiß es nicht. Ich bin gerne hier. Ich warte auf jemanden, der mich
abholt.“


„Und
auf wen?“


„Das
weiß ich nicht.“


„Ich
muss jetzt gehen.“, sagte er mit einem Blick auf die Uhr. Es war schon spät.
Die Wolken hatten sich ein wenig gelichtet. Die untergehende Sonne zog einen
roten Streifen am Himmel. Er stand auf und ging. Ließ sie einfach sitzen. Sie
sah ihm nach und fragte sich, ob sie ihn morgen wieder sehen würde. Er redete
nicht viel. Aber sie fühlte sich dann nicht ganz so einsam. Manchmal war sie
sehr allein. Sie glaubte, dass es ihm genauso ging.


Sie
saß wieder auf der Bank. Drei Tage später. Im Regen. Allein. Er war nicht mehr
gekommen. Dabei hatte sie es so sehr gehofft. Das Wasser tropfte auf ihren
Kopf, rann an ihren Haaren in ihre Kleidung. Doch sie stand nicht auf. Sie
blieb einfach sitzen. Vielleicht kam er noch. Der Tag wandte sich zum Abend.
Sie war noch immer allein. Er kam nicht. Es wurde dunkel und langsam verließen
sie der Mut und die Hoffnung. Sie schloss die Augen und wischte sich über das
Gesicht. Keine Ahnung, ob sie weinte. Der Regen spülte alles fort. Dann hörte
er plötzlich auf. Als sie aufsah, stand er neben ihr und hielt ihr den Schirm
über den Kopf. Das erste Mal.


„Hast
du die ganze Zeit gewartet?“, fragte er.


Sie
nickte.


„Ist
jemand gekommen, der dich holt?“


Das
Mädchen schüttelte den Kopf.


„Darf
ich dich dann mitnehmen?“


Sie
strahlte.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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