• 31.08.2005
  • Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)
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Cathrine Tuschar

Verbale Hinrichtung?

Mit jedem hier aufgeschriebenen Buchstaben begehe ich eine ungeheure Freveltat – ich zerstöre hiermit die Reinheit eines weißen Blattes.
Bevor man zu schreiben beginnt einmal mit der Handfläche darüber streichen und spüren wie klar, makellos und vollkommen das Blatt sich unter ihr wölbt…
Und dann nimmt man ihm jene Unschuld, nichts von der Schlechtigkeit der Welt zu wissen.
Ein Mord, weil man glaubt, sich anmaßen zu können, dass seine Gedanken derart wichtig seien, dass man aufgrund ihrer Wichtigkeit guten Gewissens einem anderen Wesen das Leben nehmen kann.
Manche werden sagen: „Dadurch, dass man ein leeres Blatt beschreibt, haucht man ihm erst Leben ein. Dadurch gewinnt es eine eigene Persönlichkeit, wird zu etwas Besonderem, Einzigartigem“.
Doch schaut euch an, wie viele Blätter täglich beschrieben werden, nur um im Müll zu landen – beschrieben, durchgestrichen, aufgrund Platzmangels zerknüllt und entsorgt.
Das Blatt landet dann bei anderen Blättern.
Es wird zerkleinert und neu zusammengefügt. Unzählige Einzelindividuen fanden den Tod, um eine neue Art von Blatt entstehen zu lassen – ein seelenleeres Blatt ohne jegliche Aussagekraft, denn unzählige Meinungen treffen aufeinander und unzählige Stimmen löschen sich gegenseitig aus. Doch wen interessiert dies?
So viel Großartiges wird tagtäglich überall auf der Welt geschrieben, doch nie gelesen.
So viel wird gelesen, verschlungen, verehrt, als Weisheit in die Welt getragen oder als Dummheit abgetan und zerrissen, doch,
so sehr auch geschätzt oder kritisiert – es bleiben aufgeschriebene Gedanken.
Nur wenn sich jemand die Mühe macht, es zu lesen und zugleich zu überdenken, zu verarbeiten und mit dem Herzen zu begreifen, wurde das beschriebene Blatt in seiner Hand wahrhaftig und gewann an Wert. Denn dann vermischen sich Reinheit und pure Bosheit,
Unschuld und die Schuld andere Menschen zu beeinflussen, andere zum Denken zu bringen.
Mehr als je zuvor wünsche ich mir, schuldig zu sein!

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