Horst Dreizler

Hungergeschichte

Im Hungerjahr 1633 als die Menschen nach einem sibirischen Winter auch noch durch Heuschreckenschwärme ihre Ernte verloren und die lumpigen Kleider mehr klapprige Knochen als Fleisch verbargen , gelang es dem Wanderschreiber Kornelius Fintmann nach wochenlangem zermürbendem grübeln eine Geschichte zu erfinden, die man essen konnte und die satt machte.
Fintmann, selbst abgemagert, hohläugig und mit spitzem Kinn, führte in einem Selbstversuch mehrere Lesungen durch und bereits nach dem ersten Durchgang war das drohende Wolfsknurren des Magens verschwunden und nach einer Woche wich das spitze Kinn sanften Rundungen mit einem Grübchen und sah aus wie ein kleiner Arsch.
Kornelius Fintmann jubilierte, war ihm doch gelungen, was Generationen von Magiern und Gelehrten verwehrt blieb.
Er zog los, zunächst über kleine Jahrmärkte und Dörfer , wurde jedoch bald in grosse Städte und Residenzen eingeladen, w:o er überall seine sättigenden Vorlesungen hielt.
Fragte man die Menschen hinterher, was sie denn da gehört hätten, keiner konnte es sagen, aber alle verspürten diese Sattheit und träge Zufriedenheit.
Fintmann erzählte seine Geschichte aus dem Kopf, aber flinke Schreiber fertigten Mitschriften an und schon bald kursierten massenhaft Kopien , die Bevölkerung wurde fetter und Hunger zu einem Fremdwort.
Dies gefiel anfangs auch König und Fürsten, waren doch die drohenden Hungeraufstände abgewendet und das Volk ruhig.
Doch kein Mensch wollte mehr arbeiten, alle lagen zu Hause herum, lasen sich die Geschichte vor und wurden fetter und fetter.
Die anfänglich niedlichen Grübchen am Kinn der Menschen gingen nun nahtlos in wabbelnde Hängebacken über, die Gesichter sahen aus wie riesige Ärsche und sie redeten nur noch in einer belanglosen Fäkalsprache.
Kurz bevor das Reich in einer einzigen Kloake endete, schritten König und Adel, die einzig Schlanken, weil nie Hungrigen, ein.
Per Dekret verboten sie die Geschichte des Kornelius Fintmann, liessen alle Abschriften einsammeln und verbrennen.
Der Verfasser selbst musste unter Bewachung seine Geschichte rückwärts lesen und nahm dabei so rasend schnell ab, dass man ihn bald aus den Augen verlor.

...und die Moral von der Geschichte?

Du darfst alles schreiben, Geschichten der Liebe, des Hasses, über Tod und Elend, über Glückseligkeit...auch verbotene Geschichten.
Aber du darfst niemals eine Geschichte schreiben, die satt macht!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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