Eva Markert

In einem anderen Leben

 Marilen fuhr aus tiefem Schlaf hoch. Im Zimmer roch es anders.
Und da war noch etwas: Stille. Kein gleichmäßiges Atmen, kein leises Schnarchen. Ihre Hand glitt über die Bettdecke zu Gerhards Seite und griff ins Leere.
Ihr Herz begann zu stolpern. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen konnte sie Mondlicht erahnen. Aber das Fenster befand sich auf der falschen Seite.
„Es ist nur ein Traum“, sagte sie sich. „Gleich wache ich auf.“
Vorsichtig streckte sie die Hand aus, suchte eine Nachttischlampe und stieß etwas um. Wahrscheinlich ein Plastikgefäß mit Wasser, denn ihre Finger wurden nass. Aber wie war der Becher auf ihren Nachttisch gekommen? Und noch etwas Merkwürdiges ertastete sie: eine Brille.
 Marilen stöhnte. „Ich will endlich aufwachen.“
 Die Decke klebte an ihrem Körper. Sie befreite sich, wollte sich auf den Bettrand setzen. Doch das ging nicht, da war eine kalte Wand.
„Gerhard!“, rief sie. „Hilf mir! Wo bin ich?“
Es kam keine Antwort.
 Marilen schwang die Beine zur anderen Seite aus dem Bett, ihre Füße fanden Pantoffeln, die ihr fremd vorkamen.
 Sie konnte kaum atmen. Die Luft schien auf halbem Wege im Brustkorb stecken zu bleiben.
Endlich berührten ihre Finger einen Schalter. Licht flammte auf, so grell, dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Durch die Schlitze konnte sie nur verwischte Konturen und farbige Flecke erkennen. Ohne nachzudenken griff sie nach der Brille und setzte sie auf. Sofort wurden die Umrisse scharf.
 Marilen begann am ganzen Körper zu zittern. Der Raum, in dem sie sich befand, war ihr völlig unbekannt. Sie liebte helle Möbel, aber der Schrank, der Nachttisch, die Regale, alles war aus dunklem Holz. Am Fußende des Bettes lag ein dunkelblauer seidener Morgenmantel, der ihr nicht gehörte.
 Plötzlich näherten sich Schritte.
Sie löschte das Licht, warf sich aufs Bett und wagte nicht mehr sich zu rühren.
 Draußen wurde es wieder still. Angestrengt lauschte sie in die Finsternis, bis sie darin versank.
 Nach dem Abendessen schrieb Marilen in ihr Tagebuch.
 Heute Morgen habe ich Gerhard erzählt, dass ich nachts in einem anderen Leben aufgewacht bin. Er hat gelacht und gesagt: „Du hast eine seltsame Art, von einem Traum zu sprechen.“ Dabei hat er meine Hand getätschelt. Neuerdings tätschelt er mich nur. Früher hätte er mich auf den Mund geküsst.
 Nachmittags saß ich im Park unter den Bäumen. Es war so mild und sonnig. Alles blühte, die Vögel sangen. Renate hat mir meinen Kaffee und Kuchen draußen serviert. Sie ist eine Perle.
 Beim Abendessen habe ich Gerhard nicht gesehen. Es war wie immer viel Besuch da. Ich musste mich allein um die Gäste kümmern. Aber das macht mir nichts aus.
 Jetzt bin ich sehr müde.
 Marilen erwachte schlagartig, so als hätte man einen Schalter umgelegt.
 Der fremde Geruch, die Stille, die kalte Wand, das Fenster auf der falschen Seite – alles war wie letzte Nacht.
 „Ich bin wieder in dem anderen Leben“, dachte sie.
Ihre Hand fand den Lichtschalter sofort. Es war dasselbe Zimmer. Auch den blauseidenen Morgenmantel am Fußende des Bettes erkannte sie.
Vor der Tür hörte sie Scharren und leise Stimmen. Hastig knipste sie die Lampe aus.
Marilen lag in der Dunkelheit und dachte nach. Warum war Gerhard nicht bei ihr? Genauer gesagt: nicht mehr bei ihr? Sie gähnte. Warum ...? Was ...?
Heute habe ich Gerhard nicht gesehen. Wahrscheinlich hatte er wieder so viel zu tun.
Den ganzen Tag habe ich gemalt. Es war wie ein Rausch. Noch nicht einmal an die Mahlzeiten hätte ich gedacht. Aber Renate hat mich daran erinnert. Die Gute! Sie ist immer so besorgt um mich.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das Ölbild vor mir. Atemberaubend. Eine flammendrote Mohnblüte mit tiefschwarzen Sprenkeln in der Mitte. Über die ganze Leinwand. Sie hat sich geöffnet, wartet auf einen Mann, um ihn zu verschlingen.
Das Malen hat mich sehr müde gemacht.
Marilen wunderte sich nicht, als sie mitten in der Nacht wieder in dem anderen Leben erwachte. Ihr Mund war trocken, die Zunge wie Pappe. Sie griff nach dem Becher auf ihrem Nachttisch. Die Flüssigkeit, die ihre Kehle hinunterrann, war lauwarm und schmeckte eigenartig, ein bisschen wie Medizin.
Sie verkroch sich tief unter die Decke. Regen prasselte gegen das Fenster auf der falschen Seite.
Marilen grübelte: „Wann lebe ich wirklich? Am Tag oder in der Nacht?“ Diese Frage machte sie so unruhig, dass sie nicht mehr einschlafen konnte.
Sie knipste die Nachttischlampe an und blinzelte. Aber sosehr sie ihre Augen auch anstrengte, die Konturen blieben verschwommen. „Seltsam“, dachte sie. „Tagsüber kann ich sehen, nachts nicht.“
Erschöpft schaltete sie das Licht wieder aus. Die Finsternis tat ihr gut.
Heute hatte Gerhard endlich mal Zeit für mich. Eine Stunde oder länger haben wir geplaudert. Natürlich habe ich mich hübsch gemacht für ihn: meine Locken hochgesteckt, auch meine Kontaktlinsen eingesetzt. Ich trug mein rotes Kleid mit den schwarzen Sprenkeln, das mir so gut steht. Als ich ihm gegenübersaß, habe ich meine Augen blitzen lassen und ab und zu meine Lippen mit der Zungenspitze befeuchtet.
Ich weiß, dass er mich begehrt. Wenn ich ihn verlasse, gehe ich extra langsam zur Tür und wiege mich dabei in den Hüften. Seine Blicke spüre ich im Rücken wie viele glühende Punkte.
Heute habe ich die ganze Zeit nur an ihn gedacht.
Aber nun muss ich ins Bett.
Marilen lag mit offenen Augen in der Dunkelheit. Sie war besorgt. Nicht, weil sie wieder in dem fremden Zimmer erwacht war, daran hatte sie sich inzwischen gewöhnt. Nein, sie machte sich Gedanken wegen Gerhard. Betrog er sie? Wahrscheinlich. Da waren so viele andere.
Plötzlich fuhr sie hoch. Die ganze unfassbar schreckliche Wahrheit brach über sie herein. Nun erinnerte sie sich, was Gerhard bedrohte. Bedroht hatte. Warum er nicht mehr neben ihr lag. Gerhard war tot. Und sie hatte ihn getötet.
Marilen schlug die Hände vor das Gesicht. Sie weinte, bis sich das graue Licht des Morgens in ihr Zimmer stahl.
Letzte Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen, hatte schlimme Träume. Den ganzen Tag fühlte ich mich elend. Deshalb bin ich heute nicht aufgestanden.
Gerhard ist einmal kurz vorbeigekommen, um nach mir zu sehen.
Renate, die treue Seele, hat mir mein Essen ans Bett gebracht. Aber ich habe nichts angerührt.
Es ist noch früh. Die rotglühende Abendsonne lauert hinter den Fensterscheiben. Das macht mir Angst.
Ich kann nicht weiterschreiben.
Unruhe quälte Marilen wie ein Juckreiz. Ein Verlangen erfüllte sie, das sie nicht erklären konnte. Sie spürte, sie musste es um jeden Preis befriedigen, doch sie wusste nicht, wie.
Mit einem Mal begriff sie, was sie umtrieb, und es schüttelte sie wie ein elektrischer Schlag: Es war die Gier nach einem Mann. Nach einem Mann und seinem Lebenssaft. Nach Gerhard, dessen Leben sie in sich eingesaugt hatte, als sie ihn liebte.
Marilen konnte nicht länger liegen bleiben. Sie setzte sich auf die Bettkante, riss sich das Nachthemd vom Leib und streifte den Schlüpfer ab. Sie wollte Luft auf ihrer nackten Haut spüren. Sie stöhnte leise, während sie Arme und Beine reckte. Dann erhob sie sich, stemmte die Hände in den Rücken, schob ihren Unterleib vor und schritt langsam im Zimmer auf und ab.
Ein Succubus war sie, ein weiblicher Dämon, verführerisch, unwiderstehlich. Und tödlich. Ein Wesen, das Männer verschlang.
Sie öffnete die Vorhänge weit. Zwischen den Bäumen bewegte sich etwas. Eine Gestalt. Nun war der Schatten verschwunden. Gleich würde Gerhard bei ihr sein.
Sie wollte sich schön machen für ihn.
Im Spiegel schwamm nur ein breiiger Fleck. Sie trat so nah heran, dass sie mit der Nasenspitze das kalte Glas berührte. Ihre Augen weiteten sich. Das war nicht sie! Die Frau im Spiegel hatte weiße Haare. Marilen griff sich mit beiden Händen an den Kopf, doch sie spürte keine Locken zwischen ihren Fingern, keine feste Fülle, nur dünne Strähnen.
Hastig stolperte sie zum Nachttisch und setzte die Brille auf. Eine Unbekannte sah ihr aus dem Spiegel entgegen. Falten durchzogen das weiße Gesicht, die Wangen waren eingefallen, die fadendünnen Lippen blassbraun.
Sie schaute an sich herunter, auf hängende Brüste, Beckenknochen, die kantig hervorstaken, auf schlaffes Fleisch und wellige Oberschenkel.
Sie ächzte, ihr Mund war so trocken, dass sie nicht mehr schlucken konnte. Sie griff nach dem Becher auf ihrem Nachttisch, ihre zitternden Hände verschüttete den Inhalt. Etwas fiel klappernd zu Boden. Sie hob es auf. In ihrer Hand lag ein Gebiss.
Marilen schrie. Sie wollte sofort aufwachen, aus dem Leben der Greisin zurückkehren in das Leben der jungen Frau, die sie in Wirklichkeit war.
Doch sie wachte nicht auf. Ihre Schreie wurden lauter, schriller, die Stimme überschlug sich.
Die Tür wurde geöffnet. Gerhard und ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte, traten ein.
„Gerhard“, kreischte sie. „Gerhard, Gerhard!“
Sie schlug und trat um sich, als die beiden sie aufs Bett zwangen. „Lasst mich! Flieht! Rennt um euer Leben! Ich bin ein Succubus.“
Ihr Schreien ging in ein Jaulen über, als sie den Stich spürte. Danach konnte sie nur noch wimmern.
Marilen hörte angestrengt zu.
„Ich bin mit ihrer Krankengeschichte nicht vertraut.“ Das war der andere. „Wieso nennt die Patientin Sie Gerhard?“
„Sie verwechselt mich mit ihrem Ehemann. Er war ein sehr wohlhabender Industrieller.“
„Und was ist mit ihm?“
„Tot. Herzinfarkt, während sie ihn oral befriedigte.“
„Ich verstehe“, sagte der Fremde. „Daher rührt ihre Wahnvorstellung, ein Succubus zu sein.“
Die Geräusche schienen sich von ihr zu entfernen, schwollen wieder an, hallten in ihrem Kopf, lullten sie ein. Doch Marilen wehrte sich. Sie wollte noch nicht einschlafen.
„Sie war schon immer sehr labil“, hörte sie Gerhards Stimme, „und nach dem Tod ihres Mannes brach sie völlig zusammen. Sie ist seit Jahren hier untergebracht. Aber sie glaubt, immer noch in der Villa zu sein, wo sie früher gelebt hat.“
Marilen begriff, sah für einen Augenblick ganz klar.
Dann war ihre Kraft aufgezehrt. Sie gab nach und ließ beide Leben hinter sich.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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