In
der Straße vom kleinen "Püppi" wohnten viele
Kinder, die gerne miteinander spielten und von den größeren
Jungen und Mädchen in Obhut genommen wurden. So lernten die
Kleinsten alles von den Großen. Eigentlich hieß Püppi
aber "Siegfried" und war ein niedlicher, aufgeweckter
kleiner Junge, den sie einfach so nannten. Er hatte rötliche,
lockige Haare und konnte sich geschickt so mancher morgendlichen
Kammprozedur entziehen, indem er einfach weglief und sich draußen
zu den Kindern gesellte. Auch das Rufen der Mutter aus dem zweiten
Stock nutzte nichts, denn er ergriff schnell die Hand eines größeren
Spielkameraden und rief schelmisch nach oben: "Mama, ich spiel
doch gerade so schön!" Und welche Mutter kann da noch böse
sein?
Die
Vorweihnachtszeit, so hieß es, sei die schönste Zeit für
kleine Kinder, denn dann wäre der Weihnachtsmann auch nicht mehr
weit. Für die bösen Kinder trägt er eine Rute mit sich
und so manches, größere Kind hat diese schon auf dem
Hinterteil zu spüren bekommen.
Jedesmal,
wenn Püppis Großmutter bei solchen Gesprächen dabei
war, sagte sie barsch: "Es gibt keinen Weihnachtsmann!"
Solche
Aussprüche waren für Püppi nichts neues, aber er
bemerkte, dass die Erwachsenen fast erschrocken zu ihm
herunterschauten und erneut vom Weihnachtsmann sprachen, der bald
kommen würde.
Einmal
hörte Püppi, wie die größeren Kinder sich
unterhielten. "Glaubst du noch an den Weihnachtsmann?",
fragte Sven und Timo antwortete empört: "Das tue ich schon
lange nicht mehr, bin doch kein kleines Kind!". Die anderen
Kinder schienen sich über die Frage zu amüsieren. Nur das
kleine Mädchen, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite
wohnte, sagte mit leiser Stimme: "Ich glaube an den
Weihnachtsmann, denn letztes Jahr war er bei uns in der Wohnung und
hat mir Geschenke gebracht!" Wie aus einem Mund fragten die
größeren Jungen und Mädchen nun den kleinen Püppi:
"Glaubst du denn an den Weihnachtsmann?" Wieso fragen die
mich, dachte er im Stillen. "Bei mir hat sich noch keiner
blicken lassen," erwiderte er selbstbewusst. "Sicher wird
er dieses Jahr kommen!" "Ja, ja, ganz bestimmt!",
bestätigten die erfahrenen Kinder, denn sie wussten, dass der
Onkel Walther aus der Nebenstraße jedes Jahr den Weihnachtsmann
spielte.
Eines
Mittags bemerkte Püppis Mutter: "Heute kommt der Onkel
Walther zu uns zum Essen, da musst du dich anständig benehmen
und ganz artig sein!" "Oha, da gibt's was zu lachen",
sprudelte es aus dem kleinen Kerlchen hervor, denn er war schon oft
dabei gewesen, wenn alle Kinder der Straße zusammengekommen
waren um Onkel Walthers lustigen Geschichten zu lauschen. Im Sommer
saßen sie in seiner alten runden Laube im Garten und zur
Winterzeit warm und gemütlich vor einem Ofen in seinem etwas
schiefen Holzhaus.
Während
die Mutter mit Kochen beschäftigt war, sah Püppi gespannt
aus dem Fenster. Endlich kam der Onkel schlurfend die Straße
entlang und wurde freundlich von den Anwohnern gegrüßt. Er
stieg die Treppe hinauf und drückte auf die Klingel. Natürlich
war Püppi als erster an der Tür und schaute recht vergnügt
zu Onkel Walther hinauf, der ihn auf den Arm nahm und ihn mehrfach in
die Runde schwenkte. "So eine Begrüßung bringt mich
ganz schön aus der Puste. Und es riecht ja bei euch so gut!",
sagte er wohlwollend und rieb sich den Bauch. Die Großmutter
hielt sich im Hintergrund, denn sie wusste, was dieser Besuch
bedeutete. Onkel Walther hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Das
Essen schmeckte allen, was man an den leeren Tellern sehen konnte.
Dann verabschiedete sich der Gast, dankte für das gute Essen und
rief beim hinuntergehen nach oben: "Dann bis bald!" und
verschwand.
Die
Großmutter, die sich nun zur Tür drängte, rief
trotzig und laut ins Treppenhaus: "Es gibt keinen
Weihnachtsmann!"
Püppi
zog an der Hand der Großmutter und fragte: "Warum sagst du
das immer?"
"Weil
es keinen Weihnachtsmann gibt", erwiderte die alte Frau mit
fester Stimme, setzte sich in den Sessel und griff nach ihrem
Strickzeug.
Der
Junge lebte die meiste Zeit des Jahres nur mit der Mutter und
Großmutter zusammen, da der Vater als Entwicklungshelfer in
verschiedenen Ländern der Erde gebraucht wurde. Doch zur
Weihnachtszeit und im Sommer kam er für einige Zeit nach Hause.
Heute
war es so weit. Als die Tür aufging, fiel der Püppi vor
Aufregung vom Sofa und krabbelte auf allen Vieren zur Begrüßung
dem Vater entgegen.
Ja,
die Freude über das Wiedersehen war für alle riesengroß
und nach einiger Zeit nahm der Vater seinen Sohn auf den Arm und
sagte: "Bald kommt der Weihnachtsmann zu dir, und ich hoffe,
dass du recht brav warst!"
"Es
gibt keinen Weihnachtsmann", dröhnte es aus Großmutters
Richtung.
Dann
war endlich Weihnachten! Püppi und Großmutter wurden ins
Schlafzimmer verbannt, während die Eltern liebevoll den
Weihnachtsbaum schmückten und echte Kerzen an seinen Ästen
befestigten. Aber Püppi wollte es genau wissen. Oma war so in
ihre Strickarbeit vertieft, dass sie nicht darauf achtete, wie der
Lockenkopf zum Schlüsselloch schlich und neugierig hindurch
linste. Was er dort entdeckte, machte ihn nachdenklich...
Langsam
ging er zum Fenster hinüber. Da kam der Weihnachtsmann! Mit Sack
und Rute schlurfte er die Straße entlang und steuerte auf den
Eingang des Hauses zu. Er schlurft genauso wie Onkel Walther, dachte
Püppi, doch da hörte er auch schon ein lautes Klopfen an
der Tür. Eine ihm bekannte Stimme rief: "Wohnt hier der
kleine Püppi?" "Ja, komm herein lieber
Weihnachtsmann!", antworteten die Eltern im Chor. Die Großmutter
blieb im Schlafzimmer sitzen und strickte weiter ihre Runden. "Es
gibt keinen Weihnachtsmann", murmelte sie in gewohnter Weise.
Das Kind riss ungeduldig die Wohnzimmertür auf und stand direkt
vor dem Weihnachtsmann.
"Na,
kleiner Mann, warst du auch immer schön artig und gehorsam?".
Püppi stand stumm am Tisch und nahm die Geschenke entgegen, die
der Weihnachtsmann, eins nach dem anderen, aus seinem Sack holte und
dem Kind überreichte. Wie sich doch die Eltern über die
Bescherung freuten! Doch der Kleine verzog keine Miene. Er achtete
nur auf die Stimme und auf die Augen, die über dem weißen
Bart hervorblinzelten. Dann war ihm klar: der Weihnachtsmann war
Onkel Walther!
Der
Weihnachtsmann verabschiedete sich freundlich und verließ
schlurfend und polternd die Wohnung. Püppi aber wollte den
Eltern nicht die Freude nehmen und spielte das "Weihnachtsmann-Spiel"
mit. Aus dem Schlafzimmer ertönte erneut der Ruf: „Es gibt
keinen Weihnachtsmann!“
Die
Weihnachtszeit ging vorüber. Alle Kinder der Straße trafen
sich und berichteten von ihren Geschenken und Erlebnissen. Einer nach
dem anderen fragte, ob beim Püppi der Weihnachtsmann gewesen
war. Er sagte lange nichts, doch dann drängte es aus ihm heraus:
"Damit ihr's wisst, ich glaube nicht an den Weihnachtsmann, nur
meine Eltern!" Die größeren Kinder fingen an zu
kichern und hielten sich die Hände vor den Mund und ein älteres
Mädchen fragte verwundert, was er damit meinte. "Na, die
hatten ganz rote Backen, als der Weihnachtsmann ins Zimmer trat und
freuten sich wie kleine Kinder! Aber ich habe Onkel Walther erkannt.
Er ist der Weihnachtsmann! Jetzt weiß ich auch, warum meine
Großmutter immer sagt, dass es keinen Weihnachtsmann gibt!"
Seit diesem Tag gehörte er zu den wissenden Großen und war
ganz stolz auf seine weihnachtliche Erkenntnis.
Ein
Jahr verging. Wieder stand Weihnachten vor der Tür. "Glaubst
du an den Weihnachtsmann?", fragte Püppi das kleine
Mädchen, das erst vor kurzem in ihre Straße gezogen war.
"Ja, der tommt bald!", rief die Kleine begeistert aus und
sprang lustig durch die Gegend. "Bestimmt tommt der bald!",
entgegnete Püppi sehr mitfühlend.
©
Heidrun Gemähling