Karl-Heinz Fricke

Der gute, schwierige Freund

Alles war neu für mich damals im Jahre l953, als ich mich als Anwärter für den Zollgrenzdienst in dem kleinen Dorf, hart an der Zonengrenze im westlichen Deutschland, zur Stelle meldete. Der Postenführer, ein Zollassistent, hieß mich willkommen. Außer zwei Wohnungen im Zollhause gab es keine weiteren Dienstwohnungen. Ich machte Dienst auf Probe, und die Voraussetzung für ein zukünftiges Beamtemleben hing ganz von einer dreimonatigen Schulung mit anschließender Prüfung ab. Kam man aus Flensburg -Mürwik als Assistent zurück, dann stand einer Karriere bei der Zoll- oder Finanzverwaltung nichts im Wege.

Im Zollhaus wohnten zwei Kollegen mit ihren Familien. Drei Kameraden wohnten im Dorf. Sie hatten Bauerntöchter geehlicht. Die ledigen Zöllner und Anwärter wohnten im Obergeschoß des Zollhauses in Einzelzimmern. Auch mir wurde ein solcher Raum vom Postenführer dort zugewiesen. Im Keller des Hauses war der Dienstraum. Das einzige Möbelstück war ein Stehpult auf dem das immer aufgeschlagene Dienstbuch lag. Die Streifen eines jeden Beamten wurden dort eingetragen. Mit Spannung sah ich meiner ersten Streife an der nahen Grenze entgegen. Natürlich ließ man mich vorerst nicht allein gehen. Mein Partner, ein Assistent, war ein gewissenhafter Mann, der den Dienst sehr ernst nahm und auch nach genauer Vorschrift ausführte. Er war einer von denen, die im Dorf geheiratet hatten.
 
"Mein Name ist Friedhelm", sagte er, an sein Fahrrad gelehnt. Ich merkte gleich, dass Friedhelm das Herz nicht nur auf dem rechten Fleck, sondern auch auf der Zunge trug. In wenigen Minuten hatte er mir fast seinen ganzen Lebenslauf erzählt. Es sprudelte  nur so aus ihm heraus. Seit fünf Jahren war er bereits dabei.
Er langweilte sich und er plante in die gehobene Laufbahn aufzusteigen.
 
Nach einem halbstündigen Gang erreichten wir die Grenze. Die Grenzlänge dieser Grenzaufsichtsstelle betrug
vier Kilometer. Sie führte schnurgerade an einem Bahndamm entlang und unmittelbar dahinter fließt als natürliche Grenze die Oker, ein Nebenfluss der Aller. In diesem Teil des Landes bildete sie auch die Grenze
zwischen den Ländern Niedersachsen im Westen und Sachsen-Anhalt im Osten. Dort befand sich das andere Deutschland. Russen und Volkspolizisten bewachten die Grenze zu Fuß und von Wachtürmen, die man in kurzen Abständen errichtet hatte. Unmittelbar hinter dem Fluss befand sich der gepflügte und geharkte "Todesstreifen".  Die kleinen gegenüberliegenden Dörfer hatte man mit hohen Drahtzäunen in doppelter Ausführung abgeschirmt. Die Menschen lebten wie Gefangene in der sogenannten Sperrzone der Deutschen Republik. Grenzzwischenfälle gab es seit einigen Jahren nicht mehr, weil wegen des breiten Flusses und der beschriebenen Hindernisse kein direkter Kontakt mit der anderen Seite bestand.
 
Friedhelm redete ununterbrochen während wir auf den Schwellen der Gleisanlage dahintrotteten. Kurze ebenmäßige Schritte, anstrengend und ungewohnt für mich. Nahm ich zwei Schwellen auf einmal, schlug mir der Karabiner, den ich als Dienstjüngerer tragen musste schmerzhaft gegen den Oberschenkel. Plötzlich kam ein weisser Volkswagen in Sicht. Neben dem Bahndamm befand sich ein Weg, der von PKW's befahren werden konnte.Der Volkswagen hielt und wir kletterten die Böschung hinunter.  Friedhelm machte eine schneidige, militärische Meldung: "Keine besonderen Vorkommnisse, Herr Kommissar!" Wie ich in den folgenden Monaten feststellen konnte, gab es nie besondere Vorkommnisse an diesem Grenzabschnitt.
Friedhelm wusste jedoch von wilden Zeiten zu berichten, als die Grenze zwischen West und Ost noch nicht befestigt war. Schwarzhändler, Mörder und andere Kriminelle wechselten ständig über die Grenze in beide Richtungen. Die Mehrzeit bildeten Grenzgänger, die Verwandte suchten, oder einer besseren Zukunft im Westen zustrebten. Grenzführer schleusten diese auf geheimen Pfaden in das andere Deutschland. Es waren oft gefährliche Abenteuer damit verbunden. Besonders ein Grenzführer im benachbarten Grenzabschnitt, nahm nicht nur Schmuck und Zigaretten als Bezahlung entgegen. Er tötete mehr als zwanzig Frauen, nachdem er sie vergewaltigt und ausgeraubt hatte.
 
Friedhelm war der Außenseiter des Postens. Viele der Kollegen konnten seinen hundertprozentigen Diensteifer und sein ständiges Schwatzen nicht leiden. Merkwürdigerweise war ich oft dazu ausersehen mit ihm auf Streife zu gehen. Auf diese Weise lernte ich ihn mit all seinen Stärken und Schwächen kennen. Von einer Freundschaft konnte zu der Zeit jedoch nicht die Rede sein. Wir waren halt Kameraden, die dieselben Aufgaben hatten. Immer wieder träumte er davon dem monotonen Grenzdienst zu entfliehen, um im Innendienst Karriere zu machen.
 
Nachdem ich den Grenzabschnitt, auch mit anderen Kollegen, und auch allein zehn Monate "ohne besondere Vorkommnisse" gegangen hatte, wurde ich aufgefordert, in Flensburg meine Assistentenprüfung abzulegen. Nachdem ich diese nach dreimonatiger Schulung bestanden hatte, wurde mir kurt darauf eine Dienstwohnung
im benachbarten Grenzabschnitt und Ort angeboten. Meine Familie konnte nachkommen. Ich hatte 21 neue Kollegen an einer doppelten so großen Grenzlänge, die voller Vorkommnisse war. Kein Fluss hinderte das Zusammentreffen mit Volkspolizisten bei Grenzbegehungen dicht am gepflügten Streifen entlang.
 
Ich vermisste die Kameradschaft meiner früheren Kollegen. Die Kameraden am neuen Dienstort hatten sich zu Cliquen zusammengetan, und wir wurden von den meisten nicht sonderlich beachtet. Später hatten wir guten Kontakt mit zwei Familien im Hause. Einmal im Monat fuhren wir zum Schießstand. Alle Mitglieder des Kommissariats waren vertreten, um mit Karabiner, Pistole und Maschinenpistole auf Scheiben zu schießen. Da traf ich dann die alten Kameraden und auch Friedhelm wieder. Sonst trafen wir uns nur gelegentlich auf Streifenwegen an den Endpunkten der Grenzabschnitte.
 
In meinem Falle wurde es nicht aus einer Karriere beim Zoll. Die Ferne und das Abenteuer lockte. Bereits nach etwas über zwei Jahren beendigte ich freiwillig meine Beamtenschaft, um nach Kanada auszuwandern. Ein neues Leben hatte sich für uns eröffnet, und die alte Heimat versank vorerst in der Vergangenheit.
 
Erst 18 jahre später sollte ich Deutschland wiedersehen. Durch Zufall traf ich einen früheren Kollegen vom ersten Grenzposten, der mir erzählte, dass die Aufsichtsstelle, an der nie etwas passierte, aufgelöst worden sei. Nur wenige der alten Kameraden waren beim Zoll geblieben. Die Mehrzahl war zu der Wehrverwaltung übergewechselt. Friedhelm's Traum wurde wahr. Mit verbissenem Ehrgeiz erstrebte er den Aufstieg. Nach mehreren Schulungen wurde er Inspektor, Oberinspektor und schließlich Zollamtmann. Seine letzten Diensthandlungen führte er in einer großen Kleiderfabrik aus, wo er die Zollabfertigungen erledigte. Es gab keinen Zweifel an seiner Gewissenhaftigkeit und seinem Fachwissen. Erst bei meinem dritten Heimatbesuch im Jahre 1988 traf ich Friedhelm wieder. Sein Redefluss hatte sich noch gesteigert. Ich gratulierte ihm zu seinem Aufstieg. Er winkte ab und sagte, er hätte noch Zollrat werden sollen, aber seine große Klappe hätte das wohl verhindert. Freimütig bekannte er, dass ihm sein Besserwissen, der Redefluss und Kritik an Höhergestellten keine Freunde in der Verwaltung beschert hatte. So schob man ihn sozusagen in die Kleiderfabrik ab.  Vorzeitig musste er aus Krankheitsgründen den Dienst quittieren. Bei einem unglücklichen Sturz im Badezimmer wurde die Wirbelsäule beschädigt, was eine Teillähmung zur Folge hatte. Für den Rest seines Lebens war er behindert. Eine Besserung trat nicht ein. Dazu kam die bösartige Krankheit seiner Frau, die nach schmerzhafter Leidenszeit an Darmkrebs verstarb. Friedheem war allein im großen Haus, aber ein zäher Wille und Mut zum Leben erwachten in ihm. Er gab nicht auf, lud sich Freunde ein und machte große Reisen. Sein Interesse am Weltgeschehen erlöschte nie. Er bastelte elektrische Eisenbahnen, sammelte Briefmarken, züchtete Rosen, und  er lernte englisch in Abendkursen. Störend jedoch für alle, mit denen er Kontakt pflegte, war sein pausenloses Reden. Niemand kam zu Wort. Sogar sein Essen ließ er kalt werden. Er war zu unruhig, um nur zu essen, und mit vollem Munde redend verschluckte er sich oft. Eines mussten wir ihm hoch anrechnen. Er lud uns in seinem Saab zu langen Fahrten ein, die auch mit Übernachtungen verbunden waren. Großzügig wollte er von einer Kostenbeteiligung nichts wissen.
 
Dreimal besuchte er uns in Kanada und wir hatten die Gegelenheit uns zu revanchieren. Wir machte tagelange Fahrten durch unsere schöne Provinz Britisch Kolumbien. Friedhelm war begeistert. Seine Behinderung ignorierte er. Für alles bedankte er sich mehrmals, weil wir ihn wie einen Verwandten aufnahmen. Natürlich war es für nicht einfach seinen ständigen Erzählungen zuzuhören, weil ja auch der Haushalt und Garten unsere Bearbeitungen verlangte. Auf unseren Fahrten und Einkäufen verwickelte er Passanten, Postangestellte, Verkäuferinnen und Serviermädchen in lange Gespräche, so ignoriering andere Leute die hinter ihm standen. 
 
 
Im Laufe des nächsten Jahrzents reisten wir oft in die Heimat. Friedhelm hatte schon vorher für größere Reisen organisiert. So lernten wir die Inseln Rügen und Usedom, sowie den Spreewald auf einem Trip kennen. Ein anderer führte durch den schönen Thüringerwald.  Für einen schnelle Mahlzeit hielten wir an einem Imbißschuppen an. Am Nebentisch saß Sylvia, eine große, schlanke Frau, mit ihren Töchtern. Friedhelm unterhielt das ganze Lokal. Plötzlich schwieg er. Er hatte Sylvia entdeckt. Sofort begann er ein Gespräch mit ihr. Der gewisse Funke schien übergesprungen zu sein. Ein Drama hatte seinen Anfang genommen. Sie unterhielten sich angeregt und tauschten schließlich Adressen und Telefonnummern aus. Auf der Rückfahrt schwärmte Friedhelm von Sylvia. Durch seine Art auch mit Händen und Füßen zu reden, saßen wir während den Fahrten immer wie auf heißen Kohlen. Er konnte sich nicht auf sicheres Fahren konzentrieren. Im steten Redeflussgestikulierte er oft mit beiden Händen, um uns auf Sehenswürdigkeiten aufmerksam zu machen. Er würgte den Motor ab, fuhr zu dicht auf, nahm Bordkanten mit, und beschimpfte andere Fahrer, auch wenn er einen Fahrfehler gemacht hatte. Er nahm alle rechte, die einem Behinderten zustanden voll in Kauf und darüber hinaus versuchte er sogar auf einem stark begangenen Promenadenweg an der Ostsee zu fahren. Wurde es ihm untersagt, konnte er fuchsteufelswild werden. Nach jeder Fahrt waren wir total genervt.
 
Sein sehnlichster Wunsch war wieder eine Gefährtin zu finden. Er liebte weibliche Gesellschaft, wollte mit einer jüngeren Frau reisen und vor allen Dingen nicht allein sein. Auch bei uns in Kanada sprach er oft junge Mädchen an und lud sie nach Deutschland ein. Sie lächelten nur. Was sollten sie wohl mit einem behinderten 70-jährigen Mann anfangen ? Sylvia schien endlich diese Wünsche zu erfüllen. Nachdem wir nach Kanada zurückgekehrt waren, handelten seine häufigen Briefe und Anrufe hauptsächlich von Sylvia. Er war enttäuscht, dass sie seinen Plänen immer wieder auswich. Er wollte sich mit ihr auf Usedom treffen. Im letzten Moment sagte sie ab. Er war verzweifelt. Schließlich bekannte sie, es sei nicht fair eine Verbindung herzustellen, sie sei schwer herzkrank. Friedhelm war untröstlich. Wir vermuteten, dass Sylvia  anderen Sinnes geworden war. Sie hatten oftmals miteinander am Telefon gesprochen und sie war wohl kaum zu Wort gekommen. Unsere Vermutung jedoch war falsch. Sylvia war tatsächlich schwer herzkrank. Sie erlitt einen Herzanfall und fiel in ein Koma. Er reiste nach Greifswald, um sie im Krankenhaus wenigstens zu sehen.
 
Danach verschlechterte sich Friedhelms Gesundheitszustand ständig. Er überspielte es anfangs als sei es gar nichts.Sein gelähmter linker Fuss blieb oft an unebenen  Stellen hängen was zu Stürzen führte. Dabei zog er sich Schmerzen und Schwellungen zu. Die vielen Medikamente, die er täglich nehmen musste schwächten sein Immunsystem und sein Herz. Zwischen seinen Reisen in andere Länder musste er mehrere Male ins Krankenhaus. Eine Herzattacke wurde in einer Intensivstation behandelt. Er erholte sich noch einmal und Ärzte und Krankenschwestern waren seinem Redefluß ausgeliefert. Man wollte ihn schnell loswerden. Er wollte auch nach Hause. Kurz darauf, an einem Sonnabend stand er füh auf, um ein Formal 1 Rennen am Fernseher zu sehen. Plötzlich fiel er um. Er konnte das Telefon noch vom Tisch reißen und auf einen Knopf drücken. Sein Nachbar erschien und rief Arzt und Krankenwagen. Im Krankenhaus schloß man ihn an verschiedene Apparate an, um den Schlaganfall zu behandeln. Er fiel in ein Koma. Es war aussichtslos. Zwölf Tage später verschied er ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Wir waren sehr traurig über sein Ableben. Sein sehnlichster Wunsch war es, und nochmal zu besuchen. Aus seinen letzten Briefen ging jedoch hervor, dass er erkannt hatte, nicht mehr unbekümmert reisen zu können.
 
Friedhelm war uns ein guter, wenn auch schwieriger Freund. Wir werden ihn stets in guter Erinnerung behalten.
 
Karl-Heinz Fricke     12.09.2005

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