Germaine Adelt

Mitternachtshimmel

    Ihre Füße schmerzten so sehr, dass sie nur mit Mühe die Tränen unterdrücken konnte. Aus dem linken Schuh kam tatsächlich Blut und sie fühlte sich wie Aschenputtel. Sie versuchte ein Lächeln und humpelte ins Bad um das Blut wegzuwaschen. Im Spiegel sah sie ihr müdes, schmerzverzerrtes Gesicht und sie fragte sich, was sie hier eigentlich tat. Vater hatte sie auf diesen Empfang mitgeschleppt und nannte dies: „Kontakte knüpfen“. Sie wollte allerdings keinen Kontakt zu Menschen, die sie zwangen Schmerzen zu erleiden, nur weil es die Etikette verlangte. Vater sah dies natürlich anders. Aber mit ihm hatte sie sowieso nichts gemeinsames, außer der Vorliebe für Marzipan.

Als sie ihre geschundenen Füße wieder in die hochhackigen Schuhe zwängte, durchzuckte sie ein stechender Schmerz, so dass nun doch die Tränen flossen. Ungehemmt rieb sie sich die Augen und erst als sie ihren verschmierten Handrücken sah fiel ihr ein, dass sie heute geschminkt war. Ungelenk und ungeübt versuchte sie ihre Wimpern erneut zu tuschen und beschloss einen Zigeuner zu heiraten oder einen Landwirt. Jedenfalls einen Mann, der weder Interesse an solchen Veranstaltungen hatte, noch die Zeit.

Erneut zwängte sie ihre Füße in die Schuhe und versuchte ein paar Schritte. Es war unmöglich den Abend zu überstehen und daher beschloss sie, einfach zu gehen. Vater würde sie später auf seinem Handy anrufen, wenn sie wohlbehalten zu Hause war.

Vor dem Fahrstuhl stand ein Mann und sie überlegte kurz, einfach weiter zu gehen. Aber die Schmerzen waren kaum noch zu ertragen, so dass sie keine andere Wahl hatte. Sie versuchte ein Lächeln, um nicht aufzufallen und hoffte, schnell und unbehelligt das Gebäude verlassen zu können.

Der Mann im Anzug, vermutlich ein Chauffeur oder Portier, musterte sie kurz und fragte dann: „Tut es sehr weh?“

Mit Tränen in den Augen nickte sie ungewollt, und zog sich einfach die Schuhe wieder aus.

„Soll ich Sie nach Hause fahren?“

Ein Chauffeur also. Doch sie war so überrascht von dem Angebot, dass sie zaghaft mit dem Kopf schüttelte.

„Auch gut“, meinte er und drückte auf einer der oberen Knöpfe. “Dann zeige ich Ihnen eben meine Sterne.“

Noch ehe sie etwas sagen konnte, fuhr der Fahrstuhl los und sie ergab sich der Situation. Auf die paar Minuten kam es nun auch nicht mehr an und warum sollte sie ihm, der vermutlich den ganzen Abend stocksteif neben einer Limousine stehen musste, nicht den Gefallen tun.

Der Fahrstuhl hielt und vorsichtig humpelte sie hinaus. Sie waren auf dem Dach und während sie noch überlegte ob und wie sie die Schuhe wieder anziehen sollte, nahm er sie und trug sie galant bis hin zur Brüstung. 

Der Blick war atemberaubend. Man konnte die ganze Stadt übersehen, die zudem jetzt in viele, kleine, bunte Lichter getaucht war. Er aber sah nach oben und zeigte mit großer Geste auf den Nachthimmel.

„Das sind sie, meine Sterne. Ich komme öfter hier hoch, wenn es mir unten zuviel ist.“

„Verstehe“, murmelte sie und fragte sich, was der Mann, der nicht viel jünger als Vater war, eigentlich wirklich wollte.

„Sie wundern sich, was Sie hier sollen.“ meinte er als könne er ihre Gedanken lesen. „Warum ich Sie hier mit hochnehme ...“

Sie nickte nur.

„Nun, Sie sahen mir aus, als wenn es Ihnen auch zuviel geworden war.“

Da hatte er Recht und so starrte sie gemeinsam mit ihm verträumt in den Nachthimmel.

„Zum ersten Mal hier?“ fragte er.

„Ja und garantiert zum letzten Mal“, erklärte sie. „Das hier ist nichts für mich.“

„Warum nicht?“, wollte er wissen und sie zeigte nur vielsagend auf ihre zerschundenen Füße.

„Wer so etwas von mir verlangt, mit dem will ich nichts zu tun haben.“

„Und wenn es nicht anders geht?“

„Es geht immer anders, wenn man nur will. Sehen Sie mich an. Ich werde diese Schuhe mit Sicherheit nicht mehr anziehen. Egal was die Leute denken, egal was es mir für Ärger einbringen wird.“

Er seufzte leise. „Vielleicht haben Sie sogar Recht.“

Sie hatte nicht verstanden, was er damit andeuten wollte. Doch ehe sie nachfragen konnte, beendete er das Thema indem er fragte: „Soll ich Sie nicht doch nach Hause fahren?“

„Das wäre sehr lieb, aber am Ende bekommen Sie noch Ärger.“

„Das glaube ich nicht. Es ist nur schade ... ich hätte so gern noch mit Ihnen getanzt.“

„Ohne Schuhe würde es gehen“, erklärte sie. Immerhin konnte sie einem Mann, der sie auf Händen trug, keinen Wunsch ausschlagen.

„Na dann los“, sagte er freudig und trug sie zurück zum Fahrstuhl.

 

Als sie den Saal betraten, waren schlagartig alle Blicke auf sie gerichtet. Jetzt kam sie sich wirklich vor wie Aschenputtel. Nur dass sie nicht mit dem Prinzen tanzte, sondern mit einem Chauffeur, der vermutlich in diesem Moment seine Stellung verlor. Ihn schien es nicht sonderlich zu stören und stolz führte er sie mitten auf die Tanzfläche.

Er war ein sehr guter Tänzer und so ließ sie sich verführen, von dem Tanz, der ihre Schmerzen fast vergessen ließ. Doch die Blicke der anderen, die an ihr hafteten verunsicherten sie zusehends. Unauffällig blickte sie auf ihre Füße, ob es so offensichtlich war, dass sie barfuß tanzte. Aber ihr knöchellanges Kleid ließ kaum den Blick frei.

„Was haben die Leute?“, flüsterte sie.

„Ich weiß nicht was du meinst“, gab er sich unschuldig.

„Ich habe das Gefühl, dass uns alle anstarren.“

„Kann schon sein. Liegt vielleicht daran, dass ich der Gastgeber bin und die wenigsten wissen, wie ich aussehe.“

Völlig überrascht blieb sie stehen.

„Was ist?“, fragte er besorgt. „Geht es doch nicht?“

„Sie sind der große Rüdiger von Stetten?!“

„Na ja groß ...“, flachste er und sah an seinen knappen 1.70 herunter.

„Ich finde das nicht komisch!“

„Was ändert sich denn?“, frage er mit einem leicht ironischen Unterton.

„Alles. Ich eigne mich nun mal nicht als Vorzeigepüppchen!“

„Jetzt wirst du ungerecht“, brummte er.

„Möglich. Aber dennoch möchte ich jetzt gehen.“

„Barfuß?“   

„Was dagegen?“, zischte sie erbost.

Er lächelte und sie musste sich eingestehen, dass es ein sehr charmantes Lächeln war. „Selbstverständlich nicht. Es sieht sogar bezaubernd aus, wenn man die Umstände beiseite lässt.“

Beschämt sah sie zu Boden. Sie fühlte sich so verletzt, dass sie tatsächlich äußerst ungerecht war.

„Um Mitternacht“, flüsterte er geheimnisvoll.

„Was?“

„Jeden Tag um Mitternacht betrachte ich meinen Sternenhimmel und ich würde mich sehr freuen, es wieder mit dir zu tun.“

Dieser Mann hatte was, das stand völlig außer Frage. Und sie musste sich eingestehen, dass es ihr sehr schmeicheln würde, wenn er ihr noch wirklich folgen würde, um ihr die Schuhe zu bringen.

Doch die tägliche Flucht zu den Sternen müsste er ohne sie antreten. Sie wollte lieber barfuß bleiben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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