André Skokow

Der Purpurturm - Teil 001

Eis stürzte ab. Zerbrach knackend auf einem Vorsprung, riss ihn mit und donnerte zu Tal. Das Krachen und Bersten der kleinen Lawine aus Eis und Fels scheuchte einige Frostechsen auf, die sich kreischend und schwerfällig mit den Flügeln schlagend in die Luft erhoben, die Mägen wohl noch mit Goblins gefüllt. Die kleine tödliche Lawine kam mit einem seltsamen Scharren zum Stehen und füllte den kleinen Talkessel der Frostechsen aus. Wolken aus Eis und Schnee wirbelten durch die Luft, brachen das Licht wie Myriaden kleinster Diamanten und wurden vom beständigen Wind aus dem kalten Norden verweht. Unten im kleinen Talkessel lag jetzt ein großer Haufen aus Schnee, Eis und scharfkantigem Fels. Eine Frostechse hatte die Flucht nicht geschafft und war halb unter den Massen begraben, nur ein Flügel, gebrochen, schaute heraus. Die Echse schlug mit ihm und versuchte sich freizuschaufeln, doch die Kraft ihres Körpers reichte nicht aus, um dem Tod zu entrinnen. Rotes Blut aus der offenen Wunde spritze auf die weiße Masse. Immer dichter und dichter wurden die Tupfer, immer mehr und mehr Blut quoll hervor, immer schwächer und schwächer wurde der Wille der Frostechse, bis sie sich erschöpft ihrem Schicksal ergab und ruhig, nur ab und an zitternd, dalag. Ruhiger wurde der Strom der Röte, ergoss sich in den Schnee wie ein sterbendes Meer des Lebens. Dann kam wieder die knackende und heulende Stille der Eissichelberge und hüllte das Land und die sterbende Frostechse ein.
 
 
Langsam, fast widerwillig und gepresst ließ ich meine Luft aus den Lungen entweichen. Dass ich der Auslöser dieses Ereignisses war, lässt sich kaum bestreiten. Aber schon in Al’Choram, der Enklave der Magier, nannte man mich schon Weltzerstörer. Obwohl mein Name eigentlich Crudelitos ist. Aber das lag wohl daran, dass ich meine langen Glieder nicht so unter Kontrolle habe. Mein erster, selbstbeschworener Meteoritenschwarm ging ja schließlich auch nicht im See nieder, sondern zerschlug das Vordach des Magierhändlers Maruk Molar. Leider hatte dieser just an diesem Tage eine Ladung Rasaner Feuer bekommen und die Tonkrüge in einer hübschen Pyramidenform aufgestapelt. Na ja, das Zeug explodierte also, einige der Tonkugeln stiegen wie Raketen in den Himmel auf und ließen bunte Sterne regnen, der Rest verteilte sich auf der Wiese und an diversen Hauswänden. In diesem Fall war es Glück, dass Rasaner Feuer klebt und nicht abzuwaschen ist. Alexius Guderian und Zergon Perval konnten zumindest auf diese Art und Weise ihre Künster der destruktiven Elementarmagie des Wassers vorführen und zusammen mit der Windböe von Ashande konnte man das Feuer auch löschen. Ich war so beschämt, dass die eines Magiers unwürdigen Worte aus dem Munde Molars nur dumpf in meinen roten Ohren hallten. Ich habe bei Molar immer noch Hausverbot. Schon seit sieben Jahren. Und immer ruft er, wenn er meiner ansichtig wird:
„Hilfe, Hilfe! Bildet einen Eimerkette!“
 
 
Langsam ging ich einen Schritt zurück. Dann vorsichtig noch einen. Ich atmete tief durch, wandte mich um und begab mich wieder auf den Weg hinunter, der mich zum Seraphimkloster bringen sollte. Hier oben konnte ich wenigstens nichts anbrennen lassen. Nur einstürzen. Mein Reittier, eine zutraulich gewordene Pegasus, wartete geduldig auf meine Rückkehr. Drei totogetrampelte Eisgoblins ließen vermuten, dass hier einige Sekunden der hektischen Aktivität stattgefunden haben mussten. Ashì-íra sah mich aus ihren dunkelblauen Augen ruhig an und scharrte fast wie verlegen mit einer ebenholzschwarzen Hufe. Ich ging an sie heran, nicht direkt auf sie zu, denn das wäre unhöflich gewesen, und streichelte ihr Fell. Es war weiß. Es war nicht das tote Weiß des Schnees, sondern das lebendige Weiß von Milch. Das feine Langhaar war ebenfalls dieser Farbe, hatte aber einen Schlag ins Gelbe.
Ich mühte mich jedes Mal redlich ab, um in den leichten Reisesattel zu steigen, an dem man sich auch festschnallen konnte, aber das wird man mir, bei einer Widerristhöhe von knapp drei Schritt wohl auch nachsehen. Prustend oben angekommen und festgeschnallt, bei Flugmanövern sehr nützlich, strich ich sanft über den Hals und den schwarzen Aalstrich Ashì-íras. Sie legte ihre Flügel an und wärmte auf diese Art und Weise meine Beine. Sie selbst war unempfindlich gegen jedwede natürliche Kälte oder Hitze. Mit einem leichten Druck der Unterschenkel bedeutete ich ihr, dass es weiterging. Leichtfüßig setzte sie sich in Bewegung und fiel in einen leichten Trab. Der tiefe Schnee schien ihr nichts auszumachen, denn die Pegasus hatte, wie die Elfen, eine natürliche Magie, die sie in diesem Fall auf dem Schnee laufen ließ. Wie geölte Bälle spielten die Muskeln unter der weichen Haut, als sie sich wieder auf den Weg machte. Ich würde mich beeilen müssen, bis zum Kloster war es immerhin noch ein Ritt von zwei Tagen. Und jetzt war es schon drei Stunden vor Sonnenuntergang. Einer weiteren unangenehmen Nacht hier draußen in der klirrenden Kälte stand also nichts im Wege.
 
 
Das Gebirge wurde schroffer und eisiger. Der immer kälter werdende Nordwind trieb den fast gefrorenen Schnee arg vor sich her, dass er so scharf ins Gesicht schnitt, als würde ich es wieder und wieder in die Stacheln eines Rosenigels halten. Meine Robe, innen mit Hermelinpelzen ausgelegt, hielt jedoch den größten Teil der Kälte und des Windes ab. Ashì-íra schien die Kälte und der Wind nichts auszumachen. Der Wind bog kurz vor ihr ab und fegte um sie herum und riss auch den Schnee mit sich. Ihr Langhaar bewegt sich nur so, als ob nur eine kleine Sommerbriese wehte und nicht ein Orkan, der durch die Berge heulte. Mittlerweile war der Himmel pechschwarz geworden, der Wind wurde so kalt, dass ich mein Gesicht schon gar nicht mehr spürte. Ich bedeutete ihr an den Rand des Weges zu reiten, denn dort hatte ich Felsen entdeckt, die mich während der Nacht vor dem Wind schützen konnten. Dort angekommen, vielleicht fünf Schritt vom Weg entfernt schlug ich mein „Lager“ auf. Ein Feuer zu machen war bei diesen Bedingungen unmöglich. Es gab keine geeigneten Bäume und somit auch kein Holz, der Wind würde außerdem jedes Feuer innerhalb von Sekunden ausblasen oder mit Schnee zudecken und löschen. Ich baute mein Zelt dicht an der windabgewandten Seite der Felsen auf und bereitete darin meinen Schlafsack aus. Meine Vorräte waren beträchtlich zusammengeschrumpft und auch größtenteils gefroren. Aber das war das kleinste Übel. Ich holte meinen Kochtopf hervor, der eine magische Matrix enthielt, den Topf erhitzte, sofern sie mit astraler Kraft gespeist werden würde.. Ich legte das gefrorene Fleisch, Erdäpfel und ein wenig Schnee hinein um mir daraus eine unschmackhafte aber warme Suppe zu kochen. Ich war zwar Magier, aber das hieß noch lange nicht, dass ich etwas von der Zubereitung von wohlschmeckenden Speisen verstünde.
Ashì-íra, die ich abgesattelt hatte, legte sich mittlerweile auf einen der Felsen und war eingeschlafen. Schnee begann sie zuzudecken. Nach einiger Zeit war mein Essen fertig und ich konnte das einfache, aber nahrhafte Mahl zu mir nehmen. Gesättigt steckte ich den saubergewaschenen Topf und das Besteck wieder in den Sattel zurück und kroch in mein Zelt. Dort zog ich mich aus, stopfte meine Kleider und meine Stiefel in den Schlafsack und legte mich dann selbst hinein. Der Wind brauste noch mehr auf, in der Ferne donnerten gewaltige Schneemasse zu Tal. Doch der Schnee ließ alles dumpf und sinnlos erscheinen. Mit diesen Geräuschen im Ohr schlief ich ein.

Ich wachte unbestimmte Zeit später hellwach wieder auf. Ich zog mich an und verließ mein Zelt, das trotz der Steine komplett mit Schnee bedeckt war. Absolute Windstille und Ruhe hüllte mich ein. Der dickflockige Schnee fiel leise und dicht. Ließ jedes Geräusch dumpf werden und wie einen Ruf aus dem Reich der Toten klingen. Es war mitten in der Nacht und es war kalt, sehr kalt. Der Baum neben den Felsen knackte und die Rinde platzte auf. Auch die Felsen, auf denen ein pegasusförmiger Haufen lag, aus dem nur die dunkle Nasenspitze herauslugte, hielten der Kälte nicht stand. Kleine Stücke barsten ab und fielen in den weichen Schnee. Die Wolken verzogen sich und gaben den Himmel frei. Sterne über Sterne sandten ihr Licht auf die Erde und der kalte Mond überzog die Landschaft mit einem Muster an Blau und Schwarz geformt durch die Berge. Die Temperatur sank noch mal stark ab und die klare Luft trug von überall her das Knacken und Bersten von Bäumen und Felsen heran. Hinter mir hörte ich Schnee rascheln. Ashì-íra war ebenfalls erwacht und hatte ihren Kopf aufgerichtet. Der Schnee war heruntergerutscht, nicht eine Flocke war im Deckhaar hängen geblieben. Sie sah beunruhigt aus. Aufmerksam wandte sie ihren Kopf gegen Westen und stellte ihren Ohren auf. Und dann spürte ich es auch. Ein leichtes Beben ließ die Erde zittern. Frostriesen.
 
Hastig packte ich meine Sachen zusammen, den mit diesen Burschen ließ sich nicht spaßen. Kaum war ich fertig mit Aufsatteln tauchten auf dem Plateau, auf dem ich gelagert hatte, drei Frostriesen auf. Ihre blaue Haut war blutüberströmt. Fast ohne einen Laut rannten sie an mir und der Pegasus vorbei und schienen uns gar nicht zu beachten oder gar wahrzunehmen. Die Gesichter waren angstverzerrt und voll des Grauens. Als sie ganz nahe waren konnte ich erkennen, dass sie einen schweren Kampf hinter sich hatten. Jeder trug zahlreiche Wunden, geschlagen von scharfen Krallen oder Hörnern, die Wundränder faulend und schwarz. So schnell sie gekommen waren, so schnell verschwanden sie wieder in der Nacht. Wolken zogen vor den Mond und die zahlreichen Sterne, ließen die Eissichelberge wieder in Düsternis versinken. Auf einem entfernten Grat war etwas zu sehen. Ein kleiner violett leuchtender Punkt, auf die Entfernung so groß wie ein Stecknadelkopf. Als ich ihn bemerkte bohrte sich ein Splitter des Schmerzes und der Furcht zwischen meine Augen und explodierte in meinem Kopf. Ashì-íra sprang regelrecht vom Felsen herunter und schien vor dem Ding fliehen zu wollen, konnte jedoch, wie ich selbst, der ja das gleiche empfand, nicht die Augen abwenden. Das violett umflammte Ding raste jetzt mit unglaublicher Geschwindigkeit den Berghang hinunter und verschwand aus unserem Blickfeld. Mit einem Male fiel die Starre von uns ab und so schnell ich konnte schwang ich mich auf Ashì-íra und ohne mein Zutun setzte sie sich mit Panik im Blick so geschwind ihre Hufen sie trugen in Richtung des Klosters in Bewegung. Doch schon keine zehn Minuten später färbte sich hinter uns der Schnee schwach violett und dieses Leuchten wurde heller. Dann kam dieses Ding hinter einer Kurve hervor, die Ashì-íra gerade vor wenigen Augenblicken genommen hatte. Ashì-íra schrie. Ich hatte so etwas noch nie gehört und will es auch nie wieder hören. Denn dieser Schrei der Pegasus war so voller Angst, so voll der Verzweiflung und des Schmerzes, dass es in mi! r etwas zerbrechen ließ. Mit einem Ruck blieb sie stehen. Ich flog vornüber und landete in einer Schneewehe. Als ich mich wieder aufgerichtet hatte sah ich, wie Ashì-íra sich zu Boden gekauert hatte und sich ihrem Schicksal ergab. Das hatte die Form eines knapp sechs Schritt hohen Stieres mit vier Hörnern, der von violetten Flammen umhüllt war. Ich sah ihn an und konnte mich nicht mehr regen, sondern nur noch voller Verzweiflung zuschauen, wie er selbstgefällig in Richtung der Pegasus ging, die zitternd und bebend am Boden lag. Der Wind riss an ihrem Fell und der Schnee verklebte ihre Augen. Der Stier beugte sich nach vorne und sog genüsslich ihre Angst auf. Dann trat er einen halben Schritt vor und hob seine grässliche Hufe, um ihr den Kopf zu zermalmen. Ashì-íra atmete bei diesem Anblick immer schneller und immer flacher, blickte starr auf den Tod.
Hinter dem Stier flammten weiße Kugeln auf und flogen in seine Richtung. Sie trafen ihn und schleuderten ihn weg, weg von der Pegasus. Aus genau der anderen Richtung sah ich zwei Seraphim herangerannt kommen. Eine trug einen langen, kunstvoll geschwungenen Säbel und ein Schild aus blauem Licht, die andere eine lange Lanze und eine silbern glänzende Rüstung.
Sie stellten sich zwischen den dämonischen Stier und Ashì-íra. Sie stellten sich ihm mit ihren Leibern entgegen und kämpften mit dem Ungeheuer. Ich sah alles mehr und mehr verschwommener, die Konturen und Kontraste verblassten und am Ende nahm ich nur noch sich mischende Farben, Violett, Rot, Blau, Grün, Gelb und Schwarz wahr. Ich kroch in die Richtung, in der meine Pegasus lag, und zwischen all den Schreien und dem Brüllen des Stieres ertasteten meine steifen Finger kaltes aber noch lebendes Fell. Ich zog mich weiter und strich ihr über den Kopf. Sie schluchzte leise und bebte vor Angst. Ich redete beruhigend auf sie ein und versuchte eher mir selbst, als ihr dadurch Mut zu machen. Ich breitete meinen Mantel über ihr aus und Tränen rollten über meine Wangen, als ich ihre Verzweiflung und ihre Angst erfuhr.
Der Kampflärm nahm weiter zu und nach Ewigkeiten schrie der Stier ein letztes wütendes Brüllen. Violettes und Rotes Licht flammte auf und erfüllte die kleine Lichtung. Es krachte, dann schlug etwas gegen meinen Kopf und grausame Dunkelheit umfing mich.
 
 
Als ich aus der Düsternis wieder in die Welt der Lebenden zurückkehrte, fühlte ich mich weich und warm gebettet. Ein kühler Windhauch strich über mein Gesicht, ließ mich aber nicht frösteln, sondern erfrischte mich. Ich ließ die Augen noch geschlossen und genoss, wie die Sonne auf mein Gesicht schien und es wärmte und diesen roten Glanz in den Augen, wenn sie durch meine geschlossene Lider schien. Ich lag gewiss eine halbe Stunde auf diese Art da, bis mich eine sanfte Stimme endgültig in die Wirklichkeit zurückholte:
„Ihr seid wach, mein Freund. Das ist gut und richtig so. Kleidet Euch an, mein Herr. Kleider liegen für Euch bereit, Speis und Trank sollen gebracht werden. Gepriesen sei die Göttin und die Herrin der Schönheit – Ariàm.“
Die Tür schloss sich ebenso leise, wie sie sich geöffnet hatte, dann war es wieder still. Nur das leises Seufzen des Windes war zu vernehmen. Ich drehte mich im Bett auf den Rücken und schlug die Augen auf.
Mein großes Doppelbett stand in einem Raum von vielleicht sechzehn Rechtschritt Größe. Die Wände waren in einem angenehmen Blau gestrichen, das keine Kühle, sondern eher eine Art der Geborgenheit ausstrahlte. Das Bett und Teile des Zimmers waren mit grau-weißen Holzschnitzereien verziert, welche allesamt Naturmotive darstellten. Da gab es beispielsweise einen Wald mit Tieren und Vögeln und allerlei Pflanzen. Jedes Blatt und jedes Wesen waren so lebendig dargestellt, dass man glaubte, sie könnten jederzeit davon fliegen oder gar Früchte tragen. Gegenüber der Zimmertür, welche rechter Hand gelegen und aus der die Stimme erklungen war, befand sich das Fenster. Es war sicher an die zwei Schritt hoch und aus Buntglas zusammengesetzt. Auf beiden Fensterflügeln, einer nur leicht angelehnt, waren zwei einander gespiegelte aufblühende Rosen dargestellt. Dem Bett gegenüber, teilweise durch einen Glasperlenvorhang verdeckt, befand sich ein weiterer Raum, in dem ein ebenfalls verzierter Schrank und ein kleiner Waschzuber standen.
 
 
Ich schlug die leichte Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Einen kleinen Moment noch blieb ich in Gedanken verloren sitzen, ehe ich gänzlich aufstand und den Fensterflügel öffnete. Mein Blick fiel auf eine monumentale Berglandschaft. Scharfkantige Berge, sanfte Schneehänge, alles glänzend weiß. Hier auf der Südseite des Seraphimklosters lag ein kleiner Park und Garten. Er wurde durch eine niedrige Steinmauer begrenzet, hinter welcher der Berg schroff abzufallen schien. Alle Pflanzen waren mit einer kristallinen Frostschicht überzogen, so dass sie wie Gestalt gewordene Eisblumen vom Fenster aussahen. Zwei Junge Novizinnen, nicht mehr als zwölf oder dreizehn Jahre alt, rollten einen Schneemann zusammen. Auf der anderen Seite der Anlage hielt eine Magistra einen Vortrag über die Pflichten einer Seraphim und über den Dienst an der Göttern.
Lange konnte ich den Ausblick nicht genießen, wurde mir doch langsam kalt, schließlich war ich ja immer noch nur mit Unterhosen bekleidet. Ich schloss also das Fenster und sofort war der Raum von einem ätherischen blau-rosa Glanz erfüllt. Im Raum nebenan lagen meine Kleider, geflickt, gewaschen und getrocknet, so wie ich es auch war.
Kaum war ich mit der Morgentoilette und dem Ankleiden fertig, klopfte es leise aber bestimmt an der Tür. Auf mein „Herein“ kam eine Novizin, einen kleinen Tischwagen vor sich herschiebend, herein:
„Euer Essen, mein Herr“, deutete sie mit einem leichten Nicken an und verschwand wieder.
Da mir nicht anders möglich, zog ich den Wagen an das Bett heran, nahm auf der Bettkante Platz und genoss die erste richtige Mittagsmahlzeit seit Wochen. Es bestand zwar nur aus Brot, Suppe und einem Krug Wasser, doch das Brot war frisch, die Suppe kräftig und das Wasser war sogar mit Pfefferminz versetzt. Als ich mein Mahl beendet hatte, brauchte ich auch nicht lange zu warten, bis eben jene Novizin, diesmal mit einer jüngeren Begleitung, hereinkam. Während diese das Geschirr abräumte und den Wagen davon schob, bedeutete mir die Ältere ihr zu folgen. Und während sie mich durch die prunkvollen Hallen und Gänge des Klosters, durch seine Bibliotheken und Arbeitszimmer führte, fragte ich sie:
„Wie geht es Ashì-íra, meiner Pegasus? Lebt sie denn noch?“
„Ja, sie...lebt, wenn man es so nennen will.“
„Was meinen Sie damit, bitte, sagt es mir. Sie...sie bedeutet mir viel.“
Sie sah mich kurz aus den Augenwinkeln an: „Ich weiß es selbst nicht so genau. Dieser Stier, er hat ihren Geist mit Verzweiflung und Angst überrannt. Eine Medica animae kümmert sich um sie. Wissen Sie, was das für eine Monstrosität war?“
„Nein, ich, ich weiß es nicht. Ich habe so was noch nie gesehen.“
Doch! Du hast mich schon gesehen! Du weißt WER ich bin. Du weißt WAS ich bin!
Irgendetwas hallte in meinen Gedanken, doch ich konnte es nicht fassen. Der Gedanke, etwas zu wissen, ohne eine Erinnerung daran zu haben, verflog zu schnell. Und auch dieser Gedanke entschwand meinem Geist, ohne, dass ich misstrauisch werden konnte.
 
 
Unser Weg brachte uns zu einer großen doppelflügeligen Tür, an der sich meine Begleiterin mit dem Versprechen, sich um Ashì-íra zu kümmern, verabschiedete. Die Tür wurde von Innen geöffnet und ich betrat den prunkvollen Hörsaal des Seraphimklosters. Statuen von berühmten Gönnern des Klosters und einigen Helden der vergangenen Epochen, jede sicherlich fünfzehn Schritt hoch, stützen das gewaltige Kreuzgewölbe des Raumes. Hohe Buntglasfenster gaben einen atemberaubenden Blick auf das grandiose Bergpanorama frei. Sonnendurchflutet und mit Bildern geschmückt war dieser Hörsaal prunkvoller als der schönste in Al’Choram. Unten, an einem runden Tisch saßen vier Seraphim. Trotz dass sie leise flüsterten konnte man einige Worte verstehen:
„...Nein, ist nicht...verfluchte...ich sage Euch... das Böse...zurück...Unsinn, es ist...soll hier...Stier...“
Aufgeregt Gesten und manch scharfer Blick begleiteten dieses Duell des Wissens und der Vermutungen. Eine der Seraphim bemerkte mich: „Ah, da ist er ja! Der Herr Crudelitos. Ein reichliche seltsamer Name findet ihr nicht? Blutdurst, übersetzt.“
„Guten Morgen, Euer Gnaden“, erwiderte ich mit einer leichten Verbeugung. „Um was ging es bei Eurem Gespäch?“
„Nun“, eine der Seraphim stand auf. „Wie sie wissen, ist eine schreckliche Kreatur auf unsere Welt gekommen, und zwei der Unseren sind von uns gegangen.“
Eine Andere nickte unglücklich: „Sie sind von uns gegangen, doch sie sind bei den Göttern. Nicht wahr Aästha?“
Die erste Seraphim nickte bedächtig: „Ja, Niob. Das sind sie.“
Die Vierte Seraphim stand auf: „Was Schwester Miriam sicher noch sagen wollte, ist, dass wir nicht genau wissen, mit was wir es zu tun haben. Aber wir wissen, woher sie gekommen ist.“
Niob schüttete den Kopf: „Nicht genau, Anastasia. Aästha denkt, dass Dämonenpaktierer ihn gerufen haben, doch die Artigkeit seines Wesens ist uns nicht bekannt. Es muss etwas anderes gewesen sein.“
„Doch es steht nichts über ihn in den Alten Schriften. Und nur auf eine vage Vermutung hin ein Tor dahin zu öffnen, wo seine Restspur hingedeutet hat, halte ich für viel zu gefährlich!“, ereiferte sich Miriam. „Wer sollte so ein Risiko schon eingehen?“
„Ich“, sagte Niob. „Wir haben herausgefunden, dass meine Rüstung „Gaeicis Umarmung der Göttlichkeit“ mich vor der Hoffnungslosigkeit bewahrt hat. Und wohl auch bewahren wird.“
„Ach ja?“, schnappte Miriam. „Du ganz allein willst also hinübergehen? Niemand sonst hat so eine Rüstung wie Du!“
„Doch“, meinte Anastasia „Eine Rüstung haben wir noch. Diese ist allerdings nicht für eine Seraphim, sondern für einen Magier.“
Ich schaute sie verwirrt an: „Sie meine doch nicht etwa, verehrte Anastasia, dass ich mit Niob gehen soll, oder?“
„Doch, denn die Wege der Göttin sind nicht durchschaubar.“
„Es wird mir ein Vergnügen sein!“, meinte ich. Wohl etwas zu schnell, denn Niob zog die Augenbraue ein wenig nach oben. Doch dann lächelte sie plötzlich. „Mir auch... mir auch.“ Und so war es beschlossen.
Die Novizin, die mich hierher geführt hatte, wurde mit dem Auftrag gerufen, „Gaeicis magische Umarmung“ zu bringen und ein wenig Proviant zusammenzustellen. Als dies erledigt war, machten sich Niob, die anderen drei Seraphim und ich per Pferd auf zu der Stelle, an welcher der Stier nach Mandao, unsere Welt gekommen war. Die Gelehrten des Klosters hatten seine Restspur zurückverfolgt auf die Welt, von der er gekommen war. Nun war eine Magierin dabei ein Tor zu formen, um Niob und mir das Überwechseln auf diese Neue Welt zu ermöglichen.
Ich und Niob hatten jeweils unsere einzigartigen Rüstungen angezogen, und mir waren sogar noch einige besondere Runen eingeschmiedet worden. Ihre Rüstung war schwarz und die Meine weiß gehalten, doch jede glänzte im Gegenlicht Perlmuttfarben. Einlegearbeiten aus Silber und Alabaster verfeinerten den Anblick noch. Sie trug ihre lange Sturmsense und ich einen neuen Stab und ein neues Schwert, die ebenfalls zu der Rüstung gehörten. Niob schien über der Rüstung weiß und ich blau zu glänzen.
Das Tor, mittlerweile von der sehr spärlich bekleideten Magierin geformt, war fertig. Blass und fast durchsichtig, nichts als Schwärze zeigend, hing es haltlos in der Luft. Der Wind hatte sich gelegt und es herrschte gespenstige Stille. Niob und ich sahen uns an und – traten hindurch.

Von einem Augenblick auf den anderen standen wir auf einer sommerlichen Lichtung. Es war warm und ein leiser Wind ließ die ein wenig bläulichen Blätter rascheln. Vögel sangen und flogen von Ast zu Ast, beäugten uns vorsichtig und mit Misstrauen.
Niob sank mit einem Seufzen zu Boden, die Sense entglitt ihren kraftlosen Fingern.
„Die Göttin“, flüsterte sie leise. „Ist hier so schwach wie ein Seufzen im Wind.“
Ich kniete mich neben sie nieder und kam mir sehr hilflos vor. Die Seraphim, in Mandao ein Vorbild in Sachen Gottgefälligkeit und Glaube, war hier verlassen. Sie schaute ins Leere und ihre Lippen bewegten sich wie in einem stummen Gebet, mit dem sie die Göttin rufen wollte. Sie setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen hin und wurde ruhiger. Ich stand auf und trat einen Schritt von ihr weg, um sie in ihrem Gebet nicht zu stören.

Der Wind wehte ihren Duft zu mir herüber und ich atmete tief ein. Dieser Duft... diesen Duft hatte ich nicht mehr gerochen seit... seit... ich weiß es nicht mehr... Wie lang war es her, seit ich Niob das letzte Mal gesehen habe? Wie lang seit dem Überfall der Orks... Ob sie weiss, wer ich bin?
Ich schloss die Augen und setzte mich ebenfalls. Das laue Lüftchen trug Gebetsfetzen zu mir herüber und ich sprach sie leise mit. Hoffnung machte sich wieder breit in mir:
„...gib mir Kraft, o Herrin... lass mich nicht fehl gehen... in Zeiten der Düsternis... will ich Deinen Namen hochhalten – Ariàm!“
Niob hatte ihr Gebet beendet und war wieder aufgestanden. Ein leises Lächeln war jetzt auf ihren Lippen.
„Sie ist wieder da. Leise und schwach, aber sie ist in mir.“ Ich nickte ihr zu, in der Hoffnung nicht überheblich oder dergleichen zu wirken, denn dann wür...
Ein Krachen und Bersten ließ uns beide aufschrecken und mit einem leisen Geräusch hatte ich mein Schwert aus der Scheide gezogen und den Stab erhoben.
Niob hatte ihren Speer ergriffen und stand breitbeinig da, um jedweder Gefahr entgegenzutreten. Der Grund für den Lärm war ein seltsames Wesen, das aussah wie eine aufrechtgehende, etwa zweieinhalb Schritt hohe Katze, mit dem Fell eines Tigers. Behände und uns nicht im geringsten beachtend, hetzte es über die Lichtung und verschwand zweigepeitschend im Wald. Es war still geworden. Kein Vogel sang mehr. Der Wind frischte auf und trug den bitter-süßlichen Geruch von verwesendem Fleisch zu uns.
Dann hörten wir es. Ein leises Beben aus der Richtung, aus der auch das Katzenwesen gekommen war. Ein beständiges leichtes Beben, als ob sich eine Herde Rinder den Weg durch die Welt bahnte. Niob schaute mich an:
„Der Stier.“
Doch so schlimm kam es gar nicht – es kam schlimmer.
Auf der anderen Seite der Lichtung quollen Hunderte von seltsamen und abscheulichen Wesenheiten aus dem Wald. Wesen, dem Katzenwesen ähnlich, nur mit nachtschwarzem Fell und blutroten, fäulnisverheißenden Krallen kamen mit tödlicher Eleganz auf die Lichtung. Tückische Augen starrten uns an, gelbe Zähne wurden gebleckt. Jedes sicherlich genauso groß wie ich und gut doppelt so schwer. Gefolgt wurde diese Masse von zwei flammenumhüllten Stieren, die bedächtigen Schrittes auf die Lichtung traten.
Ich spürte, wie die Rüstung mich vor den Wellen von Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit beschützte. Diese mächtigen magischen Energien hatten Ashì-íra in die Knie gezwungen... Ashì-íra...
Als die Stiere merkten, dass sie uns nicht zum Aufgeben bringen konnten, brüllten sie. Sie brüllten ihren Hass und ihre Begierde nach Tod und Verderben hinaus. Die Kreaturen, Ausgeburten einer kranken Hölle, stürmten auf uns zu.
Sie waren noch hundert Schritt entfernt.
Niob hob ihren Speer und ich bereitete mich auf den Kampf vor.
Noch achtzig Schritt.
In Niobs Gesicht perlte eine einzige Träne, als sie wieder stumm ihre Lippen bewegte.
Noch sechzig Schritt.
Ich sah im Geiste, wie Ashì-íra zitternd im Schnee lag und aufgab. NEIN!
Noch vierzig Schritt.
Niob begann einen Choral zu singen. Laut und glockenhell schallte ihre Stimme über die Welt, als sie begann der Göttin zu huldigen. Dann stürmte sie dem Grauen entgegen.
Ich machte eine einzeln Handbewegung und in einem Meteoritenschwarm, in Feuer und Erz, vergingen einige der Wesenheiten.
Jetzt bist Du mein! Jetzt gehörst Du mir!
 
 Doch diesen Gedanken konnte ich nicht fassen. Nur noch zwei Schritt trennten Niob und die erste Welle voneinander, als sie ihre Sense schwang und drei zugleich enthauptete. Dann verschwand sie in den Massen. Doch ihr Choral erklang weiter. Und als ein nächster Hagel einschlug, dachte ich:
„Wir schaffen es. Wir werden es schaffen – irgendwie.“

Also, diese Geschichte fing mal als SACRED-Story-Contest-Geschichte an.

Da habe ich den siebenten Platz gemacht und war darüber so begeistert, dass ich micht entschlossen habe, die Geschichte weiterzuführen.

Und weil ich selbst noch keine Ahnung habe, wo das alles hinführen wird, wird es, so denke ich, auch für mich die eine oder andere überraschende Wendung geben.
André Skokow, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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