Robert Kuehl
Des Blinden Sicht
Es ist noch gar nicht lange her, da lebte in einem fernen
Land ein König, der den Namen „Schneekönig“ trug. Es war ein raues Land, in dem
er lebte; die Winter waren länger als die Sommer, dafür schien zuweilen auch
des Nachts die Sonne.
Der Schneekönig war ein besonderer König – so, wie man sich
einen König nur wünschen kann. Gerecht gegenüber seinen Untertanen, klug und
umsichtig in der Staatsführung, verbindlich im Umgang mit den Nachbarn, und
auch die übrigen kleinen Nickeligkeiten, die einem solchen König widerfahren,
regelte er souverän: Neider erkannte er, und von falschen Ratgebern trennte er
sich schnell. So umgab ihn bald eine Schar Menschen, die ihn entweder liebten,
teilweise bewunderten oder zumindest respektierten.
Kriege wurden selten um des Schneekönigs Reich. Er vermied
solche Auseinandersetzungen, die nach seiner Meinung nur Verlierer gebiert,
wich ihnen aber nicht aus. Wenn es denn einmal zum Kampf kam, ritt er voran und
war stets stärker, schneller und fintenreicher als seine Kontrahenten.
Das Volk führte ein gutes Leben unter unter seinem Regiment.
Die Steuern waren erträglich und aus der Sicherheit ihres Daseins konnten die
Bürger arbeiten und feiern und beteiligten sich auf diese Weise frohen Herzens
am inneren Wachstum des Reiches – im Sinne der Bedeutung dieses Wortes war
jedermann zufrieden mit dem, was er hatte. Heute würde man sagen, es war alles
„total easy“.
Mit zunehmendem Alter packten den Schneekönig jedoch
persönliche Zweifel. Er wusste nicht recht, warum und wie, aber dieses
unterschwellige Gefühl eines Fehls begann, mehr und mehr zu einem Begleiter zu
werden. Zunächst dachte er an den Effekt eines „Vakuums“, das ihn unruhig
machte, denn seine Staatsgeschäfte waren geregelt, immer weniger Zeit musste er
auf das Regieren verwenden. Aber umso mehr Zeit er hatte, desto größer wurde
das Gefühl, dass etwas fehlte. So begann er zu beobachten und zu suchen. Doch
so sehr er auch beobachtete und suchte fand er nichts, was nicht in Ordnung
gewesen wäre, nichts, das fehlte.
Um sich abzulenken und für sich zu sein begann der
Schneekönig mit Wanderungen durch seinen Palast. Jeden Raum erkundete er dabei,
jedes Ding beschaute er sich. Alles war gut, alles war schön, und jeder, der in
seinem Umfeld lebte, bestätigte ihm das dankbar.
Im Frühling begann der Schneekönig, seine unruhigen
Wanderungen auszuweiten. Immer größere Kreise zog er um das Schloss; durch die
sauberen Stallungen wanderte er, durch den großen, wunderbaren Park, vorbei am
See mit den weißen Schwänen bis zu der hohen, blühenden Rosenhecke, die die
Ländereien des Schneekönigs in voller Länge umgab.
Eines Tages fand er in der hintersten Ecke seines Gartens
einen Durchschlupf durch diese Hecke. Sein erster Gedanke war der Ruf nach dem
Gärtner, doch dann obsiegte die Neugier, und der König schlüpfte durch das Loch
in der Hecke, hinter der er eine Holzbank fand, die an einem Weg stand.
Er setzte sich um auszuruhen. Schon nach kurzer Zeit
erspähte er den ersten Menschen auf diesem Weg; der ging vorbei. Auch der nächste,
der übernächste und alle weiteren. Der Schneekönig fand es verwunderlich, dass
sie alle vorbeigingen und sich nicht auch auf der Bank ausruhten, denn das
Stück Wegs, das er einsehen konnte, war das Ende eines steilen Anstiegs.
So verging einige Zeit, als er einen Mann erblickte, der mit
einem Stock jeden Schritt des Weges vor sich erkundete. Offensichtlich war der
blind, näherte sich jedoch Schritt für Schritt. Dabei geriet er zwar manchmal
in Gefahr, sich abseits des Weges zu verlaufen, doch fand er immer wieder auf
ihn zurück. Es war sicherlich beschwerlich, dieserart eine Wanderung zu
unternehmen, doch wirkte der Blinde ziemlich entspannt und überhaupt nicht
unglücklich.
Als er sich der Bank näherte, von deren Vorhandensein er
offensichtlich wusste, schien zu spüren, dass schon ein Mensch darauf saß.
„Darf ich mich zu dir setzen, Mensch?“ fragte er, tastete sich heran mit seinem
dünnen Stab und nahm Platz neben dem Schneekönig.
„Sicher,“ antwortete der König, „es ist ja nicht meine
Bank“.
Das war zwar alles andere als eine herzliche Einladung,
trotzdem ließ sich der Blinde nicht beirren und blieb sitzen, um sich
auszuruhen.
Schweigend saßen sie zunächst nebeneinander, die Gesichter
der Sonne zugewandt. Und gerade, als der Schneekönig sich erheben wollte um zu
gehen, ergriff der Blinde das Wort: „Ist es nicht schön, solcherart in die
Sonne zu sehen?“
Der Schneekönig hätte fast laut aufgelacht ob diese Satzes
von ausgerechnet einem Blinden. „Ja, Blinder, schön hell,“ antwortete er ein
wenig amüsiert aber immer noch taktvoll.
‚Hm,’ dachte der Blinde bei sich, ‚wieder einer der nicht
richtig zuhören kann’. „Ja, siehst du denn nicht mehr?“
„Oh doch,“ war die Antwort, „ich sehe alles – auch das, was
du leider nicht sehen kannst. Soll ich es dir beschreiben?“ Und er hub an, dem
Blinden die Sonne zu schildern und den Himmel und alles, was er drum herum sah.
Es war die Schilderung eines aufmerksamen Beobachters, die auch jede noch so
kleine Kleinigkeit berücksichtigte. Das Bild, das sich daraufhin vor dem inneren
Auge des Blinden bildete, war deshalb ziemlich vollständig, doch es hatte für
ihn einen kleinen aber wesentlichen Makel: Wie es einem Bild eigen ist,
erschien es nur zweidimensional. Wo war die dritte Dimension, wie sah es hinter
der Sonne aus? Und hinter dem Hinter?
„Das kann man nicht sehen,“ erklärte der Schneekönig. „Es
gibt Vermutungen, was dahinter sein könnte, doch die Gelehrten streiten sich.“
„Und du,“ fragte der Blinde, „hast du nie versucht, hinter
die Sonne zu sehen?“
„Nein,“ sprach der Schneekönig, „das Wesentliche kenne ich
ja. Und damit lebe ich gut und sicher.“
„Und wenn du dich irrst? Wenn das Wesentliche erst hinter
der Sonne begänne und alles Wesentliche, das du kennst, dagegen unwesentlich
wäre? Würdest du dann nicht hinter die Sonne sehen wollen“
„Das sind Wortklaubereien, Blinder! Niemand kann hinter die
Sonne sehen, ohne sich zu blenden.“
„Und wenn man etwas anderes hätte als die Augen, um hinter
die Sonne zu sehen, würdest du dann hinter die Sonne sehen wollen?“
„Ich sehe sehr gut. Besser geht’s nicht. Und anders geht’s
nicht.“
„Oh, ich glaube doch, es geht anders. Sehen ist nämlich
nicht eine Frage der Augen, sondern eine des Sehens. Und das Sehen ergibt sich
aus dem Zuhören. Hast du die Menschen, die sich tags hier zu dir auf die Bank
setzen, einmal gefragt, was und wie sie sehen?“
„Es hat sich den ganzen Tag noch niemand zu mir gesetzt.“
„Wie kommt’s? Du riechst nicht übel, sprichst belesen –
wirkst du irgendwie hässlich oder abstoßend auf andere?“
„Nein, eigentlich nicht.“
„Was könnte denn an dir sein, was andere schreckt, sich zu
dir zu gesellen?“
„Ich weiß es nicht... vielleicht... weil ich der König bin?“
‚Ichnuwieder,’ dachte der Blinde seufzend, ‚nur einen
Menschen treffe ich auf diesem Weg und ausgerechnet das ist der König’. „Verzeiht
meine Despektierlichkeit.“ Und er erhob sich, seinen Weg fort zu setzen.
„Halt,“ sprach der König, „beantwortet mir noch eine Frage:
Warum habt Ihr Euch zu mir gesetzt, Blinder, und niemand sonst?“
„Eure Kleider, Majestät, Eure Kleider werden die Ursache
sein. Es wird sich an diesem Weg kaum jemand finden, der ähnlich gekleidet ist
wie Ihr. Wenn Ihr Euch einen passenderen Weg suchtet, als diesen, wäre
Gesellschaft leichter zu finden. Oder aber ihr wechselt die Kleider...“ sprach
der Blinde lächelnd und fügte grinsend hinzu: „Kleider machen Menschen...“
Und stöckchenklappernd wanderte der Blinde weiter auf dem
Weg in die untergehende Sonne hinein.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.09.2005.
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