Bernd Katzmarczyk

Ein letzter Kuss

                            
Seit Tagen schon konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Zu viel war in zu kurzer Zeit geschehen, als dass er es in irgendeiner Art und Weise hätte verarbeiten können.
In Vinz Kopf ist das totale Chaos ausgebrochen. Auch in diesem Moment, als der junge Zwanzigjährige die mit Pappeln gesäumte Strasse entlang hetzt überschlagen sich seine Gedanken. Er hat Mühe und Not sie unter Kontrolle zu bringen. Sein Blick ist zu Boden gerichtet und darauf bedacht dem Rhythmus seiner Füße zu folgen, die sich wie von selbst ihren Weg über das Kopfsteinpflaster bahnen. So lange er nicht aus diesem Rhythmus kommt, erträgt er den kurzen Weg entlang dieser sonst so schönen Allee. Feine Sandkörner knirschen unter den Sohlen seiner Schuhe und dieser Lärm geht ihm sichtlich auf den Geist. 
Den leicht süßlichen Duft der Pappeln, den selbst der Winter nicht entkräften kann, versucht er zu ignorieren. Nur noch wenige Meter geradeaus, dann biegt Vinz in eine Seitenstrasse ab und bleibt stehen. Er atmet tief und schwer durch, so als ob er kurz vor einem schweren Asthmaanfall stehen würde. Mit seinen Händen stützt er sich auf den Knien ab und wirkt jetzt mehr wie ein 100-Meter Läufer, der vor wenigen Augenblicken über das Ziel hinausgeschossen ist. Wie ein kleiner von Gleichaltrigen gehänselter Junge, der seine Verfolger abgeschüttelt hat, legt sich schließlich ein Gewinnerlächeln auf seine Lippen. Gleichzeitig lehnt er sich an die raue Wand einer der vielen alten Häuser, die sich noch in diesem Viertel der Stadt befinden und es zusammen mit der Pappelallee zu einem der romantischsten Orte dieser Welt machen.
Erschöpft und erleichtert sackt Vinz auf den Boden. Er wirft einen letzten gequälten Blick um die Ecke, zurück auf den Weg, den er gerade gekommen ist. Für den Bruchteil einer Sekunde verbreitet die Allee ein einsames verletzliches Gefühl. Eine fast unheimliche und unbehagliche Stimmung fängt den Zauber des Ortes ein und scheint ihn nicht wieder loslassen zu wollen. Kopfsteine ragen wie schiefe Zähne aus dem Boden. Die kargen blattlosen Pappeln strecken ihre knorrigen Äste sehnsüchtig in alle Himmelsrichtungen. Unter dem mit dunklen Wolken verhangenen Firmament ragen die schmalen knochigen Häuser in die Höhe. Tiefe Traurigkeit spiegelt sich in den Scheiben der Fenster. Selbst das wundersame natürliche Farbenspiel aller Dinge scheint vor diesem Ort geflüchtet zu sein.
Voller entsetzten wendet Vinz seinen Blick wieder ab. Seine Finger krallen sich in den Asphalt. Ein kurzer Schweißausbruch treibt ihm die Angst durch Mark und Bein und lässt eine letzte Träne hervorquellen.
Plötzlich legt sich ein Schatten über ihn. Erschrocken blickt Vinz nach oben und erkennt die schemenhaften Umrisse einer jungen Frau. Einzelne Strähnen ihres leicht gewellten schulterlangen Haars tanzen im Wind. Sie beugt sich zu ihm hinunter. Und je näher sie kommt, desto mehr offenbart sich ihm ihr hübsches Antlitz. Ihre magischen strahlenden Augen, in denen sich so viel Lebensfreude wiederspiegelt, verzaubern ihn. Das süße Lächeln auf ihrem Schmollmund rückt seine Welt in ein neues Licht. Ohne ein Wort zu sprechen und gleichzeitig so vielsagend, hockt sie jetzt vor ihm und blickt ihn einen Moment lang durchdringend an. Ein warmes wohliges Gefühl überkommt Vinz und lässt das verlorene Lächeln in sein Gesicht zurückkehren.
>Hi<, sagt sie.
>Hi<, erwidert Vinz zwanglos.
Stille!
Plötzlich überfällt beide ein sprachloses amüsiert kindliches Grinsen, während sie sich noch immer tief in die Augen blicken. Nur der Hauch ihres Atems verrät die Wirklichkeit des Moments.
>Wie geht es dir?<
>Ganz gut….na ja, geht so!<, drückt Vinz leise heraus.
>Kommst du ein Stück mit?<
Vinz nickt. Dann stehen sie beide gleichzeitig auf.
>Wohin gehen wir?<
>Weiß nicht. Vielleicht hier die Strasse runter.<
Sie zeigt auf die Allee.
Vinz reißt sich zusammen und wirft erneut einen Blick zurück auf die Allee. Und was er jetzt dort sieht, versetzt ihn in Erstaunen. Die Strasse mit den  Pappeln entfaltet auf einmal, mitten im Winter, ihre ganze Pracht. Kurzerhand stehen die Bäume in voller Blüte. Die Strahlen der Sonne durchdringen die dunklen Wolken und schmelzen die eisigen Schatten. Das wundersame Farbenspiel kehrt zurück und lässt die Häuser aufatmen. Einfach alles an diesem Ort wendet sich auf einmal dem Frühling zu.
Die Finger der jungen Frau berühren sanft die seinen und greifen dann nach seiner Hand. Irgendetwas scheint sie jedoch zu irritieren und folglich lässt sie seine Hand wieder los. Noch immer haben beide ihren Blick einander zugewandt, als sie diesen aufblühenden Ort betreten.
Eine leichte Brise trägt die Kirschblüten des angrenzenden Parks zu ihnen herüber. Die rosafarbenen Blätter tänzeln im warmen Wind.   
>Der Frühling ist dieses Jahr ein bisschen zu früh!<, kommt es Vinz erstaunt über die Lippen.
>Ich glaube, dass es nur eine kurze Laune der Natur ist und bald wieder der Winter zurückkehrt.<
>Aber es wäre doch schön, wenn der Frühling sich jetzt schon durchsetzen könnte.<
Sie schweigt, wendet ihren Blick ab und legt einen Schritt zu.
Verdutzt bleibt Vinz stehen und starrt ihr hinterher. Erst nach wenigen Schritten verharrt die junge Frau und erwidert seinen Blick mit dem selben Gesichtsausdruck.
>Was ist? Worauf wartest du?<
>Weiß nicht. Aber wenn du so schnell weiter läufst, sind wir bald am Ende der Straße angekommen.<
Wieder neigt sie ihr Gesicht dem Boden zu.
>Ich weiß. Aber auch wenn wir langsam laufen, sind wir irgendwann am Ende der Strasse angekommen!<
Vinz schüttelt den Kopf und geht auf sie zu.
>Schau dich doch mal um, siehst du nicht wie schön es hier ist? Warum können wir nicht einfach hier verweilen und es genießen?<
>Wir können den Moment festhalten, aber nicht die Zeit anhalten.<
>Dann lass uns den Moment auskosten.<
Die junge Frau nickt.
Ohne ein Wort zu sprechen setzen sie schlendernd ihren Weg fort. Immer wieder treffen sich ihre Blicke und huscht ein Lächeln über ihre Gesichter. Sie reden nicht viel und verstehen trotzdem was sie sagen. Jetzt kennen sie sich schon so lange und sie sind sich ihrer Freundschaft bewusst, dessen, dass nichts dieser etwas anhaben kann. Sie wollen beide nichts daran ändern und streben trotzdem nach mehr. Sie kennen beide Seiten des Lebens und haben sich unausgesprochen schon längst für eine entschieden.
Als die Sonne untergeht, verwandelt das Licht den Ort für kurze Zeit in ein Stillleben von vollendeter Anmut - Wolken ziehen nicht mehr, Blätter rascheln nicht mehr und Farben spielen nicht mehr. Für einen kurzen Augenblick, solange, bis die Dunkelheit das Bild schließlich verblassen lässt.
Am Ende der Strasse angekommen ist es Zeit Abschied zu nehmen.
>Sehen wir uns wieder?<, fragt Vinz vorsichtig.
>Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns so nicht wieder sehen!<
>Wieso?<
>Aus dem selben Grund aus dem sich unsere Wege gekreuzt haben. Weil es noch zu früh ist, dass der Frühling eingekehrt. Weil es den Lauf der Dinge ändern könnte.<
>Ein einzelner Frühlingstag bedeutet noch lange nicht, dass sich der Lauf der Dinge ändert.<, beschwichtigt er sie.
Das Mädchen senkt wieder ihren Kopf zu Boden.
>Ein einziger Tag nicht! Was aber, wenn daraus mehrere werden?<
>Dann soll es so sein. Dann können wir es eben nicht beeinflussen.<
>So lange wir es noch beeinflussen können, müssen wir es.<, kommt es mit leicht zittriger Stimme über ihre Lippen.
>Ich will dich zu nichts zwingen, aber du musst mir eins versprechen: wenn in ein paar Tagen immer noch Frühling ist, müssen wir uns hier wiedersehen!<
>Wenn das so ist, werde ich hier sein!<
Mit diesen Worten taucht die junge Frau in der Dunkelheit ab.
Vinz starrt ihr noch eine ganze Weile hinterher und obwohl es inzwischen stockfinster ist, verliert er sie erst nach langer Zeit, als sie schon längst in eine Seitenstrasse abgebogen ist, aus den Augen.
 
Wenige Tage später kämpft sich Vinz, in seine Jacke gehüllt, durch die winterlichen verschneiten Straßen zu der kleinen Pappelallee durch. Erwartungsvoll und gleichzeitig voller Furcht, dass der Winter wieder an diesen Ort zurückgekehrt sein könnte, biegt er um die Ecke.
Und tatsächlich, sein hoffnungsvolles Bitten hat Früchte getragen: anstatt des kaum erträglichen Winters offenbart sich ihm noch immer das Spiel des Frühlings.
Auf halber Strecke dieser Allee sitzt die junge Frau entspannt zurückgelehnt auf einer Parkbank. Warme Sonnenstrahlen legen sich auf ihre samtweiche Haut und einen glänzenden Schimmer auf ihr brünettes Haar. Ein wohliges Lächeln zaubert sich in ihr Gesicht, als Vinz sich ihr nähert. Kaum dass er in ihrer Nähe ist, ziehen ihn ihre mystischen lebensfrohen Augen und ihr Duft, der sie wie ein Schleier einhüllt, wieder in ihren Bann.
Mit einem schweigsamen Lächeln setzt sich Vinz neben sie. Ihre Nähe zu spüren tut ihm sichtlich gut. Die junge Frau schließt die Augen, als Vinz sich zu ihr hinüber beugt, ihr einen sanften Kuss auf die sonnenwarmen Wangen drückt und ihre leise ins Ohr haucht: >Ich habe gehofft, dass sich der Frühling gegen den Winter durchsetzt.<
>Hier ja, aber um uns herum ist es immer noch eiskalt!<
>Es ist mir egal, was um uns herum geschieht! Es zählt doch nur was jetzt und hier ist.<
Vinz greift nach ihrer Hand.
>Verstehst du, jetzt und hier ist der Frühling schon da. Wir können immer wieder hierher zurückkehren und müssen nicht darauf warten, bis der Winter zu Ende geht!<,
>So wie jetzt und hier aber der Frühling eingekehrt ist und bestehen bleibt, so kann der Winter um uns herum auch niemals zu Ende gehen! Dann wird es immer kalt bleiben.<
Sie zeigt zum Ende der Allee.
>Wenn wir da draußen sind werden wir wahrscheinlich frieren. Uns wird kalt sein, aber wir können uns in unsere Lieblingsdecken kuscheln. Die halten uns warm.<
Nachdenklich lehnt sich Vinz zurück und starrt zum Himmel. Er versteht genau was sie ihm damit sagen will. 
Gleichzeitig ziehen dicke Wolken auf und formieren sich zu einer bedrohlichen Schlechtwetterfront. Leichter Sprühregen als Vorbote des zurückkehrenden Winters setzt ein. Ein Regenbogen formt sich über ihnen und schließlich prasselt zwischen Sonnenstrahlen und Wolkenwand ein goldgelber Regen auf ihnen nieder.
Obwohl Vinz spürt, dass sich langsam wieder die Kälte ausbreitet; sieht, dass die Bäume ihre Blätter verlieren und die Schatten länger werden, bleibt das warme zufriedene Lächeln auf seinen Lippen bestehen.
Im strömenden Regen, der allmählich in Schnee übergeht, stehen sich Vinz und die junge Frau gegenüber. Vinz weiß, dass er nichts machen kann, dass es nicht in seiner Macht liegt den Lauf der Dinge zu ändern, ohne damit das natürliche Gleichgewicht aus der Fassung zu bringen. In seinem tiefsten Inneren hofft er, dass, wenn sie sich ein nächstes mal wieder hier begegnen, vielleicht der wahre Frühling eingekehrt ist – wann auch immer das sein mag. Bis dahin, dessen ist er sich bewusst, bleibt ihm nichts anderes übrig als zu warten, oder, so grausam dieser Gedanke auch sein mag, zu vergessen, um ihre Freundschaft nicht zu gefährden.
Beide blicken sich lange und tief in die Augen. Dicke Tropfen kullern ihnen über das Gesicht und fallen zu Boden. Langsam nähren sich ihre Lippen und berühren sich sanft. Ein letzter Kuss bringt zu Ende, was niemals wirklich begonnen hat.
Und als sich die junge Frau umdreht und geht, verwischen die Spuren auf dem Boden und hinterlassen ein Meer voll Sehnsucht.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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