Seit Tagen schon konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Zu viel
war in zu kurzer Zeit geschehen, als dass er es in irgendeiner Art und Weise
hätte verarbeiten können.
In Vinz Kopf ist das totale Chaos ausgebrochen. Auch in diesem Moment,
als der junge Zwanzigjährige die mit Pappeln gesäumte Strasse entlang hetzt
überschlagen sich seine Gedanken. Er hat Mühe und Not sie unter Kontrolle zu
bringen. Sein Blick ist zu Boden gerichtet und darauf bedacht dem Rhythmus
seiner Füße zu folgen, die sich wie von selbst ihren Weg über das
Kopfsteinpflaster bahnen. So lange er nicht aus diesem Rhythmus kommt, erträgt
er den kurzen Weg entlang dieser sonst so schönen Allee. Feine Sandkörner
knirschen unter den Sohlen seiner Schuhe und dieser Lärm geht ihm sichtlich auf
den Geist.
Den leicht süßlichen Duft der Pappeln, den selbst der Winter nicht
entkräften kann, versucht er zu ignorieren. Nur noch wenige Meter geradeaus,
dann biegt Vinz in eine Seitenstrasse ab und bleibt stehen. Er atmet tief und
schwer durch, so als ob er kurz vor einem schweren Asthmaanfall stehen würde.
Mit seinen Händen stützt er sich auf den Knien ab und wirkt jetzt mehr wie ein
100-Meter Läufer, der vor wenigen Augenblicken über das Ziel hinausgeschossen
ist. Wie ein kleiner von Gleichaltrigen gehänselter Junge, der seine Verfolger
abgeschüttelt hat, legt sich schließlich ein Gewinnerlächeln auf seine Lippen.
Gleichzeitig lehnt er sich an die raue Wand einer der vielen alten Häuser, die
sich noch in diesem Viertel der Stadt befinden und es zusammen mit der
Pappelallee zu einem der romantischsten Orte dieser Welt machen.
Erschöpft und erleichtert sackt Vinz auf den Boden. Er wirft einen
letzten gequälten Blick um die Ecke, zurück auf den Weg, den er gerade gekommen
ist. Für den Bruchteil einer Sekunde verbreitet die Allee ein einsames
verletzliches Gefühl. Eine fast unheimliche und unbehagliche Stimmung fängt den
Zauber des Ortes ein und scheint ihn nicht wieder loslassen zu wollen.
Kopfsteine ragen wie schiefe Zähne aus dem Boden. Die kargen blattlosen Pappeln
strecken ihre knorrigen Äste sehnsüchtig in alle Himmelsrichtungen. Unter dem
mit dunklen Wolken verhangenen Firmament ragen die schmalen knochigen Häuser in
die Höhe. Tiefe Traurigkeit spiegelt sich in den Scheiben der Fenster. Selbst
das wundersame natürliche Farbenspiel aller Dinge scheint vor diesem Ort
geflüchtet zu sein.
Voller entsetzten wendet Vinz seinen Blick wieder ab. Seine Finger
krallen sich in den Asphalt. Ein kurzer Schweißausbruch treibt ihm die Angst
durch Mark und Bein und lässt eine letzte Träne hervorquellen.
Plötzlich legt sich ein Schatten über ihn. Erschrocken blickt Vinz nach
oben und erkennt die schemenhaften Umrisse einer jungen Frau. Einzelne Strähnen
ihres leicht gewellten schulterlangen Haars tanzen im Wind. Sie beugt sich zu
ihm hinunter. Und je näher sie kommt, desto mehr offenbart sich ihm ihr
hübsches Antlitz. Ihre magischen strahlenden Augen, in denen sich so viel
Lebensfreude wiederspiegelt, verzaubern ihn. Das süße Lächeln auf ihrem
Schmollmund rückt seine Welt in ein neues Licht. Ohne ein Wort zu sprechen und
gleichzeitig so vielsagend, hockt sie jetzt vor ihm und blickt ihn einen Moment
lang durchdringend an. Ein warmes wohliges Gefühl überkommt Vinz und lässt das
verlorene Lächeln in sein Gesicht zurückkehren.
>Hi<, sagt sie.
>Hi<, erwidert Vinz zwanglos.
Stille!
Plötzlich überfällt beide ein sprachloses amüsiert kindliches Grinsen,
während sie sich noch immer tief in die Augen blicken. Nur der Hauch ihres
Atems verrät die Wirklichkeit des Moments.
>Wie geht es dir?<
>Ganz gut….na ja, geht so!<, drückt Vinz leise heraus.
>Kommst du ein Stück mit?<
Vinz nickt. Dann stehen sie beide gleichzeitig auf.
>Wohin gehen wir?<
>Weiß nicht. Vielleicht hier die Strasse runter.<
Sie zeigt auf die Allee.
Vinz reißt sich zusammen und wirft erneut einen Blick zurück auf die
Allee. Und was er jetzt dort sieht, versetzt ihn in Erstaunen. Die Strasse mit
den Pappeln entfaltet auf einmal,
mitten im Winter, ihre ganze Pracht. Kurzerhand stehen die Bäume in voller
Blüte. Die Strahlen der Sonne durchdringen die dunklen Wolken und schmelzen die
eisigen Schatten. Das wundersame Farbenspiel kehrt zurück und lässt die Häuser
aufatmen. Einfach alles an diesem Ort wendet sich auf einmal dem Frühling zu.
Die Finger der jungen Frau berühren sanft die seinen und greifen dann
nach seiner Hand. Irgendetwas scheint sie jedoch zu irritieren und folglich
lässt sie seine Hand wieder los. Noch immer haben beide ihren Blick einander
zugewandt, als sie diesen aufblühenden Ort betreten.
Eine leichte Brise trägt die Kirschblüten des angrenzenden Parks zu
ihnen herüber. Die rosafarbenen Blätter tänzeln im warmen Wind.
>Der Frühling ist dieses Jahr ein bisschen zu früh!<, kommt es
Vinz erstaunt über die Lippen.
>Ich glaube, dass es nur eine kurze Laune der Natur ist und bald
wieder der Winter zurückkehrt.<
>Aber es wäre doch schön, wenn der Frühling sich jetzt schon
durchsetzen könnte.<
Sie schweigt, wendet ihren Blick ab und legt einen Schritt zu.
Verdutzt bleibt Vinz stehen und starrt ihr hinterher. Erst nach wenigen
Schritten verharrt die junge Frau und erwidert seinen Blick mit dem selben
Gesichtsausdruck.
>Was ist? Worauf wartest du?<
>Weiß nicht. Aber wenn du so schnell weiter läufst, sind wir bald am
Ende der Straße angekommen.<
Wieder neigt sie ihr Gesicht dem Boden zu.
>Ich weiß. Aber auch wenn wir langsam laufen, sind wir irgendwann am
Ende der Strasse angekommen!<
Vinz schüttelt den Kopf und geht auf sie zu.
>Schau dich doch mal um, siehst du nicht wie schön es hier ist?
Warum können wir nicht einfach hier verweilen und es genießen?<
>Wir können den Moment festhalten, aber nicht die Zeit anhalten.<
>Dann lass uns den Moment auskosten.<
Die junge Frau nickt.
Ohne ein Wort zu sprechen setzen sie schlendernd ihren Weg fort. Immer
wieder treffen sich ihre Blicke und huscht ein Lächeln über ihre Gesichter. Sie
reden nicht viel und verstehen trotzdem was sie sagen. Jetzt kennen sie sich
schon so lange und sie sind sich ihrer Freundschaft bewusst, dessen, dass nichts
dieser etwas anhaben kann. Sie wollen beide nichts daran ändern und streben
trotzdem nach mehr. Sie kennen beide Seiten des Lebens und haben sich
unausgesprochen schon längst für eine entschieden.
Als die Sonne untergeht, verwandelt das Licht den Ort für kurze Zeit in
ein Stillleben von vollendeter Anmut - Wolken ziehen nicht mehr, Blätter
rascheln nicht mehr und Farben spielen nicht mehr. Für einen kurzen Augenblick,
solange, bis die Dunkelheit das Bild schließlich verblassen lässt.
Am Ende der Strasse angekommen ist es Zeit Abschied zu nehmen.
>Sehen wir uns wieder?<, fragt Vinz vorsichtig.
>Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns so nicht wieder sehen!<
>Wieso?<
>Aus dem selben Grund aus dem sich unsere Wege gekreuzt haben. Weil
es noch zu früh ist, dass der Frühling eingekehrt. Weil es den Lauf der Dinge
ändern könnte.<
>Ein einzelner Frühlingstag bedeutet noch lange nicht, dass sich der
Lauf der Dinge ändert.<, beschwichtigt er sie.
Das Mädchen senkt wieder ihren Kopf zu Boden.
>Ein einziger Tag nicht! Was aber, wenn daraus mehrere werden?<
>Dann soll es so sein. Dann können wir es eben nicht
beeinflussen.<
>So lange wir es noch beeinflussen können, müssen wir es.<, kommt
es mit leicht zittriger Stimme über ihre Lippen.
>Ich will dich zu nichts zwingen, aber du musst mir eins
versprechen: wenn in ein paar Tagen immer noch Frühling ist, müssen wir uns
hier wiedersehen!<
>Wenn das so ist, werde ich hier sein!<
Mit diesen Worten taucht die junge Frau in der Dunkelheit ab.
Vinz starrt ihr noch eine ganze Weile hinterher und obwohl es
inzwischen stockfinster ist, verliert er sie erst nach langer Zeit, als sie
schon längst in eine Seitenstrasse abgebogen ist, aus den Augen.
Wenige Tage später kämpft sich Vinz, in seine Jacke gehüllt, durch die
winterlichen verschneiten Straßen zu der kleinen Pappelallee durch.
Erwartungsvoll und gleichzeitig voller Furcht, dass der Winter wieder an diesen
Ort zurückgekehrt sein könnte, biegt er um die Ecke.
Und tatsächlich, sein hoffnungsvolles Bitten hat Früchte getragen: anstatt
des kaum erträglichen Winters offenbart sich ihm noch immer das Spiel des
Frühlings.
Auf halber Strecke dieser Allee sitzt die junge Frau entspannt
zurückgelehnt auf einer Parkbank. Warme Sonnenstrahlen legen sich auf ihre
samtweiche Haut und einen glänzenden Schimmer auf ihr brünettes Haar. Ein
wohliges Lächeln zaubert sich in ihr Gesicht, als Vinz sich ihr nähert. Kaum
dass er in ihrer Nähe ist, ziehen ihn ihre mystischen lebensfrohen Augen und
ihr Duft, der sie wie ein Schleier einhüllt, wieder in ihren Bann.
Mit einem schweigsamen Lächeln setzt sich Vinz neben sie. Ihre Nähe zu
spüren tut ihm sichtlich gut. Die junge Frau schließt die Augen, als Vinz sich
zu ihr hinüber beugt, ihr einen sanften Kuss auf die sonnenwarmen Wangen drückt
und ihre leise ins Ohr haucht: >Ich habe gehofft, dass sich der Frühling
gegen den Winter durchsetzt.<
>Hier ja, aber um uns herum ist es immer noch eiskalt!<
>Es ist mir egal, was um uns herum geschieht! Es zählt doch nur was
jetzt und hier ist.<
Vinz greift nach ihrer Hand.
>Verstehst du, jetzt und hier ist der Frühling schon da. Wir können
immer wieder hierher zurückkehren und müssen nicht darauf warten, bis der
Winter zu Ende geht!<,
>So wie jetzt und hier aber der Frühling eingekehrt ist und bestehen
bleibt, so kann der Winter um uns herum auch niemals zu Ende gehen! Dann wird
es immer kalt bleiben.<
Sie zeigt zum Ende der Allee.
>Wenn wir da draußen sind werden wir wahrscheinlich frieren. Uns
wird kalt sein, aber wir können uns in unsere Lieblingsdecken kuscheln. Die
halten uns warm.<
Nachdenklich lehnt sich Vinz zurück und starrt zum Himmel. Er versteht
genau was sie ihm damit sagen will.
Gleichzeitig ziehen dicke Wolken auf und formieren sich zu einer
bedrohlichen Schlechtwetterfront. Leichter Sprühregen als Vorbote des
zurückkehrenden Winters setzt ein. Ein Regenbogen formt sich über ihnen und
schließlich prasselt zwischen Sonnenstrahlen und Wolkenwand ein goldgelber
Regen auf ihnen nieder.
Obwohl Vinz spürt, dass sich langsam wieder die Kälte ausbreitet; sieht,
dass die Bäume ihre Blätter verlieren und die Schatten länger werden, bleibt
das warme zufriedene Lächeln auf seinen Lippen bestehen.
Im strömenden Regen, der allmählich in Schnee
übergeht, stehen sich Vinz und die junge Frau gegenüber. Vinz weiß, dass er
nichts machen kann, dass es nicht in seiner Macht liegt den Lauf der Dinge zu
ändern, ohne damit das natürliche Gleichgewicht aus der Fassung zu bringen. In
seinem tiefsten Inneren hofft er, dass, wenn sie sich ein nächstes mal wieder
hier begegnen, vielleicht der wahre Frühling eingekehrt ist – wann auch immer
das sein mag. Bis dahin, dessen ist er sich bewusst, bleibt ihm nichts anderes
übrig als zu warten, oder, so grausam dieser Gedanke auch sein mag, zu
vergessen, um ihre Freundschaft nicht zu gefährden.
Beide blicken sich lange und tief in die Augen. Dicke Tropfen kullern
ihnen über das Gesicht und fallen zu Boden. Langsam nähren sich ihre Lippen und
berühren sich sanft. Ein letzter Kuss bringt zu Ende, was niemals wirklich
begonnen hat.
Und als sich die junge Frau umdreht und geht, verwischen die Spuren auf
dem Boden und hinterlassen ein Meer voll Sehnsucht.