Manja Stegemann

Die Phase zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Anna stand am Fenster und blickte in den kleinen Garten hinter dem Haus. Gern säße sie dort auf der Bank in der Sonne, vielleicht könnte sie dann etwas klarer denken; doch wie immer in den letzten Wochen regnete es. Seufzend drehte sie sich weg, ihr Blick streifte den Computer und verharrte. Dieses Versteckspiel war kindisch und unfair; Hartmut hatte es verdient, zu erfahren, warum sie seiner Einladung nach Berlin nicht folgen konnte. Bisher redeten sie über alles, sogar über Annas Trauer, über die sie sonst kein Wort verlor. Doch nun machte Anna der Gedanke, Hartmut in der Gegenwart gegenüber zu stehen, weit mehr Angst als dieses Gefühl, eine Reise in ihre Vergangenheit anzutreten. Weil sie nicht wusste, wie sie ihm alles erklären sollte, war sie ihm ausgewichen; sie konnte sich auch jetzt nicht dazu überwinden, ihn zu kontaktieren. Mit raschen Schritten ging Anna zum Sofa und nahm eine Decke von der Lehne, die sie über den Computerbildschirm breitete. ‚Aus den Augen, aus dem Sinn!’, hieß es im Volksmund - sie wusste aus Erfahrung, dass das nicht funktionierte; versuchen aber wollte sie es trotzdem.

An der Wohnungstür klingelte es. Anna öffnete und fand sich in den Armen eines Polizisten wieder, den sie nicht erst am Duft seines After Shave erkannte. Gerade setzte er dazu an, sie durch die Luft zu wirbeln.
„Felix!“ Im letzten Moment löste sich Anna aus seinem Griff. „Was soll das?“
„Überraschung!“, lachte Felix und umarmte sie erneut, zu ihrem Glück weniger stürmisch als beim ersten Mal. „Alles Gute zum Geburtstag, Mum!“
„Danke.“ Leicht entrüstet schüttelte Anna den Kopf und strich ihre Bluse glatt; doch ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Lippen. Mit den Jahren wurde Felix seinem Vater immer ähnlicher. Auch Jakob war stürmisch und für alles Neue offen gewesen, wobei er stets gut gelaunt wirkte. Wie es dabei aber tief im Inneren ihrer beiden Männer wirklich aussah, konnte Anna nur erahnen; das empfand sie als anstrengend.
„Wie fühlt man sich so mit zweiundsechzig?“, wollte Felix wissen.
Entsetzt zog Anna ihre Stirn in Falten. „Ganz schlecht, aber das ist ja auch kein Wunder bei solchen Fragen!“
„Sorry, das musste sein.“ Felix grinste und reichte Anna einen Umschlag. „Für dich, von Lisa und mir.“
Unangenehm berührt drehte Anna das Kuvert in ihren Händen. Felix sollte ihr nichts schenken! Wenn der Kleine erst einmal auf Welt war, brauchten seine Eltern jeden Euro; den werdenden Papa aber das schien nicht zu belasten. Ungeduldig schaute er ihr auf die Finger.
„Was ist das?“, fragte Anna und hielt den Briefumschlag in das Licht; den Inhalt konnte sie trotzdem nicht erkennen.
„Keine Ahnung.“, erwiderte Felix achselzuckend. „Wenn du es aufmachst, weißt du es.“
„Ja, gleich.“, nickte Anna und trat zurück in ihren Flur. „Magst du einen Kaffee?“
„Gern.“ Als Anna in die Richtung ihrer Küche ging, hielt Felix sie an der Hand fest und zog sie in das Wohnzimmers. „Sobald du das Geschenk geöffnet hast.“
Anna ließ es geschehen. Es machte keinen Sinn, sich mit Felix zu streiten; schon als Kind war er hartnäckig und stur gewesen, was ihr seine Erziehung nicht erleichterte. Wenigstens verlor sich mit den Jahren sein unerträglicher Jähzorn. Bei der Vorstellung, er würde noch als erwachsener Mann wütend mit den Füssen aufstapfen und sich heulend auf den Boden werfen, musste sie lachen.
„Was ist?“, wollte Felix wissen.
„Nichts.“, nuschelte Anna, biss sie doch gerade die Zähne zusammen, um nicht erneut aufzulachen.

Anna setzte sich auf die Couch und öffnete das Kuvert; Felix durchwanderte ihr Wohnzimmer und sah sich um.
„Ist der Bildschirm kaputt?“, fragte er.
Doch Anna antwortete nicht; entsetzt starrte sie auf den Gutschein in ihrer Hand. Dieses Geschenk konnte nicht Felix’ Ernst sein! Hatte er sich etwa heimlich mit Hartmut abgesprochen?! Immerhin wusste Felix, in welchem Chat sich seine Mutter mit ihrer Bekanntschaft traf. Da war es ein Leichtes ...
„Oder warum hast du ihn abgedeckt?“, harkte Felix nach. „Irgendwie sieht das fast aus wie dieser dunkelbraune Monsterbildschirm aus den siebziger Jahren, von dem sich Papa nie trennen konnte - dabei war das Teil unhandlich und hässlich.“
„Was soll das?“, fragte Anna gereizt.
„Entschuldige.“, murmelte Felix und senkte den Blick. „Ich vergaß. Aber falls der Bildschirm wirklich kaputt sein sollte, musst du es nur sagen - ich besorge dir gerne einen neuen.“
Wütend schüttelte Anna den Kopf. „Das meine ich nicht!“
„Nicht?“ Irritiert fuhr sich Felix mit einer Hand über sein Kinn. „Was meinst du dann?“
„Wieso schenkst du mir einen Aufenthalt in Berlin?!“, fuhr sie ihn an.
Als hätte ihn der Schlag getroffen, stand Felix bewegungslos vor ihr und musterte sie verwirrt. Dann zog er eine Braue hoch. „Weil ich dachte, dass du dich darüber freust.“
Annas Wut verrauchte, ihr Sohn hatte Recht: Jeder normale Mensch wollte ab und an in seine alte Heimat reisen, was alles in allem genommen nicht billig war. Felix versuchte, ihr einen Wunsch zu erfüllen - und sie schrie ihn an.
„Tut mir leid.“, murmelte sie und legte den Gutschein auf den Couchtisch. „Das ist alles wirklich lieb gemeint.“
„Aber?“, fragte Felix.
Es war nicht ihr Wunsch, zu verreisen - schon gar nicht nach Berlin; wie unendlich froh war sie doch gewesen, als Felix sie vor einem halben Jahr von dort in seine Nähe holte. Und jetzt sollte sie wieder nach Berlin zurückkehren?
Anna schwieg, von der Mitte des Raumes aus musterte Felix sie fragend. Schließlich zog er sich vom Computertisch den Stuhl heran und setzte sich rittlings auf ihn. Sein fragender Blick wurde immer intensiver; Anna senkte ihren Kopf und studierte das Muster auf ihrem Teppich.
„Du musst aus deiner Wohnung raus und wieder etwas von der Welt sehen!“, erklärte Felix in die erdrückende Stille hinein.
Anna verzog ihr Gesicht. „Ich bin froh, hier endlich meine Ruhe zu haben.“
Bis vor drei Tagen war das Internet ihr Tor zur Welt; nun würde sie auf Fernsehen umsteigen oder Zeitung lesen.
„Aber du versauerst hier doch.“, blieb Felix hartnäckig. „Und da Hartmut in Berlin wohnt, dachte ich ...“
Also doch! Der Zorn meldete sich aus dem Schaltzentrum, Annas Magengegend; sie sprang auf und stemmte die geballten Fäuste in ihre Hüften. „...du müsstest mich verkuppeln, oder was? Wie kommst du dazu, dich in meine Angelegenheiten einzumischen?“
„Ich will dich verkuppeln?“, echote Felix und schüttelte überrascht mit dem Kopf. „Nein, das ist absoluter Quatsch, Mum, und das weißt du auch! Du bist doch schon immer quer durch Deutschland gefahren, um deine Internet-Bekanntschaften zu treffen, und deshalb ...“
„Das war früher!“, wiegelte Anna ab - als sie noch nicht permanent dieses Gefühl beherrschte, jeden aus ihrer Umgebung beim nächsten Atemzug verlieren zu können.
„Warum sollte es heute anders sein?“, erkundigte sich Felix erstaunt. „Immerhin hast du dich so in Papa ...“
Sie hielt das nicht länger aus. Kraftlos ließ sich Anna auf die Couch zurückfallen. Nein! Sie wollte sich nicht erinnern, sie wollte es einfach nicht! Doch die Bilder stiegen vor ihrem inneren Auge auf, als hätte sie das alles erst gestern erlebt: Jakobs Emails; ihre Treffen; der erste zaghafte Kuss; seine Freude darüber, Vater zu werden; sein Unfall; die Polizisten vor ihrer Tür. Tränen schossen ihr in die Augen.
„Lass deinen Vater aus dem Spiel!“, schrie sie Felix an.
Während er die Lehne des Stuhles so fest umklammerte, dass die Knöchel an den Händen weiß hervortraten, musterte er sie aufmerksam.
„Du könntest ihn besuchen.“, sagte er, ohne den Blick von ihr zu nehmen.
Anna spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht direkt in die Füße wich.
„Nein!“ Energisch schüttelte sie den Kopf. „Ich schicke Blumen.“
„Hast du etwa Angst, Papa könnte dir sagen, dass du endlich wieder anfangen sollst zu leben?“, fragte Felix.
Anna warf ihm einen bösen Blick zu. „Kümmere dich gefälligst um deine Ängste!“
„Das tue ich doch!“, gab Felix zurück. „Und meine Angst ist, auch noch dich zu verlieren! Du musst Papa endlich loslassen.“
„Woher willst du wissen, was ich muss?“, fauchte Anna. „Du bist nicht mein Psychologe!“
„Aber dein Sohn!“, konterte Felix. „Und ich möchte, dass es dir gut geht.“
„Dann lass mich mit diesem leidigen Thema in Ruhe.“, beschied Anna, drehte sich um und ging in die Richtung der Küche.
„Mir fehlt Papa auch!“, rief Felix ihr wütend nach. „Aber deswegen verhalte ich mich nicht seit einem Jahr, als wäre ich selber auch tot!“

Anna stand in der Küche, als sie Felix’ Worte erreichten und die Welt um sie herum ins Schwanken geriet. Sie drohte zu stürzen, krallte sich am plötzlich auf und ab schwebenden Küchentisch fest und zog sich zur Bank. Tränen, über ein Jahr zurückgehalten, strömten ihr über das Gesicht; ermattet sank sie vorn über auf die Tischplatte. Jemand setzte sich neben sie. Felix. Oder Jakob? Anna hielt den Atem an und sah nicht auf.
„Es tut mir leid.“, sagte ihr Nachbar und strich ihr über das Haar. „Wirklich, das wollte ich nicht!“
„Aber du kannst doch gar nichts dafür!“, schluchzte Anna. „Wenn dieser verdammte Geisterfahrer nicht auch noch ohne Licht ...“
„Bitte!“ Das Streicheln wurde intensiver. Er legte ihr einen Arm um beide Schulter und wiegte sie sanft. „Quäl’ dich doch nicht so!“
„Du hast leicht reden!“, brauste Anna auf. „Ich verletzte doch alle.“
Sie verletzte Jakob, weil sie nicht an sein Grab ging; Felix, weil sie sein Geschenk nicht wollte, und Hartmut, weil sie nicht mehr mit ihm redete.
„Mich verletzt du nicht.“, versuchte er, sie zu beruhigen; sein Atem kitzelte ihr Ohr.
Anna schniefte laut. „Und wenn Hartmut nun richtig in mein Leben tritt?“
„Gefällt er dir vielleicht gar nicht mehr.“
„Oder zu sehr.“, gab Anna zu bedenken.
„Und?“, fragte er irritiert. „Das wäre doch schön.“
Vorsichtig massierte er ihr den Nacken. Anna stockte der Atem.
„Du wärst nicht böse?“, fragte sie und versuchte nun doch, zu dem Mann neben sich aufzusehen, fühlte sich aber zu schwach, um seinen Arm von ihrer Schulter zu stoßen.
„Nein!“, antwortete er, und seine Stimme klang erstaunt. „Warum sollte ich dir böse sein? Ich möchte doch, dass du glücklich bist!“
„Ich liebe dich.“, flüsterte Anna und schloss erleichtert lächelnd ihre Augen.
„Ich hab’ dich auch lieb.“, sagte er und küsste sie sanft auf die Wange.

Erneut klingelte es an der Wohnungstür. Anna sah auf, doch der Mann neben ihr war verschwunden. War es doch Jakob gewesen? Sie schüttelte den Kopf. Jetzt wurde sie endgültig verrückt!
„Es ist meine Schuld, Herr Lange!“, hörte sie Felix im Flur sagen. „Warum musste ich sie auch immer weiter bedrängen?“
„Machen Sie sich keine Gedanken.“, antwortete eine tiefe Stimme in beruhigendem Tonfall. „Ich bin - oder besser - war Arzt. Wir schaffen das schon.“
Schritte erklangen, die Tür ging auf.
„Dann wollen wir uns die Patientin mal anschauen.“, sagte der Mann, der neben Felix im Türrahmen auftauchte.
Anna zwinkerte verblüfft. „Hartmut?“
„Na, Geburtstagskind?“, sagte Hartmut lächelnd, setzte sich neben sie und tastete nach ihrem Puls. Hinter ihm setzte Felix Wasser auf. „Was machst du denn für Sachen?“
„Ich ...“ Anna brach ab und starrte ihn an. „Und was machst du hier?“
„Wenn der Prophet keine Emails mehr liest, muss der Berg eben auf Reisen gehen.“, sagte er und half ihr auf die Beine. „Und du gehst jetzt erst mal ins Bett. Morgen sieht die Welt dann schon wieder ganz anders aus.“
„Kneif mich vorher mal!“, bat sie ihn. „... Au!“
Anna lächelte matt. Hartmut gegenüberzustehen war nicht so schlimm wie befürchtet, und der Schmerz bei dem Gedanken an Jakob fühlte sich unerwartet dumpf an; wie eine eiternde Wunde, die begann, ganz langsam zu verheilen.
„Wir gehen Schritt für Schritt.“, sagte Hartmut und geleitete Anna zur Tür. „Du hast alle Zeit der Welt.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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