Robert Kuehl

Seelenvogel

Hast du ihn schon mal gesehen, deinen Seelenvogel? Meinen sehe ich oft; er sitzt auf meiner Schulter, oder er kreist hoch über mir unter dem blauen Himmel. Manchmal ist er dann nur als ein kleiner Punkt zu erkennen. Und wenn ich ihn mal überhaupt nicht sehen kann, höre ich an seinem Schrei, dass er über mir ist.
Es ist ein merkwürdiges Ding mit diesem Vogel. Ich weiß nicht, ob ich ihn wegen seiner Buntheit mit einem Papagei vergleichen soll oder mit einem Falken ob seiner Flugeigenschaften. Die Ironie treibt mich sogar zum Vergleich mit einem Chamäleon. Denn es gab Zeiten, da erschien mein Seelenvogel mir schwarz wie eine Krähe oder gar als ein gerupftes Huhn.Damals hätte ich ihn gerne umgetauscht. Aber irgendwie geht das nicht, seine Treue ist nicht auf andere Menschen übertragbar. Also musste ich lernen, mich mit ihm abzufinden und dann, mit ihm umzugehen.Als ich ihn das erste Mal bemerkte, saß er in einem Käfig auf dem Boden in der hintersten, dunkelsten Ecke. Schwarz erschien das Gefieder und stumpf, und die Flügel hingen ihm an den Seiten hinab. Traurig schaute mein Seelenvogel mich durch die Gitterstäbe an, kraftlos wirkte er dabei. Mit ein paar leckeren Brocken, die ich ihm vorwarf, versuchte ich zwar, ihn zu Kräften zu bringen, aber wir beide hatten wohl verschiedene Vorstellungen von dem, was ihm schmecken würde.Die erste Veränderung in seinem Verhalten bemerkte ich, als ich einmal die Käfigtür öffnete. Es schien mir, als würde er aufmerksamer blicken – irgendwie wacher als sonst. Als ich dann bei geöffneter Tür ein paar Schritte zurück trat, schien seine Haltung sich zu straffen. Als ich die Käfigtür wieder schloss, sackte er in seiner Ecke wieder in sich zusammen. Ich vermutete, er wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, mir zu entwischen, der Schlingel.Doch so, wie er da saß, konnte es auch nicht weiter gehen. Umso mehr ich ihn wahr nahm, desto mehr tat er mir leid, der arme Kerl. Eines Tages beschloss ich deshalb, mich von ihm zu verabschieden. Irgendwie hatte ich ja so gar nichts von ihm. Also ließ ich die Käfigtür offen und zog mich von seinem Gefängnis so weit zurück, dass ich’s gerade noch beobachten konnte.Diesmal hatte ich nicht nur das Gefühl, er würde sich straffen, sondern ich sah es ganz deutlich. Langsam tastete er sich an die offene Tür heran und hüpfte dann mit einem Satz auf die kleine Stange, die als eine Art Schwelle davor befestigt war. Dort traf ihn das erste Mal das Sonnenlicht, und ich erkannte, dass er gar nicht schwarz war, sondern ein buntes Gefieder hatte. Es glänzte zwar nicht und tendierte ein wenig ins Grau, doch die Farbigkeit war nicht mehr zu übersehen.Sein erster Flugversuch endete beinahe schon so 15 Zentimeter vom Käfig entfernt in einer Bauchlandung. Aber nur fast – irgendwie schaffte er es dann doch, mit aufgeregtem Flügelschlag der Kollision mit dem Boden zu entgehen, höher in die Luft zu steigen und sich aus meinem Sichtfeld zu entfernen.Ich saß einfach da, und ließ meine Gedanken mit ihm fliegen...Baff erstaunt sah ich etwas später, dass er zurück kam. Punktgenau landete er auf seiner Stange. Er schien sehr außer Atem. Das Gefieder war ein wenig zerzaust, in seinem kleinen Brustkorb sah ich das Herz bullern, und pfeifend vernahm ich seinen durch den Schnabel gepressten Atem.An diesem Tag ließ ich die Käfigtür offen. Und auch an jedem folgenden Tag. Mir gefiel die Veränderung, die ich an meinem Seelenvogel beobachten konnte. Mehr und mehr begann sein Gefieder samten zu leuchten, und irgendwann sang er sogar – ich hatte den Eindruck, es wäre für mich.Seit ich ihn fliegen lassen kann, meinen Seelenvogel, macht es mir Spaß, mich daran zu erfreuen, dass er lebt – dass er ist. Die Freude darüber hat die Angst vertrieben, ihn zu verlieren. Und es ist ein echt gutes Gefühl, mit einem solchen Seelenvogel zu leben. Schau mal, wie er fliegt...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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