Ingrid Grote

The village – ein Dorf vor dem Wald

Der Geruch wehte mich an, als ich gerade auf irgendeinem Parkplatz aus dem Auto stieg, und dieser Geruch ließ mich erzittern. Ich kannte ihn. Er war eine Mischung aus zerdrückten Himbeeren und aus Schweinebraten. Er war der Duft meiner Kindheit, und mir stiegen unwillkürlich Tränen in die Augen, obwohl ich sonst überhaupt nie weine.

 

Aber das war mein Dorf, meine Ferien, meine Kindheit. Ich versuchte, mit geschlossenen Augen alle Moleküle dieses Geruchs in mir aufzunehmen, und alle Synapsen in meinem Gehirn schlossen sich zusammen, stellten Verbindungen her zur Vergangenheit, schufen Stimmungen, stellten Szenen dar, und ich glaube, für Sekunden war ich so glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben. Und dann war es vorbei, kein Geruch mehr, und ich war... nicht mehr glücklich. Ganz im Gegenteil. Es ist alles vorbei. Meine Kindheit ist schon so lange Vergangenheit, dass sie gar nicht mehr real zu nennen ist.

 

Seitdem ich diesen Geruch wahrgenommen hatte, war ich besessen davon, etwas über meine Kindheit niederzuschreiben, aber es scheiterte natürlich an meinen mangelnden Schreibkünsten. Meine ersten Versuche vor ein paar Jahren waren eher dazu geeignet, mir beim Lesen derselben innere Blutungen zu verschaffen. Aber so allmählich mit ein bisschen Übung bin ich vielleicht in der Lage, meine Kindheit in schriftlicher Form aufleben zu lassen. Und ich hätte dann etwas in der Hand für mich alleine, auch wenn es sonst niemanden interessiert. Was soll’s! Ich fang einfach an. Allerdings sind meine Erinnerungen ein bisschen ungeordnet, die Jahre gehen ineinander über. Aber es soll ja nur eine Imagination geschaffen werden, ein Eindruck, eine Vorstellung. Also:

 

 

Die Vorgeschichte:

 

Meine Eltern hatten sich gen Ende des Krieges kennen gelernt, als die Familie meiner Mutter aus der Tschechei (wurde damals so genannt) evakuiert wurde und unter der Herrschaft ihrer Patriarchin, die dann später meine Urgrossmutter wurde, in diesem Dorf im südlichen Niedersachsen strandete. Meine Vorfahren bestehen mütterlicherseits aus der ungarisch-tschechischen-kohlenpöttischen Linie und väterlicherseits aus der niedersächsischen oder besser gesagt der ostfälischen Linie. Mütterlicherseits habe ich die Figur geerbt und väterlicherseits die Farben. Mein Gesicht ähnelt keinem meiner Verwandten, höchstens der Mutter meiner Mutter. Und natürlich wurde ich evangelisch getauft, meine katholische Mutter hatte keine Chance, das zu verhindern.

 

1954 zogen meine Eltern mit meiner Wenigkeit (ich war vier Jahre alt) in das vielversprechende Ruhrgebiet. In den Großstädten des Ruhrgebiets gab es nämlich Arbeit, was man vom Dorf nicht gerade behaupten konnte. Mein Vater ließ seine Mutter, seinen jüngeren Bruder und die zwei jüngeren Schwestern zurück. Mein Großvater war im Krieg gefallen. Lisa, die jüngste Schwester verließ ein paar Jahre später das Dorf, sie hatte immer schon den Drang gehabt, aus der ländlichen Umklammerung, wie sie das Dorf nannte, auszubrechen. Mein Onkel heiratete ins Nachbardorf.

 

 

Wie man auf dem Dorf lebte:

 

Fortan verbrachte ich jedes Jahr ein paar Wochen in Daarau, so werde ich mein Dorf nennen. Meine Großmutter lebte mit ihrer zweitältesten Tochter, also mit meiner Tante Irmgard in einem dieser seltsamen Häuser, die es bestimmt nur auf den Dörfern gibt. Es war ein Fachwerkhaus, unten befand sich ein sehr großer Raum, der als Küche und als Wohnzimmer benutzt wurde. Und es gab eine große Speisenkammer, denn Kühlschränke waren noch ziemlich unbekannt oder unerschwinglich. In der Speisenkammer hingen riesige Schinken und Mettwürste. Der Schinken erinnerte – das habe ich erst später entdeckt – an italienischen Parmaschinken, der ja auch ungeräuchert und luftgetrocknet ist. Schinken, Mettwürste und auch das Schmalz stammten von einem der jeweils zwei Schweine, die im Stall des Hauses mit Essensabfällen gemästet wurden. Der Stall befand sich im gleichen Haus, und wenn man durch die Tür neben dem Kohleofen ging, kam man in eine große mit Steinen gepflasterte Halle. Geradeaus ging es in eine Art Waschküche mit einer Wassermotor-Waschmaschine, und links ging es durch einen finsteren Gang in den Stall. Meistens grunzten zwei Schweine in ihrem Koben, und wenn es Futter gab, steigerte sich ihr Grunzen zu einem verheerenden Kreischen und Quieken.

 

Es gab auch einen Verschlag für die Hühner, aber die liefen tagsüber draußen auf dem Hof herum oder auf der großen mit Apfel und Pflaumenbäumen bestückten Wiese.

 

Auch die beiden weißen Ziegen grasten tagsüber auf der Wiese, und wurden abends von Oma in ihren Stall gebracht. Ich hatte mächtig Respekt vor den beiden meist schlechtgelaunten Zicken.

 

Gut, das war also unten. Oben befanden sich zwei Schlafzimmer, eins wurde von Oma benutzt und von mir, wenn ich da war, und das andere gehörte meiner Tante Irmgard, die dann geheiratet hat und mit ihrem Mann Friedhelm dort lebte.

 

Fehlt da nicht irgend etwas? Ja tatsächlich, es gab kein Klo, und es gab auch kein Badezimmer. Nun denn, es gab schon ein Klo, aber es handelte sich um eines dieser archaischen Foltergeräte, nämlich um ein Plumpsklo. Dieses Plumpsklo war der Schrecken meiner Kindheit. Schnell verwöhnt vom städtischen Luxus fand ich es grauenhaft, in dieses finstere stinkende Kabuff zu gehen und mich auf eine der zwei runden Öffnungen zu setzen. Zwei Öffnungen? Ja tatsächlich, es war ein Zweisitzer, wahrscheinlich von wegen der Geselligkeit... Jedenfalls verspürte ich absolut keine Lust, meinen Popo dem unbekannten Grauen auszusetzen, das unter mir vielleicht lauerte. Also verrichtete ich meine Notdurft lieber am Rande des Misthaufens, und ich hoffe, es hat mich nie einer dabei gesehen...

 

Zum Glück gab es Nachttöpfe in den Schlafzimmern. Zum Unglück gab es keine Heizung in den Schlafzimmern, das war im Winter fatal, man musste viele Wärmflaschen vorbereiten bevor man den Gang ins Bett wagte, viele zusätzliche Wolldecken benutzen und durfte vor allem nicht die Nase aus dem Bettzeug heraushalten, sonst fror sie schnell ab. Welch entsetzliche Kälte! Dem Himmel sei Dank war ich nur selten im Winter dort, außer zu Weihnachten vielleicht. Andererseits war es im Winter wunderschön in Daarau, fast immer lag an Weihnachten Schnee, aber leider dann immer so hoch, dass man nicht Schlittenfahren konnte.

 

Gut, es gab kein Wasserklosett und kein Badezimmer, und man badete in der Waschküche in einem großen Zuber, in dem jedes Mal eine Menge warmes Wasser erwärmt werden musste. Ansonsten kann ich mich kaum daran erinnern, wie die tägliche Körperreinigung vonstatten ging. Oder hab ich’s verdrängt?

 

Ein riesiger Kohleherd heizte die Wohnküche. Das Holz, das meine Oma im Sommer gehackt und feinsäuberlich zu einem dieser akkuraten großen Stapel aufgeschichtet hatte, wurde Stück für Stück im Laufe des Winters verbrannt.. Manchmal kochte sie sogar auf diesem emaillierten Ofen, obwohl sie schon einen Elektroherd hatte.

 

Diese Wohnküche war der gemütlichste Ort auf der Welt. Am Esstisch stand ein uraltes Sofa, das ich ‚mein Hoppsala-Sofa’ nannte, und wie der Titel schon sagte, hopste und sprang ich gewaltig auf diesem Sofa herum. Ich hab es nicht kaputtgekriegt, es war wohl von bester Qualität.

 

Und auf diesem Sofa konnte man wunderbar Bücher lesen, vor allem bei schlechtem Wetter, und schlechtes Wetter war eigentlich die Norm in all den Jahren. Meine Bücher bezog ich aus dem Bücherfundus meiner Tante Lisa, der jüngsten Schwester meines Vaters. Es gab da Werke wie ‚Die Blechtrommel’, ‚Lolita’ und ‚Lady Chatterly’ und vor allem die Kurzgeschichten von Daphne du Maurier, die ich mir im Alter von zehn oder elf Jahren einverleibte. Lolita fand ich irgendwie doof. Wie ich Lady Chatterly fand, weiß ich nicht mehr so genau. Ich glaube aber, dass dieses Werk keinen großen Schaden an meiner kindlichen Seele angerichtet hat. Da waren andere Kräfte, nicht literarischen Ursprungs, am Werke, aber nicht in Daarau. In Daarau genoss ich die höchstmögliche Freiheit, die ein Kind genießen konnte, und ich war sogar mit zwölf Jahren noch ein Kind, heute vielleicht eine Unmöglichkeit, aber ich glaube, ich wollte nicht so schnell erwachsen werden, ich war und bin eben ein Spätzunder, bei mir dauert alles immer ein bisschen länger.

 

In der Wohnküche fand auch die sogenannte Vesper statt, das nachmittägliche Kaffeetrinken. Aber richtiger Bohnenkaffee wurde nur an den Sonntagen kredenzt, es gab normalerweise Malzkaffee oder frische Milch, die meine Oma immer in riesigen Kannen vom Bauern bekam. Es gab dieses herrliche Brot mit einer Oberfläche, die so glänzend aussah wie lackiert, dazu selbstgemachtes Schmalz oder selbstgemachte Ziegenbutter, die meine Oma aus der wässrigen, leicht bläulich aussehenden Milch ihrer beiden Ziegen gewann. Sie drehte solange an dem Rädchen ihrer kleinen Zentrifuge, bis sich das Fett in der Milch von den anderen wässrigen Substanzen schied. Dann wurden die so gewonnenen Fettklumpen in ein Tuch gelegt, und das Tuch wurde solange ausgewrungen, geknetet und wieder ausgewrungen, bis der letzte Tropfen Flüssigkeit heraus war. Und dann war es endlich Ziegenbutter, die immer in Kugelform auf einem kleinen Teller serviert wurde. Ich liebte diese Ziegenbutter.

 

 

Das Wetter:

 

Der Winter war zwar schön, aber es ist der Sommer, der meine Erinnerungen an Daarau bestimmt. Der Sommer allgemein, denn ich kann die vielen Sommer nicht mehr voneinander unterscheiden. Ich weiß nur noch, dass es nie lange warm oder gar sonnig war, immer herrschte das typische Seeklima mit den Tiefs, die von Westen her über den Everstein mit seinem kleineren Bruderhügel heranzogen. Dieser Berg, der Eberstein, beflügelte wie kein anderer Berg meine Fantasie. Es gab nämlich eine Ruine auf seinem Gipfel, genauer gesagt waren es nur ein paar riesige Steinquader, die dort wild herumlagen, aber ich fuhr öfter mit dem Fahrrad dort hin, manchmal mit meinem Cousin mütterlicherseits, wenn er auch die Ferien in Daarau verbrachte, und wir versuchten angestrengt, den geheimen Gang zu finden, der unterirdisch zu der anderen Ruine führen sollte, nämlich zu der auf der Homburg, einem Berg auf der anderen Seite des Tales. Die Grafen von Everstein sollen Raubritter gewesen sein, während die von der Homburg angeblich die ’Guten’ waren. Natürlich haben mein Cousin und ich nie den geheimen Gang gefunden. Wenn er jemals existiert hat, dann war er bestimmt lange schon verschüttet.

 

Diese Tiefs, die in ununterbrochener Folge über das Land zogen, brachten natürlich auch viel Regen mit sich. Ich kann mich an Jahre erinnern, da trug ich immer einen dieser braunen Nylonmäntel, während ich mit meinem riesigen Fahrrad unterwegs war. Himmel, ich kam ja im Sitzen kaum an die Pedalen heran. Ging aber trotzdem. Und dieser braune Nylonmantel, den ich über meinem Röckchen trug, war damals der letzte Schrei der Mode. Nylon war total neu, es galt als das Nonplusultra unter den Stoffen, und jeder Mann trug Nylonhemden, bis sich dann herausstellte, dass diese Hemden zwar absolut bügelfrei waren, dass sie aber nach kurzer Zeit den Schweißgeruch so verstärkten, dass der Gestank kaum auszuhalten war. Gab es damals eigentlich schon Deodorants? Aber die hätten auch nichts gebracht...

 

Und apropos Röckchen, richtige Hosen trugen Mädchen erst Jahre später. Meine Deutschlehrerin schaute mich an, als wäre ich nicht ganz gescheit, als ich mit meiner ersten richtigen Hose in der Schule aufkreuzte. Es war eine ganz normal geschnittene Hose. Vorher hatte es nur die sogenannten Steg- oder Skihosen gegeben, aber die passten mir nie, sie waren immer zu kurz und zogen sich im Schritt herunter, oder sie waren zu weit, wenn die Länge passen sollte. Die waren grauenhaft. Und sie waren für Jungen und für Mädchen!?!

 

Ich fuhr im Regen herum und suchte nach irgendeinem Jungen, der auch in Daarau die Ferien verbrachte. Ich hatte ihn zweimal gesehen und war ein bisschen verliebt in ihn. Ich muss damals so an die zwölf gewesen sein. Er war blond und sah ein bisschen aus wie der Typ in einer dieser Western-Serien, die es damals gab, nein, jetzt weiß ich’s, es war dieser blonde Typ, dieser Jim aus Fury. Was gab es damals an Fernsehserien? Natürlich Lassie, ferner RinTinTin, Corky und natürlich Fury. Meine Oma besaß noch keinen Fernseher, aber in der Großstadt hatten wir schon einen. Seltsam, ich stand immer auf blonde Männer wie zum Beispiel auf Jim, bin aber immer an dunkle gekommen. Übrigens habe ich nie rausgekriegt, wo dieser Junge wohnte, und meine Oma wollte ich nicht danach fragen. Obwohl sie es gewusst hätte.

 

Wenn sich endlich einmal die Sonne durchgesetzt und die letzten Wolken am Himmel vertrieben hatte, dann herrschte übergangslos hektische Betriebsamkeit. Man fuhr mit dem Leiterwagen auf die Felder, um die Getreidebündel, die man vorher zu Haufen geschichtet hatte – eine Kunst übrigens, die mittlerweile wohl ausgestorben ist – schleunigst auf die Wagen zu laden und dann schleunigst die voll beladenen Wagen zur Dreschscheune zu bringen. Es gab zwar schon Mähdrescher, aber die konnte sich keiner der Bauern leisten, auch nicht ausleihweise, und dafür gab es halt die schon elektrifizierte Dreschscheune, die jeder im Dorf benutzen konnte.

 

Manchmal blieb das Wetter sogar gut und entlud sich nicht gleich in heftigen Gewittern, und das war noch herrlicher. Der Himmel blieb dann strahlend blau, und ich liebte es, auf den steinigen ausgewaschenen Feldwegen entlang zu wandern. Manchmal stand noch ein bisschen Getreide hier und dort, ich weiß noch genau, dass ich den Hafer mit seinen vielen Rispen am liebsten mochte, ich pflückte Kornblumen und Klatschmohn, legte ein bisschen Hafer, ein bisschen Gerste mit langen klebrigen Spelzen, ein bisschen gedrungenen rundlichen Weizen und den etwas schlankeren Roggen dazu und hatte einen prächtigen Strauß, der allerdings nicht lange vorhielt, bis auf das Getreide. Manchmal hörte ich hoch über mir einen jubilierenden Vogelgesang, und ich wusste genau, weil meine Oma es mir gesagt hatte, dass es sich um eine Lerche handelte. Sie sang vorzugsweise in der Mittagsglut und sie schwebte so weit über mir, dass ich erst nach einiger Zeit einen winzigen schwarzen Punkt sehen konnte.

 

 

Was man in den Ferien so macht:

 

Was trieb ich sonst so? Es ist alles ein bisschen verschwommen, aber ich weiß genau, dass ich nie Langeweile hatte. Manchmal begleitete ich meine Oma zum Großbauern des Dorfes. Auf dessen Bauernhof arbeitete sie als Tagelöhnerin. Die Frau des Bauern lag schon seit Jahren gelähmt im Bett, es war ein furchtbarer Anblick, denn sie war sehr lieb und auch sehr unglücklich, dass ausgerechnet sie als Bäuerin nichts arbeiten konnte. Und es gab soviel Arbeit auf dem Hof. Jahre später, als ich an meine Oma und den Großbauern dachte, hegte ich kurzfristig den Verdacht, die beiden hätte mehr verbunden als nur die Arbeit, aber bei näherer Überlegung kam ich zu der Einsicht: Nein nicht meine Oma, sie war erstens älter als er, das hat nichts zu bedeuten, aber sie war zweitens schon älter aussehend, obwohl sie keine fünfzig Jahre alt war, ich glaube sie hat nie im Leben Kosmetika benutzt. Ihr langes mittlerweile graues leicht schütteres Haar trug sie in einem Knoten, der von einem Haarnetz geschützt wurde. Sie redete nicht viel, eigentlich nur über praktische Dinge wie Erntewetter, Geld und so. Die Briefe, die sie meinem Vater schrieb, waren natürlich in Sütterlinschrift verfasst, und sie waren genauso karg und aussagekräftig wie ihr Wesen. Sie schrieb über die Ernte und wer im Dorf gestorben war. Ich konnte diese Briefe sogar lesen, denn wir lernten in der Volksschule noch das Schreiben in deutscher Schrift. Nein, meine Oma hatte nur einen einzigen Mann gehabt, nämlich ihren Ehemann. Und mein Vater war ein uneheliches Kind gewesen. Erst nach seiner Geburt hatten meine Großeltern geheiratet. Meine Tante Lisa klärte mich darüber auf, dass früher auf dem Dorf die Männer wohl erst die Fruchtbarkeit der Frauen testen wollten. Ich fand das schrecklich. Wenn man als Frau auf die Fruchtbarkeit getestet wurde, und trotz bestandenem Test hatte der Mann keine Lust, einen zu heiraten, ja toll, dann stand man da mit der Frucht seines Bauches, mit einem unehelichen Kind, was bestimmt auch nicht gerade der Renner auf dem Dorf war. Trotz all der unchristlichen Bräuche, die dort praktiziert wurden...

 

Ich hatte auch Freundinnen, mit denen ich spielte, bevorzugt an diesen verregneten Tagen, aber am liebsten spielte ich mit den Katzen. Es war wunderbar, diese ausgemergelten Katzen zu liebkosen, manche von ihnen waren noch nie gestreichelt worden, denn meine Oma hatte für so einen sentimentalen Quatsch keine Zeit und auch nicht die Neigung dazu. Die Katzen mussten sich ihren Lebensunterhalt selber verdienen durch die Mäusejagd. Sie wurden zwar ab und zu gefüttert, aber eher sporadisch und mit Sachen, die man heutzutage einer Katze nie geben würde. Manchmal erhielten sie ein bisschen Suppe, das war dann ein guter Tag, und manchmal ein paar zerquetschte Salzkartoffeln mit Bratensoße, das war schon ein Festessen. Serviert wurde dieses Essen in einer alten Sardinenbüchse, die natürlich nie gereinigt wurde und schon einen dicken Pelz aus nicht gefressenen Essensrückständen am Rand hatte.

 

Ich versuchte immer, diese scheuen Wesen an mich zu gewöhnen, und wenn es gelang, wenn sie sich anfassen und streicheln ließen und ich sie sogar auf den Arm nehmen konnte, dann hatte ich immer ein schlechtes Gewissen. Wenn nämlich meine Ferien zu Ende waren, dann gab es keine Zärtlichkeiten mehr für sie, und eigentlich sollte ich sie nicht daran gewöhnen. Es waren schon arme Wesen, sie hausten in den Ställen der Bauernhöfe, vermehrten sich unkontrolliert und litten an vielen Krankheiten. Die Katzenmütter versteckten ihre Kleinen während der ersten Wochen gut auf den Heuböden oder sonst wo. Wenn sie sich dann zum erstenmal mit dem Nachwuchs sehen ließen, trat sofort der Bauer oder sonst ein Großinquisitor auf den Plan, griff sich die Kleinen, steckte sie in einen Sack und ersäufte sie in einem der drei Dorfteiche, die wirklich idyllisch waren...

 

Ich glaube, das Katzenelend war das Schlimme, die dunkle Seite an Daarau.

 

Jahre später, als mein Vater wieder dort lebte, erzählte er mir, dass der sogenannte Jäger letztens die Kätzchen erschossen hatte. Er wollte sie nicht ersäufen, aber das Erschießen war ein fast noch grauenvolleres Gemetzel, es war vor allem viel blutiger, und danach entschloss sich mein Vater, die Kleinen zum Tierarzt zu bringen und dort einschläfern zu lassen.

 

„Für fünf Mark das Stück ist das nicht zu teuer“, meinte er. Mein Vater liebt Katzen, so wie ich. Ich musste ihm beipflichten. Ja doch, irgendwie. Denn sie kriegten das in den Dörfern einfach nicht auf die Reihe, die unendliche Kette des Katzennachwuchses zu unterbrechen, genauso wenig wie in der Großstadt übrigens.

 

 

Dorfschule und neue Verwandte:

 

Meine Tante Irmgard heiratete, als ich acht Jahre alt war. Die Hochzeit fand vierzehn Tage vor meinen Sommerferien statt, und meine Eltern trafen eine ungewöhnliche Übereinkunft mit der Schulleitung. Ich sollte diese vierzehn Tage schulfrei bekommen, wenn ich im Gegenzug vierzehn Tage in der Dorfschule von Daarau verbringen würde (ich sage absichtlich „verbringen“, denn von Lernen konnte keine Rede sein). Ich weiß bis heute noch nicht, wie meine Eltern auf so etwas kommen konnten und dass es überhaupt möglich war. Anscheinend gab es damals nicht soviel Bürokratie wie heute.

Und tatsächlich verbrachte ich nach der Hochzeit, die übrigens grandios und ländlich bombastisch mit allem Zeugs war, vierzehn Tage in der Schule des Dorfes, einem schmucklosen zweigeschossigen Bau aus roten Backsteinen. Hier wurden die Kinder unterrichtet, und zwar immer vier Klassen in einem. Die Jüngsten saßen mehr vorne, und die Älteren mehr hinten.

 

Die anderen Kinder machten auf mich fast ausnahmslos einen ziemlich blöden Eindruck. Gegen die war ich wirklich superintelligent. Ich konnte fließend von der Tafel lesen, während die anderen sich einen abstammelten, und ich konnte einigermaßen gut schreiben bis auf die Flüchtigkeitsfehler, die wohl meiner Faulheit zuzuschreiben waren. Jedenfalls erlebte ich eine herrliche Zeit, denn ich war endlich einmal die Klügste und die Beste in der Klasse, und das obwohl ich keinen Finger krumm machte. Meine Hausaufgaben erledigte ich so flüchtig und schnell, dass ich es auch hätte sein lassen können. Aber mich zwackte deswegen wohl ein schlechtes Gewissen, denn als die Frau Lehrerin meine Oma besuchte, da verzog ich mich in den Garten, ich hatte Angst, es könnte herauskommen, dass ich nachmittags kaum Hausaufgaben machte.

 

Das waren die vierzehn Tage in der Dorfschule, aber viel interessanter war der Mann meiner Tante Irmgard. Er hieß Friedhelm und stammte aus einer schlesischen Familie, die am unteren Ende des Unteren Dorfes wohnte. Die Familie war sogar unter den recht toleranten Verhältnissen von Daarau ein bisschen unter Limit. Sie waren eben sehr arm, sie waren Schlesier, sprachen irgendwie komisch und hatten auch gar keine Verwandten im Dorf. Ich schätze mal, sie hatten den gleichen Status wie die Familie meiner Mutter, als sie gen Ende des Krieges hier im Dorf strandete, nur war es dieser schlesischen Familie nicht gelungen, irgendwie aufzusteigen.

 

Ich mochte meinen neuen Onkel. Er war sehr freundlich zu mir, hatte ein gutmütiges Wesen und lachte gerne und oft. Und auch seine Familie fand ich äußerst faszinierend, denn sein Vater, ein kleiner dünner Mann, hatte überhaupt keine Nase, nur zwei Löcher dort, wo die Nase hätte sein sollen. Er hatte sie im Krieg irgendwie verloren. Zuerst schüchterte mich diese fehlende Nase ziemlich ein, sie zog mich aber auch magisch an, bis ich gar nicht mehr darauf achtete, denn er war einfach toll, dieser kleine Schlesier – genannt Vattel Kosta – mit seinen seltsamen Sprüchen.

 

Zum Beispiel sagte er oft: „Du LÄRRRGE!“ Ich weiß bis heute nicht, was er damit meinte. „Du LÄRRRGE, du bist een scheenes meedele“, sagte er oft zu mir, und ich fühlte mich natürlich ungemein geschmeichelt, denn eins wusste ich, ich war nicht schön, dafür waren meine Gesichtszüge zu unbedeutend und zu ausdruckslos, gut meine Farben waren schön, das Blonde mit den blauen Augen, aber sonst? Egal... Diese schlesische Familie bestand aus Vattel Kosta, Muttel Kosta, dem ältesten Sohn Hartmut, dem mittleren Sohn Friedhelm, kurz Friedel genannt und dem jüngsten Sohn Volker. Volker war ein wirklich hübscher Kerl. Als ich ihn zum erstenmal sah, war er 17 Jahre alt, aber irgend etwas fehlte an ihm, um mein Interesse nachhaltig wecken zu können. Dennoch war er gewaltig hübsch, und er war ein richtiger Aufreißertyp mit vielen wechselnden Freundinnen. Auch sein ältester Bruder Hartmut war nicht ohne. Auch er sah gut aus mit seinem breiten slawischen Gesicht, und auch er verschmähte das weibliche Geschlecht nicht, er hat übrigens nie geheiratet, und Jahre später wurde er von einem meiner in Nürnberg lebenden Onkel als „Dorfpapagalli“ bezeichnet.

 

 

Das Dorf, die Teiche und das Herrenhaus:

 

Das Dorf selber war ungewöhnlich, unter anderem durch die Trennung in das Untere- und das Obere Dorf, andererseits bestand das Dorf Daarau eigentlich nur aus vielen Häusern, die größtenteils entlang der Durchgangsstraße angeordnet waren. Wenn man ein Stückchen nach Daarau hineinfuhr, dann ging es auf einmal nur noch nach rechts oder nach links, weil ein Teich die Weiterfahrt versperrte. Es handelte sich um den „Oberen Teich“, und auf der anderen Seite des Teiches konnte man das sogenannte Herrenhaus sehen, ein mit graurosa Schiefer behangenes zweistöckiges schlichtes Gebäude. Es gehörte seit eh und je den Baronen von Daarau.

 

Das Herrenhaus, die Stallungen, die Kirche, der große verwilderte Park am Herrenhaus und vor allem das Mausoleum der Freiherren von Daarau erweckten meine Faszination. Und Jahrzehnte später erwecken sie immer noch meine Faszination, denn in dem riesigen Park lagen und liegen immer noch Gedenkstein wüst herum, die teilweise aus dem 13. Jahrhundert stammen. Kein Mensch kümmert sich darum. Manchmal war ich in der Abenddämmerung mit ein paar Jungens unterwegs, wir schlichen uns in den Gutspark, und einer von den Jungens hob mich hoch, damit ich durch das verstaubte Fenster des Mausoleums schauen konnte. Ich sah die vielen Särge, und es war wirklich gruselig.

 

Die Kirche gehörte anscheinend früher dem Herrenhaus, und der Baron gestattete wohl den Dorfbewohnern großzügig, sie zu benutzen, aber diese Gabe war ein bisschen verschwendet, denn zu 98% waren die Dorfbewohner nicht sehr religiös, zumindest nicht religiöser als eine Katze. Auch meine Oma ging nie sonntags in die Kirche. Ansonsten beherrschte das Herrenhaus das Dorf, gab vielen Leuten Arbeit, zum Beispiel auf den großen Gemüsefeldern, auf denen Erbsen und Bohnen angepflanzt wurden und auf denen dann die Frauen des Dorfes dieses Gemüse pflückten und pro Zentner acht Mark bekamen. Bei dicken Bohnen waren es zwei Mark, denn die waren natürlich viel schwerer.

 

Der Weg vom Herrenhaus – mit seinem riesigen Hof und dem Misthaufen in der Mitte – in Richtung Unteres Dorf war und ist immer noch das Romantischste, das ich jemals gesehen habe... Wie oft bin ich dort hergegangen, habe gestaunt und mich gewundert. Denn trotz mancher Geschmacksverirrungen, zum Beispiel aus Glasbausteinen gemauerte Hauseingänge, wirkte dieser Weg einzigartig idyllisch. Alles war herrlich grün, die Blumen in den Gemüsegärten, Dahlien, steife Gladiolen und luftiger duftender Phlox waren wunderschön sommerlich und bunt, und sogar das vorherrschende Gemüse sah prächtig aus.

 

Später habe ich nur noch in südlichen Ländern ähnliches gesehen, diesen Verfall, dieses Liegenlassen von irgendwelchen Sachen und das Fehlen von Verschönerungsversuchen (Gott sei Dank, denn bei Verschönerungsversuchen kann es zu peinlichen und geschmacklosen Ergebnissen kommen).

 

Es ging also nur nach links in das Obere Dorf und nach rechts ins Untere Dorf. Das Untere Dorf war anscheinend viel älter als das Obere Dorf, und es gab dort die beiden anderen Teiche, nämlich den Mittleren – auf dem immer Schwäne und Entengrütze schwammen – und schließlich den Unteren Teich. Ein paar ärmliche Häuser und danach nur Weiden standen an seinem Ufer, er war langgezogen, nicht sehr breit, und ein paar Enten paddelten auf ihm herum. Er war auch nicht besonders groß, aber durch die Abwesenheit von Häusern, also durch die Einsamkeit war er wohl der schönste Teich in Daarau. Die nahezu lautlose Stille und die Einsamkeit, die in der Abenddämmerung an diesem Teich herrschte, war überwältigend.

 

Die Weiden setzten sich in einer geschlängelten Reihe fort, und man konnte den Lauf des Baches an den Weiden erkennen bis zum nächsten Dorf.

 

Erlkönig... Das dachte ich immer, wenn ich dort herging.

 

Alle drei Teiche wurden von einem Bächlein gespeist, das den unpoetischen Namen Strulle trug und direkt aus dem Wald kam, das letzte Stück allerdings unterirdisch. Es sammelte sich in einem kleinen gemauerten Becken, und das Wasser war so klar und gut, dass man es bedenkenlos trinken konnte. Außerdem war es sehr kalt und an den wenigen heißen Tagen konnte man die Füße wunderbar darin kühlen. Außerdem wurden Kartoffeln darin gewaschen. Dieser Bachlauf speiste also die drei Teiche von Daarau, die einer hinten dem anderen lagen.

 

Das Obere Dorf war bei weitem nicht so romantisch wie das Untere, aber dafür war es sehr viel größer. Von der Hauptstraße gingen zwei neuere Straßen ab, und entlang dieser Straßen wurden die Häuser immer moderner. Die zwei brandneuen Straßen enttäuschten mich, und nach ein paar Ausflügen dorthin kehrte ich schnell auf die alte Hauptstraße zurück, an der stattliche Gehöfte lagen, die mit Schiefer behangen waren und die teilweise noch altes Fachwerk hatten. Ich besuchte dann die Familie Kosta mit Vattel, Muttel und meinen beiden angeheirateten Onkeln, nämlich Hartmut und Volker. Sie wohnten mittlerweile in einem dieser wunderbaren historischen Niedersachsen-Häusern, und sie hatten es letztendlich doch geschafft, in der Hierarchie des Dorfes aufzusteigen.

 

 

Der Wald:

 

In Richtung Wald, der kein natürlicher Wald war sondern ein von den Alliierten nach dem Krieg künstlich angelegter Nadelnutzwald, lag das mit Kartoffeln bebaute Feld meiner Oma . Ein paar Tage im Sommer musste die ganze Familie dort den schädlichen Kartoffelkäfer von den zarten Kartoffelpflanzen abpflücken. Eigentlich waren diese Käfer recht hübsch, sie hatten eine hübsche Streifung zwischen braun und lachsrosa. Die Kartoffelkäfer wurden nach der Sammlung verbrannt. Rein ökologisch und sauber, die Sache...

 

Der Weg in den Wald war mein Lieblingsweg. Zuerst ging es leicht bergauf durch ein paar Felder, und dann allmählich setzte der Nadelwald ein, zuerst durchwachsen mit ein paar Himbeerbüschen und ein paar Flecken mit Blaubeeren, die natürlich immer schon abgeerntet waren, dann erschienen sporadisch Heidepflanzen und Birken, bevor es endgültig in den finsteren Nadelwald ging. Seltsamerweise habe ich diesen künstlich angelegten Nadelwald immer als DEN natürlichen Wald empfunden, obwohl er, wie ich im nachhinein erfuhr, eine rein ökonomische Monokultur war und nur zum Abholzen bestimmt. Aber ich fand immer, ER war der Märchenwald, der typische Wald, der finstre Tann, eben mein Idealwald.

 

Es war der Wald, in dem meine Großmutter Blaubeeren sammelte und auch der Wald, in dem sie mit mir Himbeeren pflückte. Die Himbeeren rochen immer fantastisch gut. Ich pflückte begeistert Himbeeren und behielt sie in meiner Hand, bis ich merkte, dass sich mitten in diesen Himbeeren weiße Maden herumwälzten, und mit einem Kreischen ließ ich die Himbeeren wieder fallen, was meine Großmutter zu einem unwilligen Ausruf veranlasste. Ich war eben ein Stadtkind, hatte Angst vor den Himbeeren mit den Maden darin.

 

Diese Himbeeren (von mir kamen nicht viele...) wurden von Oma gekocht und durch ein Tuchsieb gegeben, um den Saft in reiner Form aufzufangen. Aber was da an Maden im Tuch hängen blieb, war nicht dazu geeignet, den Appetit auf reinen Himbeersaft anzuregen. Dennoch liebte ich Omas Grütze, die mit diesem Himbeersaft zusammen gekocht wurde. Sch.... auf die Maden!

 

Der Wald war schön, so gedämpft mit seinem dicken Nadelteppich auf dem Boden, und er war sehr dunkel, weil die vielen Fichten keinen Sonnenstrahl durchkommen ließen. Es gab mitten im Wald eine große Lichtung, eine natürliche Wiese, umsummt von allerlei Insekten, und wenn man sich eine Weile still verhielt, kamen Rehe auf die Lichtung, um dort zu äsen. Ich kletterte auch gerne auf den Hochsitz am Rande dieser Lichtung, es war eine wackelige altersschwache Kiste, von der der Jäger aus Wild schoss, was ich ziemlich gemein fand.

 

Wildschweine sah ich übrigens nie, und das war auch besser so. Diese Gesellen sollten recht gefährlich sein, und ich habe immer noch den Spruch meiner Großmutter im Sinn, mit dem sie mich vor ihnen warnte: „Wenn dich ein Keiler überrascht, dann leg dich schnell flach auf den Boden. Aber flach!“

 

Was mir allerdings nicht am Wald gefiel, waren die hinterhältigen Bremsen. Meine Oma nannte sie „Schwarze Fliegen“ Diese Bremsen schwebten hinterhältig über einem, und ich glaubte wirklich, sie konnten richtig denken und planen, denn ich habe nie gemerkt, wenn sie mich dann stachen... Gemeine Dinger....

 

Immer wenn die Ferien endgültig vorbei waren und ich zurück musste in die Großstadt, machte ich einen Abendspaziergang. Ich schlenderte am Herrenhaus vorbei, bog an der kleinen Kirche ab und spazierte durch die Gemeindegärten – wo jeder im Dorf ein großes Stück Land bearbeiten konnte – in Richtung Wald. Wenn ich dann endlich dort war und mich die vollkommene Ruhe umfing, hatte ich immer das Gefühl, jemand ginge neben mir, und diese unbestimmte unbekannte Gestalt erweckte unbestimmte unbekannte Sehnsüchte in mir, aber ich wusste nicht, wer es war. Vielleicht war es ein Gefühl aus der Zukunft, vielleicht war es mein Geliebter aus der Zukunft. Jedenfalls war ich dann immer so traumhaft glücklich, dass es mir nicht mehr schlimm erschien, das Dorf verlassen und mich wieder in die zweifelhafte Obhut meiner Mutter begeben zu müssen.

 

Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar... Matthias Claudius hat es ausgedrückt wie kein anderer. Ich bin wirklich nicht sehr poetisch, aber manche Zeilen sind in meinem Gehirn verankert. Irgendwie.

 

 

Die engere Verwandtschaft:

 

Aber noch waren meine Ferien nicht vorbei. Wenn dann endlich meine Tante Lisa in Daarau eintraf, kannte mein Glück keine Grenzen. Ich durfte nie Tante zu ihr sagen, denn sie meinte, wir wären wie Schwestern, und tatsächlich trennten uns altersmäßig nur zwölf Jahre. Sie fuhr ein winziges Auto und war überhaupt eine der wenigen Frauen, die nicht nur den Führerschein besaßen so wie meine Mutter zum Beispiel, sondern ihn auch benutzten – und das sogar in einem eigenen Auto und nicht in dem des Ehemanns. Lisa war sehr ehrgeizig, sie arbeitete als Therapeutin in vielen Instituten, zum Beispiel im Max-Planck-Institut in Dortmund, sie hatte eine Vorliebe für klassische Musik, speziell für Opern, in denen Maria Callas sang, und sie hatte ein Faible für Königspudel. Lisa war klein, zierlich und sehr hübsch mit ihrer hellen zarten Haut, dem weißblonden Haar und den feinen Gesichtszügen. Die Männer waren schwer hinter ihr her, aber sie scheute es, sich früh zu binden. Als sie sich mit vierundzwanzig Jahren dann doch schwer verliebte, entpuppte sich der Mann, er war groß, sehr gut aussehend und so ein Gentleman-Typ, als ein „Geschiedener“ mit fünf Kindern. Sie ließ ihn sausen. Ich weiß heute noch nicht warum. War es damals so schlimm, geschieden zu sein? Gut, fünf Kinder waren ein bisschen viel, wenn man die auf einmal kriegte. Oder konnte sie ihm seine Unehrlichkeit nicht verzeihen, weil er ihr nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt hatte? Ja vielleicht war es das.

 

Ähnlich hübsch aber nicht ganz so extravagant war meine Tante Irmgard, allerdings ohne den Hang zur Koketterie, der Lisa auszeichnete. Tante Irmgard hatte eher etwas ländlich-mütterliches.

 

Aber egal, Lisa fuhr mit mir in ihrem winzigen Fiat in der Gegend herum. Wir fuhren in den Harz, wir fuhren nach Hannover, wir fuhren überall herum. Lisa ging mit mir essen und war stolz auf mich, weil ich so gut mit dem Besteck umgehen konnte. Klar, sie hatte mir alles beigebracht.

 

Lisa war ein bisschen verrückt und so spritzig wie Sekt. Als sie versuchte, mit dem Moped von Onkel Hartmut (Dorfpapagalli) ein paar Runden zu drehen, fand sie die Bremse nicht und fuhr die Tür zum Hühnerstall des Gutshofes ab, weil die blöderweise gerade offen stand. Ich und alle anderen haben uns gekringelt vor Lachen. Sie fuhr nicht im Hühnerstall Motorrad sondern am Hühnerstall...

 

Ich liebte Lisa, natürlich liebte ich auch Tante Irmgard, aber auf andere Weise. Lisa war wirklich die ältere Schwester für mich, und ich lernte viel von ihr. Tante Irmgard war mehr wie eine Mutter für mich, und ich glaube, das brauchte ich auch irgendwie.

 

Ein Jahr nach der Hochzeit meiner Tante Irmgard mit Onkel Friedhelm, kurz Friedel genannt, stand in der Wohnküche eine Wiege, und in dieser Wiege lag ein Baby, als ich pünktlich zu Beginn der Ferien in Daarau eintraf. Meine Mutter brachte mich meistens mit dem Zug hin und fuhr dann nach zwei Tagen wieder zurück. Ich war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt.

 

Das Baby war meine erste Cousine und hieß Michaela.

 

Sie war so süß und hübsch! Ich strich ihr über das flaumige Haar und freute mich gewaltig. Endlich ein Baby! Meine Eltern hatten mir immer ein Geschwisterchen vorenthalten. Bis ich merkte, dass Tante Irmgard angefangen hatte zu weinen. Ich schaute sie fragend an, weil ich absolut nicht wusste, weshalb sie weinte.

 

Es stellte sich heraus, sie weinte, weil das Baby eine Hasenscharte hatte, die Oberlippe war ein bisschen gespalten, aber es sah wirklich nicht schlimm aus, und ich hatte es gar nicht gesehen. Tante Irmgard schien froh darüber zu sein, und aus weiteren Gesprächen, die sie mit meiner Mutter führte, konnte ich hören, dass sie schon an eine Operation dachte, um diese Scharte sozusagen auszuwetzen.

 

Ich glaube, ein Jahr später war Michaela schon operiert. Man sah nur noch eine zarte Narbe an ihrer Oberlippe, und diese Narbe gab ihr einen zusätzlichen Charme, sie sah nämlich ein bisschen aus wie ein Kätzchen... Und tatsächlich gewannen meine sowieso schon herrlichen Ferien noch etwas an Qualität dazu: Eine Cousine zum Spielen.

 

 

Noch mehr Verwandtschaft:

 

Es gab so viele Verwandte in Daarau, dass ich sie nicht alle kannte, aber alle kannten mich. Und die nicht mit mir Verwandten kannten mich natürlich auch.

 

Meine Oma alleine hatte drei Schwestern und einen Bruder, und die alle hatten natürlich jede Menge Kinder. Meine Oma und ihre Geschwister waren übrigens alle von verschiedenen Männern gezeugt worden. Meine Urgroßmutter hatte mehrere Männer „unter die Erde gebracht“, wie man so schön sagte, und sogar jetzt im Alter von achzig Jahren lebte sie mit einem Mann zusammen, und sie war nicht mit ihm verheiratet! Obwohl sie so klein war, strahlte sie eine gewaltige Autorität aus, und sogar meine Oma, die sich vor nichts auf der Welt fürchtete, hatte großen Respekt vor ihr. Oma pflegte regen Verkehr mit ihren anderen Geschwistern, aber ich glaube, sie hatte eine Vorliebe für ihre zweitälteste Schwester, und die lebte im kleineren Nachbardorf. Mit den Kinder von dieser Großtante verstand ich mich ausgezeichnet. Es handelte sich nämlich um Zwillinge, und zwar um Junge und Mädchen. Besonders mein Onkel (er war tatsächlich mein Onkel) Günter hatte es mir angetan. Er war ein Jahr älter als ich. Jahre später, ich glaube, da war ich fünfzehn und nicht mehr so oft in Daarau, gab es eine Familienfeier im Nachbardorf, mein Onkel war natürlich da und irgendein Typ, der auch aus dem Ruhrgebiet kam. Wir setzten uns schnell ab von der Familienfeier und besuchten die hiesige Kneipe, tranken dort dieses grüne Zeugs, wie hieß es noch? Ach ja, Escorial Grün. Gab es damals noch kein Gesetz zum Schutze der Jugend? Wir waren ziemlich angeschickert, und der Typ aus der Großstadt machte mich doch tatsächlich an. Und mein Onkel war doch tatsächlich eifersüchtig. Das war lustig. Ich glaube, ich war damals und auch später ziemlich gemein und testete immer das aus, was ich mit Männern anstellen konnte. Obwohl ich mittlerweile denke, es ging gar nicht um mich, sondern um so eine Männersache, um so etwas wie Landmaus oder Stadtmaus, beziehungsweise Mäuserich...

 

Danach habe ich meinen Onkel nie wieder richtig gesehen, nur auf einer Beerdigung, da muss er 43 gewesen sein, wir haben nicht miteinander gesprochen, Himmel mit 42 war ich auf dem Höhepunkt meines Aussehens. Und er sah ziemlich alt aus und war schon fast am Ende seines Lebens angelangt. Ein paar Jahre später starb er an einem Herzinfarkt.

 

Die jüngste Schwester meiner Oma wohnte im selben kleinen Nachbardorf, aber Oma besuchte sie nicht gerne, es war wohl mehr eine Pflichterfüllung für sie. Ich glaube, es lag daran, weil diese jüngste Schwester von meiner allgegenwärtigen Urgroßmutter dermaßen bevorzugt wurde, dass die anderen drei Geschwister, darunter Oma, Tante Leni und ihr Bruder Karl sich ziemlich zurückgesetzt fühlten. Das konnte ich gut verstehen, ich habe mich schon damals darüber gewundert, wieso Mütter oder Eltern ein Kind so vor ihren anderen bevorzugen können. Das ist doch nicht fair, oder?

 

Diese jüngste Schwester meiner Oma hatte wiederum drei Kinder, zwei Jungens und ein Mädchen. Mit dem ältesten Sohn verstand ich mich ganz gut, er war natürlich auch ein Onkel, aber mit dem mittleren verbinden mich haarsträubende Erinnerungen. Er war ein bisschen geistig behindert, oft jähzornig, und wenn man seinen Unwillen irgendwie erweckte, konnte es passieren, dass er einem ein bisschen den Schädel mit einer Schüppe spaltete. Gott sei Dank hatte ich nie dieses Vergnügen, denn ich ging ihm instinktiv aus dem Weg, aber ich habe einen Jungen bluten sehen wie ein abgestochenes Schwein...

 

 

Schlachtfeste und Metzger:

 

Der Vergleich mit einem abgestochenen Schwein führt mich einem der Schlachtfeste in Daarau. Und der Schlachter, natürlich ein entfernter Verwandter von mir, hatte braune Augen. Jahre später mit 18 Jahren lernte ich einen Mann kennen, der na ja irgendwie geil war, er ließ sich von mir überreden, das Peace-Zeichen auf seinen Parka zu malen, obwohl er sich deswegen irgendwie schämte. Dann erfuhr ich auf Umwegen, dass er Metzger war. Das war grauenhaft für mich! Und er hatte auch braune Augen. Ich war so blöd, mit ihm Schluss zu machen, als ob die Tatsache, dass er Metzger war, ihn zu einem schlechten Menschen machen würde. Dabei aß ich selber gerne Fleisch... Ja ich war (bin) ziemlich bescheuert, aber mein Liebesleben war (ist) nun mal beherrscht von seltsamen Dingen.

 

Trotzdem ist ein bestimmtes Schlachtfest irgendwie eingeätzt in meine Erinnerung:

 

Viele Menschen rannten geschäftig herum, und kein Mensch kümmerte sich um mich.

 

Das fette quiekende Schwein wurde von zwei starken Männern auf den Hof hinausgeführt, sie hielten das Schwein mit zwei Stangen fest , der Kopf des Schweins steckte in einer Schlinge, und mit den Stangen konnte man das Tier auf Distanz halten.

 

Das Schwein wehrte sich und kreischte und quiekte mörderisch, aber das half ihm nichts. Sie zerrten es in den Hof hinaus.

 

Dort hatte man einen flachen hölzernen Zuber aufgestellt. Er sollte dazu dienen, das Blut des Schweins aufzufangen, nachdem sie es mit einem Bolzenschuss getötet hatten.

 

Das Schwein schien zu ahnen, was ihm bevorstand. Es kreischte womöglich noch lauter als vorher. Und das Kreischen riss nicht ab.

 

Erst als der Schlachter das Bolzenschussgerät an die Stirn des Schweins setzte und abdrückte, herrschte endlich Ruhe. Der Schlachter hatte braune Augen.

 

Und ich hatte Angst. Das Kreischen des Schweins, die erwartungsvolle Unruhe unter den Männern, Frauen waren fast keine da, sie scheuten das blutige Spektakel, der laute knallende Schuss, das auf die Seite kippende Schwein, das sofort tot war , ein Hinterbein zuckte zwar noch, aber es war wohl tot, all das schaffte eine gewalttätige nach Blut riechende Kulisse, und ich hatte Angst.

 

Wo war mein Papa? Der war bestimmt da vorne bei dem toten Schwein, und ich traute mich nicht dorthin, denn der Tod roch nach Blut und nach Schrecken.

 

Das Schwein wurde mit dem Kopf nach unten an einer Wand der Stallungen aufgehängt und vom Schlachter am Hals der Breite nach aufgeschlitzt, so dass das Blut in die große flache Holzwanne laufen konnte. Nachdem das Schwein ausgeblutet war, schnitt der Schlachter das tote Tier der Länge nach auf, entfernte geschickt alle Innereien und warf sie in ein separates Tongefäss. Die Därme des Schweins mussten gewaschen werden, damit man später Wurstmasse hineinfüllen konnte.

 

Das Schwein hing nun ziemlich leer zur Weiterverarbeitung bereit an der Wand. Vor ein paar Minuten war es noch ein quicklebendige Tier, aber jetzt war es nur noch ein Lebensmittel.

 

Plötzlich sah ich meinen Papa unter den anderen Männern.

 

Sofort lief ich zu ihm hin und schob vertrauensvoll meine kleine Hand in seine große.

 

Blickte zu ihm auf und erkannte plötzlich, dass ich mich getäuscht hatte. Das war gar nicht mein Papa sondern einer aus seiner Verwandtschaft, einer der zwar einige Ähnlichkeit mit meinem Papa hatte aber bei näherer Betrachtung eigentlich gar keine Ähnlichkeit mit meinem Papa hatte.

 

Oh Gott war das peinlich! Verlegen ließ ich die Hand des fremden Mannes los und rannte weg.

 

 

Die Dorfkneipe:

 

Es gab in früheren Zeiten in Daraau zwei Dorfkneipen, und beide hatten immer gut zu tun, was für den Durst und die Geselligkeit der Dorfbewohner spricht. Irgendwann aber wurde eine davon nur noch als Lottoannahmestelle genutzt und außerdem als Filmvorführsaal, denn das richtige Kino war 5 Kilometer weit entfernt in der Kleinstadt. Als ich meinen ersten Film dort sah, in diesem staubigen Saal, hatte ein junger männlicher Verwandter von mir dort einen epileptischen Anfall. Es war grauenhaft, nie werde ich seine Krämpfe und Zuckungen vergessen...

 

In der anderen Dorfkneipe traf man fast nur Männer an, vor allem beim sonntäglichen Frühschoppen vor dem Mittagessen. Das war reine ‚Men’s World’. Während der Duft von Schweinebraten in der Luft lag und vielleicht der Duft von zerquetschten Himbeeren, machten wir Kinder uns auf, um den Herren der Schöpfung das Geld aus der Tasche zu ziehen, denn die liebten Kinder, sie liebten vor allem kleine Mädchen, deren Onkels sie waren und die nur für kurze Zeit im Dorf waren. Und sie gaben dem kleinen Mädchen viel Geld, um es in diesen wunderbaren Erdnussspender zu stecken Und man bekam durch Drehen an der Kurbel eine lose Portion Erdnüsse auf die Hand. ch war mächtig reich an Geld zu diesen Zeiten. Jeder meiner Onkels ließ zumindest einen Schein springen, und ich legte das Geld später in Capri-Eis an... Welch Entzücken, an einem heißen Tag Capri-Eis zu essen, ein reines wässriges Fruchteis, gut gegen Hitze und Durst und gekauft in dem einzigen Lebensmittelladen des Dorfes, der gleichzeitig auch die Poststelle inne hatte.

 

Ich war reich in diesen Wochen, egal ob gefühlsmäßig oder materiell, ich war reich...

 

 

Ein Haus der 60iger Jahre:

 

Als ich elf Jahre alt war, bauten Tante Irmgard und Onkel Friedel IHR Haus. Es war nicht besonders groß, hatte zwei Stockwerke, und unten wohnten Tante und Onkel, und oben wohnte Oma und meine Cousine Michaela. Das Haus stellte einen gewaltiger Fortschritt in hygienischer Beziehung dar, ich weiß immer noch nicht, wie sie das in dem alten Haus auf die Reihe gekriegt hatten, so ganz ohne warmes Wasser aus der Steckdose, ohne Badewanne oder gar Dusche, und dennoch waren alle immer ganz penibel sauber gewesen trotz der nur teilweisen Waschungen des Körpers. Jetzt aber in dem neuen Haus gab es eine Nachspeicherheizung, alles war wohlig warm im Winter, es gab ein Badezimmer mit einem riesigen Warmwasserboiler, und man gewöhnte sich schnell daran.

 

Natürlich konnten sie die Tiere nicht mitnehmen. Die Hühner, die Schweine und die beiden zickigen Ziegen wurden wohl geschlachtet, oder irgend jemand hat sie übernommen und später geschlachtet.

 

Es gab auch hier einen großen Gemüsegarten, und das schönste am Haus war, man konnte direkt in den Wald sehen, und er war schnell zu erreichen.

 

Hier in diesem hellhörigen Haus der 60iger Jahre verbrachte ich die Ferien der nächsten Jahre. Es war okay. Nein, es war gut, allerdings anders als vorher in dem alten Haus, aber es war gut.

 

Gen Ende der Ferien erlebte ich, wenn ich Glück hatte, das Schützenfest des Dorfes. Ich liebte die beiden kleinen Schießbuden, ich liebte das Kinderkarussell mit seinen weiß lackierten Pferdchen, die vor- und zurückschwangen, ich liebte das Festzelt und die Sülzkoteletts am Sonntag Morgen (gegen den Kater), ich liebte das Tanzen zu den Klängen der Blaskapelle, und vor allem ich liebte die schrillen Klänge der Querflöten des Daarauer Spielvereins, wo der Bruder meines Vater, mein Onkel Thomas die große Pauke schlug, ich bewunderte den schwarzäugigen Typen, der eine kleinere Trommel schlug und irgendwie mit mir verwandt war, und ich hatte endlich eine Begegnung mit dem Jungen aus dem Ruhrgebiet, der hier manchmal die Ferien verbrachte, aber nicht so oft wie ich. Dieser blonde Junge, der aussah wie der Jim aus „Fury“.

 

Wir kamen uns tatsächlich näher und saßen irgendwann in dieser Raupe, diesem Karussell mit dem Verdeck, das war das erste Mal, dass sie so etwas hier hatten, und tatsächlich legte er den Arm um mich, aber ich glaube, ich war nicht mehr in ihn verliebt, also suchte ich danach schleunigst das Weite. Wieder eine Illusion zerstört.

 

Ich muss gestehen, obwohl ich nicht besonders hübsch war und eher durchschnittlich aussah, wurde ich in Daarau immer sehr umschwärmt von den Jungs. Na klar, das Mädchen aus der Großstadt! Und wie sagt man so schön: Unter den Blinden ist der Einäugige der König... Oder besser noch: In der Dämmerung werfen selbst Zwerge große Schatten... Ich war eben diese Einäugige oder jene Zwergin.

 

Und ich hatte den Rang der Königin oder der Zwergin inne. Zumindest solange, bis meine Adoptivschwester mich vom Thron stieß... Aber das ist eine andere Geschichte, und diese Geschichte ist für mich nicht wichtig.

 

 

Die Dunkelheit:

 

Die Dunkelheit in Daarau war wohl die vollkommenste Dunkelheit, die man sich vorstellen konnte. Die Straßenlaternen wurden um 22.00 Uhr ausgeschaltet, und danach musste man sehen, wie man klar kam, Das war im Sommer kein großes Problem, aber im Winter, wenn man spät nach Hause kam – zu Fuß natürlich, denn Autos waren damals eher die Ausnahme – musste man sich förmlich nach Hause TASTEN. Und wenn man dann endlich im Bett lag, war die Dunkelheit und auch die Stille so überwältigend, dass man das Blut in den Adern rauschen hören konnte und der eigene Herzschlag das einzige Zeichen war, dass man lebte und existierte.

 

Vielleicht war es diese Dunkelheit und diese Stille mit der daraus resultierenden Einsamkeit, die so viele junge Leute dazu verleitete, früh miteinander ins Bett oder sonst wohin zu gehen, aus Versehen ein Kind zu zeugen und dann heiraten zu müssen. Vielleicht ging es dann mit der Ehe gut, meistens aber nicht, denn irgendwann ließ man sich scheiden und träumte neue Sehnsüchte in der Dunkelheit und der Stille des Dorfes.

 

Es war so dunkel, dass ich mir manchmal die Augen rieb, um wenigstens einen Reflex von Helligkeit zu sehen, und es war so still, dass ich froh war über das Summen eines Flugzeugs weit über mir in der Tiefe der Nacht...

 

 

Das Ende:

 

Ungefähr als ich vierzehn Jahre alt war, endeten meine Ferien in Daarau, nicht abrupt sondern allmählich. Fortan reisten wir nach Holland an die Nordseeküste, und es war gar nicht schlecht, die Pommes und die Frikandellen, die Nasi- und die Bamiballen, die Seeluft, das kalte Meerwasser, das nahezu unmöglich fürs Schwimmen war und die Sonnenbrände, die man sich unverhofft und irgendwie fleckig zuzog, all das war etwas Neues.

 

Und danach bin ich nie wieder richtig für längere Zeit in Daarau gewesen. Vielleicht, weil sich dort auch viel geändert hatte im Laufe der Zeit.

 

Mein zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz so junger aber immer noch hübscher Onkel Volker, der Bruder meines Onkels Friedel starb bei einem Wohnungsbrand, weil er besoffen mit einer Zigarette im Bett eingeschlafen war. Schade um ihn. Die Besten sterben immer früh.

 

Onkel Friedel selber, der in Wirklichkeit schwermütig und melancholisch war, und dieses hatte immer durch seine Fröhlichkeit hindurch geschimmert, erhängte sich im Wald. Und Tante Irmgard selber fand ihn dort, wo er immer Pilze gesammelt hatte, diese leckeren Rotkappen. Und seitdem war auch Tante Irmgard nicht mehr die gleiche, sie suchte immer verzweifelt nach einem Ersatz für ihren Mann, sie hat viele Fehler gemacht, und sie sucht immer noch... Sie muss jetzt an die 70 sein.

 

Meine Eltern zogen aus der Großstadt zurück nach Daarau, und ab diesem Zeitpunkt hatte ich aus bestimmten Gründen überhaupt keine Lust mehr, dorthin zu fahren.

 

Meine Oma starb, nachdem sie bis zuletzt von meinen Eltern gepflegt wurde, besser gesagt von meiner Mutter. Aber Oma konnte meine Mutter immer noch nicht ausstehen, bis zur letzten Sekunde nicht. Oma hat meine Mutter immer „Maria, die Katholische“ genannt.

 

Und ich führte mein Leben in der Großstadt, verhärtet, desillusioniert und ohne viel Gefühle, denn Gefühle machen verletzlich.

 

 

Ein neuer Anfang:

 

Aber jetzt bin ich wieder da. Ein Onkel ist gestorben, und ich dachte mir: Fahr doch einfach mal wieder hin.

 

Aber es ist nicht mehr dasselbe wie früher. Die Teiche sind verlandet, das ist bei Teichen eben so üblich, und auf dem verlandeten Teil steht nun ein hässliches Zweifamilienhaus, es gibt nur noch einen Bäcker, nur noch einen Metzger und kein Lebensmittelgeschäft mehr. Bevor man das Dorf erreicht, sieht man keine reine Landschaft mehr, sondern eine Anhäufung von Gewerbegebieten.

 

Nur der Weg in den Wald ist der gleiche geblieben. Aber jetzt stehen viel mehr Autos dort, wo die Straße endgültig aufhört. Aber manchmal stehen überhaupt keine Autos dort und man kann davon ausgehen, dass man ziemlich alleine im Wald ist.

 

Wieder gehe ich in der Abenddämmerung auf dem Waldweg entlang, und wieder habe ich das Gefühl, jemand geht neben mir.

 

Aber ich weiß nun, dass es nicht mein Geliebter aus der Zukunft ist, meine Zukunft ist zu Ende, und alles was ich mir jemals wünschte, ist nicht in Erfüllung gegangen.

 

In Wirklichkeit war meine Kindheit traurig, und die Zeit in Daarau war nur die Ausnahme, geprägt von genialer Verdrängung der Tatsachen, die ich anderswo erlebte.

 

Wer also geht neben mir? Es ist niemand, es kann niemand sein, und seltsamerweise kommen mir die Tränen. So viel verpasste Möglichkeiten, so viel erlebter Mist, und am Ende stehe ich da mit leeren Händen.

 

Aber durch meine Tränen hindurch sehe ich ein Kind neben mir gehen. Wer ist dieses Kind?

 

Es kann nicht sein, ich bin es selber im Alter von vielleicht neun Jahren. Das Kind schaut mich an, lächelt und nimmt meine Hand. Du solltest nicht so traurig sein, sagt es.

 

Ich bin es selber, und plötzlich sehe ich alle kleinen Mädchen, die ich einmal war, eine endlose Reihe von blonden Köpfen, und ich möchte sie alle trösten und sie vor dem warnen, was auf sie zukommen wird. Ich möchte sie davor warnen, ihr Herz zu verhärten in Reaktion auf kommende Ereignisse...

 

Ich möchte ihnen raten, zu weinen und die Tränen nicht zu unterdrücken, ich möchte ihnen zeigen, dass sie geliebt werden, auch wenn sie es später nicht glauben können.

 

Ich möchte sie in den Arm nehmen und feste an mich drücken.

 

Ich möchte ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind und dass ich sie liebe.

 

Und durch diese Liebe fange ich an zu sein.

 

Endlich!

 

 

Ende oder Anfang

 

 

 

Sorry Leute, die Geschichte ist ziemlich lang geworden, aber ich wollte sie nicht aufteilen. Außerdem hatte ich wieder enorm mit der Formatierung zu kämpfen, ein angebliches Script auf meinem PC verhinderte nette überschaubare Absätze, und schließlich hab ich es so gelassen, wie ich es hineinkopiert habe...
Bilder vom Dorf auf meiner HP:
http://www.ingridgrote.de/html/bilder4.html
Ingrid Grote, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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